Probleme der Leitungstätigkeit in der chemischen Industrie
16. Februar 1976
Information Nr. 103/76 über einige Probleme der Leitungstätigkeit in neuerrichteten Objekten der chemischen Industrie der DDR, die im Zusammenhang mit der Untersuchung von Störungen und Havarien sichtbar wurden
In der letzten Zeit traten in neuerrichteten Objekten der chemischen Industrie der DDR wiederholt Störungen und Havarien auf, die in den meisten Fällen einen längeren Stillstand der Anlagen zur Folge hatten und aufgrund der vielseitigen Verflechtungen der chemischen Industrie den kontinuierlichen Produktionsablauf in anderen Industriezweigen beeinträchtigten. Darüber hinaus führten die durch die Störungen und Havarien entstandenen Produktionsausfälle auch zu gewissen Komplikationen in der internationalen Zusammenarbeit im Rahmen des RGW.
Über die im Zusammenhang mit der Untersuchung vorgenannter Schadensfälle durch das MfS getroffenen Feststellungen, die im Wesentlichen auf bestehende Mängel und Schwächen der Leitungstätigkeit sowie auf bestimmte Probleme der Ersatzteilhaltung in der chemischen Industrie hinweisen, wird nachfolgend berichtet:
Am 28. Januar 1976 kam es infolge von Frosteinwirkungen zum Ausfall einer Impulsleitung für die Steuerung des Kühlwasserkreislaufes am Abhitzekessel der Äthylenanlage des Olefinkomplexes Böhlen, in dessen Folge die gesamte Anlage abgefahren werden musste. Die dadurch entstandenen schwerwiegenden ökonomischen Folgen sind nach Feststellungen des MfS sowie hinzugezogener Experten auf folgende Ursachen zurückzuführen: Da es dem verantwortlichen Schichtleiter [Name] nicht gelang, die Steuerung des Kühlwasserkreislaufes manuell zu regulieren, beabsichtigte er, den Abhitzekessel aus Sicherheitsgründen abzufahren. Weil jedoch die Äthylenanlage im Anfahrprozess begriffen war, gab der Operativ-Ingenieur [Name] Anweisung, den Abhitzekessel weiter zu betreiben. Die dadurch entstandene Überhitzung führte zu schweren Schäden an der Berohrung des Abhitzekessels und der BMSR-Technik.
Die Handlungsweise von [Operativ-Ingenieur] ist in erster Linie auf das unklar aufgebaute Leitungssystem zum Betreiben der Äthylenanlage zurückzuführen, das trotz wiederholter Hinweise des MfS bisher beibehalten wurde. (Allein im Jahre 1975 erfolgten durch das MfS über zehn entsprechende schriftliche Hinweise an die Industrie-Kreisleitung der SED.) So ist z. B. im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, Betriebsteil Böhlen, die Verantwortlichkeit auf den verschiedensten Leitungsebenen nicht eindeutig bestimmt, sodass von Leitungskadern widersprüchliche Anweisungen erteilt werden und unsachgemäße Eingriffe in Leitungsprozesse erfolgen.
Seit Aufnahme des Dauerbetriebes der Äthylenanlage werden die betreffenden Leitungsprozesse nicht beherrscht, was zu einer instabilen Situation im Leitungskollektiv führte und sich letztlich bis auf die einzelnen Arbeitskollektive hemmend auswirkt. Die Instabilität in der Leitungstätigkeit innerhalb des Betriebsteiles Böhlen wird weiter besonders durch folgende Mängel gekennzeichnet:
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Vernachlässigung der kontinuierlichen Qualifizierung des Anlagenpersonals sowie nicht ausreichende Belehrung,
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ungenügende Aufklärung und Auswertung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen von Störungen,
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unzureichende Durchsetzung der materiellen Verantwortlichkeit bei Fehlverhalten des Anlagenpersonals,
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fehlende Funktionspläne, besonders für mittlere Leitungskader und Operativ-Ingenieure,
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mangelhafte Koordinierung und Abstimmung der Aufgabengebiete zwischen den Leitungskadern sowie Vernachlässigung der Kontroll- und Aufsichtspflicht durch übergeordnete Leitungskader,
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Betriebs- und Bedienungsvorschriften entsprechen nicht dem neuesten Stand der Erkenntnisse.
Ähnliche Mängel und Erscheinungen in der Leitungstätigkeit stellte das MfS bei Untersuchungen im VEB Synthesewerk Schwarzheide im Zusammenhang mit der Havarie vom 4. Oktober 1975 am Reformingofen F 101 sowie drei weiteren Störungen in der MDI-PAPI-Anlage des Polyurethankomplexes fest.
So wurde u. a. herausgearbeitet, dass bei konsequenter Einhaltung des Betriebsregimes und Wahrnehmung der persönlichen Verantwortung seitens der leitenden und mittleren Kader des Synthesewerkes Schwarzheide vorgenannte Störungen im VEB Synthesewerk Schwarzheide hätten vermieden werden können. Zum Beispiel wurden beim Anfang Oktober 1975 begonnenen Anfahrprozess der Steamreforminganlage vom Anlagenpersonal Unregelmäßigkeiten festgestellt, deren Ursachen von den Schichtleitern nicht erforscht wurden. Durch das Anordnen unzweckmäßiger Maßnahmen wurde die bereits bestehende gefahrdrohende Situation noch vergrößert. Der Betriebsleiter der Steamreforminganlage, [Name], befand sich während des kritischen Betriebszustandes nicht in der Anlage und überließ einem unerfahrenen Schichtleiter die Leitung des Anfahrprozesses (Umschaltung vom Stickstoff- zum Produktenkreislauf).
