Probleme im Zusammenhang mit der Leipziger Herbstmesse
3. September 1976
Information Nr. 607/76 über einige wirtschafts- und handelspolitische Probleme im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Leipziger Herbstmesse 1976
Dem MfS vorliegenden internen Hinweisen über Ansichten aus Wirtschafts-, Handels- und Finanzkreisen der BRD und Westberlins zufolge, sollen zur Leipziger Herbstmesse 1976 (LHM 76) durch ein vorwiegend sachlich-kommerziell betontes Auftreten vorrangig ökonomische Interessen vorgenannter Kreise durchgesetzt werden.
Dieser Trend komme trotz anhaltender Hetze reaktionärer Kreise der BRD und damit im engen Zusammenhang stehender Forderungen, die DDR mittels ökonomischer Maßnahmen zu politischen Zugeständnissen zu zwingen, zunehmend zur Geltung.
Zu einer Rückkehr auf reale Grundpositionen im Handel mit der DDR habe offensichtlich das Fernsehinterview des Präsidenten des »Deutschen Industrie- und Handelstages« und Vorsitzenden des »Ostausschusses der deutschen Wirtschaft«, Otto Wolff von Amerongen, wesentlich beigetragen. Vertreter der Wirtschaft der BRD und Westberlins würden sich weitestgehend der Erkenntnis Wolffs anschließen, dass »wirtschaftliche Sanktionen gegen die DDR aufgrund bisher gesammelter Erfahrungen wenig Aussicht auf Erfolg haben und politische Dinge nicht mit wirtschaftlichen Maßnahmen beantwortet werden sollten«.
Ebenso werden die Äußerungen des Ministerialdirigenten im Bundeswirtschaftsministerium der BRD, Kleindienst, wonach die Swingregelung1 einen wesentlichen Bestandteil des Berliner Abkommens2 darstelle und eine Kündigung die Verletzung des Gesamtabkommens bedeuten würde, von eingangs genannten Kreisen dahingehend eingeschätzt, dass »eine Rückkehr auf reale Grundpositionen der einzig gangbare Weg im Handel mit der DDR bleibe«.
Wie intern weiter bekannt wurde, erwarten führende Vertreter westdeutscher Wirtschafts-, Handels- und Finanzkreise angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen vonseiten der DDR durch die Fortsetzung der »bisher gegenüber der BRD klug geführten Wirtschaftspolitik« eine weitere »Unterstützung sowie Entgegenkommen für die SPD/FDP«. Insbesondere unter wahlpolitischen Aspekten betrachtet wäre es günstig, wenn die DDR jetzt auf die zahlreichen Angebote der westdeutschen Industrie vor allem zum Ausbau der Kooperationsbeziehungen positiv reagiere. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Parallelen zu anderen sozialistischen Staaten gezogen bzw. es wird auf Empfehlungen des Schlussdokuments von Helsinki verwiesen.
Offensichtlich im Ergebnis der Auswertung veröffentlichter Dokumente über die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR sei das Interesse der Konzern- und Firmenvertreter der BRD und Westberlins zur Leipziger Herbstmesse 1976 auf die Prüfung von Möglichkeiten des Ausbaus der Geschäftsbeziehungen vor allem im Bereich von Anlagenimporten gerichtet.
Im Rahmen vorbereitender Gespräche anlässlich der LHM 76, die Konzernvertreter offiziell und intern führten, wurde versucht, auf die jeweiligen DDR-Gesprächspartner dahingehend ideologischen Einfluss auszuüben, indem immer wieder erklärt wurde, dass
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die Realisierung beabsichtigter Investitionen in der DDR in erster Linie von einer entsprechenden Kreditierung durch westeuropäische Staaten sowie die USA abhängig sei,
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der für die DDR geplante wissenschaftlich-technische Fortschritt nur in einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit der BRD gesichert werden könne, da in der BRD der wissenschaftlich-technische Höchststand in Europa verkörpert werde,
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die komplizierter werdenden Probleme auf den Rohstoffmärkten zunehmend zu Preisproblemen innerhalb des RGW, zu sich daraus ergebenden Differenzen zwischen den sozialistischen Ländern und letztendlich zu einer Einschränkung der Wirksamkeit der sozialistischen ökonomischen Integration führen könnten.
Unter Betonung dieser Aspekte brachten Konzern- und Firmenvertreter der BRD ihr Interesse an einer langfristigen Zusammenarbeit mit der DDR zum Ausdruck, wobei insbesondere die gemeinsame Bearbeitung von Großobjekten in Drittländern, die wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit und die Schaffung langfristiger Absatzlinien im Vordergrund ständen.