Wie weiter festgestellt wurde, existierte für den komplizierten Anfahrprozess kein Anfahrprogramm, die allgemeinen Betriebsvorschriften für das Fahren der Anlage waren widersprüchlich und dem Anlagenpersonal nicht zugänglich.
Ein weiteres Beispiel des unsachgemäßen Eingreifens in Leitungsentscheidungen wurde bei der Untersuchung einer Störung in der MDI-PAPI-Anlage vom 14. Januar 1976 festgestellt. Der Anlagenleiter hatte einen Wassereinbruch in der Anlage erkannt und in eigener Verantwortung das Abfahren der Anlage angeordnet, um größeren Schaden zu verhindern. Entgegen dieser fachlich richtigen Entscheidung des Anlagenleiters veranlassten der Werkdirektor des VEB Synthesewerkes Schwarzheide, [Name], und der Produktionsdirektor, [Name], das Weiterfahren der Anlage. Sie machten ihre Entscheidung erst rückgängig, als der Anlagenleiter gegen diese Entscheidung mit Nachdruck protestierte.
Bei den Untersuchungen zahlreicher Ausfälle der Ammoniak-Anlagen im VEB Stickstoffwerk Piesteritz – Düngemittelkombinat – wurden ähnliche Mängel und Schwächen in der Leitungstätigkeit sichtbar.
Ausgehend von der Havarie und den Störungen in den genannten Anlagen des Polyurethankomplexes Schwarzheide und der Havarie in der Äthylenanlage des Olefinkomplexes Böhlen wurde festgestellt, dass die Beschaffung der erforderlichen Ersatzteile zur Beseitigung der Schäden Schwierigkeiten bereitet.
Neben subjektiven Schwächen in der Ersatzteilplanung für Importanlagen aus nichtsozialistischen Staaten in den beiden genannten Betrieben bestehen nach bisherigen Feststellungen in der gesamten chemischen Industrie der DDR grundsätzliche Probleme bei der Bilanzierung des Ersatzteilbedarfes und dessen planmäßiger Deckung aus Importen.
Nach Einschätzung von Experten auf zentraler staatlicher Ebene bestehen diese Probleme in Folgendem:
Die Versorgung mit Ersatzteilen im Rahmen der Erstausstattung hat sich nach Inbetriebnahme der Importanlagen in der Regel in Menge und Sortiment als unzureichend herausgestellt. Häufig werden im Rahmen des Probebetriebes bereits die laut Vertrag mitgelieferten Ersatzteile aufgebraucht.
So wurden in den letzten zehn Jahren für den Verantwortungsbereich des Ministeriums für chemische Industrie komplette Chemieanlagen in Höhe von 1,9 Mrd. Valuta-Mark aus nichtsozialistischen Staaten importiert, für die jedoch z. B. 1975 lediglich Ersatzteile in Höhe von 53 Mio. Valuta-Mark geplant waren. Von dieser Summe wurden nur 29 Mio. Valuta-Mark realisiert.
Diese Situation ist u. a. darauf zurückzuführen, dass nach der Bilanzordnung der DDR die Planung der Ersatzteile für die kompletten Chemieanlagen nicht durch das Ministerium für chemische Industrie, sondern durch die für die jeweiligen Erzeugnisgruppen zuständigen Fachministerien (Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau, Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik) und ihre wirtschaftsleitenden Organe (Bilanzorgane) erfolgt. Diese Bilanzorgane weigern sich in zunehmendem Maße, Valutamittel für Ersatzteile für solche Anlagen zu planen, die sie selbst nicht importiert haben.
Außerdem wird von Experten eingeschätzt, dass die Durchführung von planmäßigen, vorbeugenden Instandhaltungen an solchen Importanlagen zu konkret festgelegten Terminen nur mit hohem operativem Aufwand möglich ist, da es nicht immer gelingt, über die zahlreichen Bilanzorgane (62) die notwendigen Ersatzteile planmäßig zu sichern. Erschwerend wirkt, dass die benötigten Ersatzteile durch insgesamt 40 Außenhandelsbetriebe realisiert werden müssen.
Im Rahmen einer Untersuchung des Ministeriums für chemische Industrie zur Minimierung der Ausfallzeiten von chemischen Anlagen durch Störungen und Havarien wurde sichtbar, dass 55 Prozent der Stillstandszeiten auf die operative Beschaffung von Ersatzteilen entfallen, während die eigentliche Reparaturzeit nur 45 Prozent beansprucht.
Gegenwärtig werden Untersuchungen vom Ministerium für chemische Industrie in Abstimmung mit der Staatlichen Plankommission mit dem Ziel geführt, den wirtschaftsleitenden Organen der chemischen Industrie, deren Betriebe solche Anlagen betreiben, die Bilanzverantwortung für anlagentypische Ersatzteile bei Importanlagen zu übertragen. Dabei werden auch die Möglichkeiten einer volkswirtschaftlich vertretbaren Ersatzteilhaltung geprüft.