Vorliegende Hinweise über das Auftreten CDU-orientierter Vertreter der BRD-Wirtschaft lassen auf recht unterschiedliche Standpunkte schließen. Die Skala der vertretenen Meinungen reicht praktisch von Forderungen nach ökonomischem Zwang (z. B. Abschaffung des Swings) bis zu Auffassungen, die denen der SPD/FDP-Koalition sehr nahekommen.
In diesem Zusammenhang wurde unter Bezugnahme auf die Erklärungen der UdSSR und der DDR zu den Beziehungen mit der BRD auf die Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Situation verwiesen.3
Ein leitender Angestellter des Westberliner Büros eines Chemiekonzerns der BRD, Mitglied der CDU, schätzte ein, dass innerhalb der chemischen Industrie völlige Klarheit darüber herrsche, dass es »trotz der zugespitzten Situation, wozu hauptsächlich die Grenzzwischenfälle beigetragen hätten,4 zu keinem Abbruch der Handelsbeziehungen kommen dürfe«. Es müsste im Gegenteil alles unternommen werden, um »die sogenannten menschlichen Erleichterungen zu erhalten und weiter auszubauen«. Die Möglichkeiten der BRD-Bürger, jeden Ort in der DDR besuchen zu können, dürften nicht durch Beschränkungen des Handels in Gefahr gebracht werden.
Den gegenwärtig dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge, dürfte es im Verlaufe der LHM 76 zu keinen Belastungen des Handels entsprechend den Vorstellungen rechtsgerichteter Kreise der BRD kommen, und aufgrund des völlig offenen Ausgangs der Bundestagswahlen sollte in den Verhandlungen und Gesprächen eine Atmosphäre der Sachlichkeit vorherrschen. Die grundsätzliche Verhandlungstaktik der NSW-Unternehmen insgesamt dürfte jedoch darin bestehen, in erster Linie den Absatz eigener Erzeugnisse anzustreben.
Wie weiter intern bekannt wurde, hat die Eröffnung des USA-Konzernbüros Dow Chemical in der DDR-Hauptstadt bei anderen Chemiekonzernen, insbesondere der BRD, neue Aktivitäten hervorgerufen, die auch während der LHM 76 fortgesetzt werden sollen. Ähnliche Bestrebungen gibt es auch in anderen Bereichen der BRD-Industrie.
Zur Durchsetzung der Konzerninteressen sind auch während der LHM 76 Absprachen zwischen den führenden BRD-Chemie-Konzernen geplant, um im Vorgehen gegenüber der DDR »ein abgestimmtes Auftreten auch in Detailfragen zu gewährleisten«.
Speziell mit »Ostaufgaben« betraute Abteilungen westeuropäischer und USA-Konzerne sind beauftragt, alle sich auf der LHM 76 bietenden Möglichkeiten zu nutzen, um Marktlücken in den RGW-Ländern in Erfahrung zu bringen. Das wird als wichtige Voraussetzung betrachtet, eigene »Positionen« innerhalb des RGW zu schaffen bzw. diese zu verstärken.
Aus dem Bereich der Metallurgie liegen interne Hinweise zu Konzeptionen führender BRD-Stahlkonzerne und deren Interessenvereinigungen, u. a. der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, vor, die das Bestreben zur Schaffung langfristiger Abhängigkeit der DDR auf ausgewählten Gebieten nach wie vor deutlich machen. Diese grundsätzliche Richtung soll auch während der LHM 76 fortgesetzt werden.
Z. B. besteht eine vorrangige Zielstellung der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie darin, dem Einkaufs- und Verkaufsmonopol der DDR, dem Volkseigenen Metallurgiehandel ein einheitliches Verkaufsmonopol der BRD-Stahlindustrie entgegenzusetzen. Nach wie vor wird das Ziel verfolgt, Lieferungen an die DDR nur über den Werkhandel oder über konzerngebundene Händlerfirmen zu tätigen und handelspolitische Schwerpunktfirmen der DDR auszuschließen.
Zur Durchsetzung eines einheitlichen Auftretens gegenüber der DDR wies der Lenkungsausschuss der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie in den Monaten Mai/Juni 1976 erneut an, dass alle Konzerne, Konzernhandelsfirmen und konzerngebundene Händler den Lenkungsausschuss über geführte Preisverhandlungen mit der DDR einschließlich Absprachen über Zahlungsbedingungen und Preise zu informieren haben. Der Lenkungsausschuss gibt gleichzeitig Rückflussinformationen an einzelne Interessenten. (Z. B. ist vom Thyssen-Konzern bekannt, dass er einen Koordinator einsetzte, der die Verbindung zum Geschäftsführer des Lenkungsausschusses und zum Bundeswirtschaftsministerium aufrechthält.)
Der Mannesmann-Konzern tritt nach wie vor mit Störversuchen in konzentrierter Form in Erscheinung.
Neben Lieferverzögerungen von Ölfeld-, Siede- und Kesselrohren (Auswirkungen auf Kraftwerksanlagenbau und SKL Magdeburg) und Lieferungen mit Qualitätsmängeln behafteter Rohre für den Chemieanlagenbau werden Preiserhöhungen von ca. 60 Prozent, bei Großrohren von 300 Prozent angekündigt und massierte Maßnahmen gegenüber Konkurrenzfirmen bei eventuellen Abschlüssen mit der DDR bei Rohrimporten und -exporten angedroht. (Nach internen Hinweisen wurde der Mannesmann-Konzern z. B. bei der Hoechst AG vorstellig, um beabsichtigte Koordinierungen von Rohrimporten mit Exporten nahtloser Rohre aus dem Rohrwerk Riesa zu verhindern.)5
Das Vorstandsmitglied der Mannesmann-Röhrenwerk AG und gleichzeitig Verantwortlicher für den Vorstandsbereich Absatz und Materialwirtschaft, Dr. Mausbach, sowie der Direktor für Absatzwirtschaft und Koordinierung für den Handel mit den sozialistischen Staaten, Feldkamp, bekundeten Interesse des Mannesmann-Konzerns an der Übernahme des Baues des neuen Walzwerkes Brandenburg.6 Die Realisierung könne im Rahmen des bestehenden Konsortialvertrages mit der Salzgitter AG erfolgen. Eine Refinanzierung dieses Investvorhabens mit Stahl aus dem Brandenburger Stahlwerk wies Mausbach jedoch mit der Begründung eines »abgedeckten Stahlmarktes« der BRD zurück, sodass nur ein Export in Drittländer infrage käme. Die dazu erforderliche Reexportgenehmigung der Bundesregierung werde – laut Mausbach – aufgrund des ursprünglich vereinbarten Export-/Import-Verhältnisses von 2,5: 1 nicht gegeben.
Feldkamp, der Mitglied der Wirtschaftskommission des Landesverbandes der CDU in Nordrhein-Westfalen ist, erklärte darüber hinaus, eine CDU-Regierung werde einem solchen Sondergeschäft noch weniger zustimmen. Auf Probleme der Abnahme von Rohren aus der Produktion des Rohrwerkes Riesa eingehend, verwies Mausbach darauf, dass Mannesmann in diesen Sortimenten selbst Großproduzent sei. Das Zustandekommen eines entsprechenden »Arrangements« mit der DDR wäre nur unter bestimmten Bedingungen möglich, u. a. dürfe der Ursprung der Rohre nicht erkennbar sein. Feldkamp stellte darüber hinaus Forderungen, die einen Ausschluss handelspolitischer Schwerpunktfirmen der DDR zur Folge hätten.
Bedeutsam erscheint auch die Tatsache, dass der Mannesmann-Konzern bestrebt ist, in den Grenzen der Bezugsgenehmigung möglichst viele Exporte des VE Metallurgiehandel aufzunehmen und sie seinerseits zu »kanalisieren«.
Letztgenannte Bestrebungen verdeutlichen generelle Aktivitäten von BRD-Konzernen, stärker auf den Handel der DDR mit Unternehmen anderer kapitalistischer Staaten (u. a. Frankreichs und Japans) in der Form Einfluss zu nehmen, letztendlich die Handlungsfreiheit dieser Unternehmen einzuschränken.
Negativ auf Aktivitäten der DDR zur Erhöhung des NSW-Exportes im Bereich Elektrotechnik/Elektronik wirken sich nach wie vor ablehnende Reaktionen auf angestrebte Gegengeschäftsvereinbarungen seitens westdeutscher Konzerne aus. Die durch Prof. Matthias Schmitt, Vorstandsmitglied der AEG, auf der LFM 76 unterbreiteten Vorstellungen über mögliche Kooperationsbeziehungen zwischen AEG und DDR-Betrieben, Zusammenarbeit im Anlagengeschäft auf Drittmärkten und Entwicklung des Ex- und Imports außerhalb von Kooperationen und Drittlandgeschäften, die in Form eines »Grundsatzabkommens« ohne konkrete Festlegungen zu Objekten und Größenordnungen ihren Niederschlag finden sollten, wurden bisher lediglich mit einem Angebot an die VVB Automatisierungsgeräte über den beabsichtigten Import schlagwettergeschützter Gehäuse unterstrichen, wodurch der Industriezweig Automatisierungsgeräte jedoch praktisch zu einem Blechlieferanten der AEG degradiert würde. (Auf der LHM 76 ist mit einer Erneuerung der anlässlich der Frühjahrsmesse 1976 unterbreiteten Vorschläge zu rechnen.)
Im Bereich des Kombinates Zentronik sind während der LHM 76 gemeinsam mit dem AHB Büromaschinen-Export weitere Verhandlungen mit der Firma Olivetti zur Vertiefung von Kooperationsbeziehungen vorgesehen.
Einer zuverlässigen Information zufolge ist jedoch damit zu rechnen, dass die Firma Olivetti im Rahmen dieser Verhandlungen Forderungen stellt, die darauf abzielen, den Einfluss der DDR bei Büromaschinen auf dem peruanischen Markt zurückzudrängen. (Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden die Interessen des italienischen Unternehmens in Peru durch Zweigwerke in Mexiko und Argentinien wahrgenommen.)
Die Aktivitäten zur Anbahnung und Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zu Unternehmen der BRD, Westberlins und anderer ausgewählter NSW-Staaten werden durch den VEB Carl Zeiss Jena zur LHM 76 verstärkt fortgesetzt. Die in Vorbereitung der Herbstmesse realisierten Kontaktanbahnungen und in ersten offiziellen Verhandlungen mit leitenden Konzernvertretern erreichten Ergebnisse brachten übereinstimmend Interesse am erhöhten Bezug von Geräten aus dem VEB Carl Zeiss Jena zum Ausdruck, wobei gleichzeitig jegliche Unterstützung und Einflussnahme zugesagt wurde. Folgeverhandlungen mit Stabs- und Einkaufsabteilungen bzw. »DDR-Koordinatoren« der einzelnen Konzerne machten jedoch erhebliche Differenzen in den bekundeten Bezugsinteressen und der praktischen Realisierung deutlich.
Nach dem gegenwärtigen Stand ist anzunehmen, dass die jeweiligen Kontaktpartner in den Konzernen fast ausnahmslos als »Puffer« gegen die Forderungen der DDR nach Gegengeschäftsvereinbarungen fungieren. So führten z. B. Verhandlungen mit dem Krupp-Konzern zwar zu einem Rahmenvertrag über den Bezug von Feinmessgeräten des VEB Carl Zeiss Jena zur Bedarfsdeckung des Konzerns, bei Vertragsabschluss weigerten sich jedoch die Konzernvertreter konsequent, ein festes Jahresvolumen zu vereinbaren. Die bisher durch Krupp abgerufene Warenmenge stellt nur einen Bruchteil des tatsächlichen Bedarfs des Konzerns dar.
Auch in Bezug auf Drittlandprojekte, die zwischen dem VEB Carl Zeiss Jena und dem Krupp-Konzern diskutiert wurden, gab es seitens des Konzerns außer Absichtserklärungen keine ernstzunehmenden Schritte zu deren Realisierung.
Nach ersten Verhandlungen mit den Farbwerken Hoechst schien durch deren Einkaufsabteilung großer Einfluss auf andere Bereiche und Betriebe des Konzerns auszugehen, um die Beziehungen zum VEB Carl Zeiss Jena enger zu gestalten und zu konkreten Geschäftsabschlüssen zu gelangen. Das einzige Ergebnis für den VEB Carl Zeiss Jena besteht allerdings in einer Anfrage mit konkreter Spezifikation der Firma Uhde (Tochterfirma von Hoechst) über eine eventuelle Beteiligung an der Ausrüstung von Ammoniak-Anlagen in Ägypten. Alle Kontaktaufnahmen des VEB Carl Zeiss Jena zu Hoechst-Tochterfirmen in den USA, Frankreich, Großbritannien und Brasilien, wofür Hoechst ursprünglich volle Unterstützung zusagte, gingen negativ aus. Die tatsächliche Strategie des Hoechst-Konzerns offenbarte sich in der Stellungnahme gegen die Forderung der DDR nach Gegengeschäftsvereinbarungen mit der Begründung, dass die DDR »längst überholte Gepflogenheiten aus der Zeit des einfachen Warenaustausches wiederaufleben lassen wolle«.
Eine gleiche Stellungnahme bezog auch Daimler Benz in den bisherigen Kontakten mit dem VEB Carl Zeiss Jena.