Prozess gegen einen ehemaligen Betriebsdirektor wegen Betrugs
22. Oktober 1976
Information Nr. 676/76 über die beabsichtigte Durchführung einer gerichtlichen Hauptverhandlung gegen den ehemaligen Direktor für Wissenschaft und Technik, [Name], VEB [Betrieb] vor dem Bezirksgericht Cottbus
Es ist beabsichtigt, im Zeitraum Ende Oktober/Anfang November 1976 vor dem Strafsenat I des Bezirksgerichts Cottbus die gerichtliche Hauptverhandlung gegen [Name des Beschuldigten], geboren am [Tag] 1934 in [Ort]; Beruf: Ingenieur-Ökonom, zuletzt tätig als Direktor für Wissenschaft und Technik im VEB [Name]; wohnhaft: [Adresse]; Ausschluss aus der SED August 1976; nicht vorbestraft, wegen verbrecherischen Betrugs in Verbindung mit passiver Bestechung, unbefugter Offenbarung wirtschaftlicher Geheimnisse und wegen Verstößen gegen das Devisengesetz durchzuführen.
[Dem Beschuldigten] wurde 1966 die Leitung des Betriebes mit staatlicher Beteiligung (BSB)1 [Name und Ort] übertragen. 1973 wechselte er zum VEB [Name] – einem der VVB Baumwolle Karl-Marx-Stadt zugeordneten Textilbetrieb – über und übte seit dieser Zeit bis zu seiner Inhaftierung die Funktion des Direktors für Wissenschaft und Technik aus.
Bereits in der Zeit seiner Tätigkeit als Werkleiter des BSB [Name] erhielt er Verbindung zu Vertretern der Textilmaschinenbaufirma [Name und Ort], BRD, einem im Wesentlichen auf die Fertigung von Schlichtanlagen2 spezialisierten Betrieb.
Unter Ausnutzung seiner Funktion als Werkleiter des BSB [Name und Ort] setzte er im Zeitraum 1968 bis 1970, u. a. durch Ausnutzung fehlender Kenntnisse im Bezirkswirtschaftsrat Dresden über Probleme des Einsatzes von Schlichtanlagen und durch Desinformation des Außenhandelsunternehmens Unitechna, den Import einer Schlichtanlage von der BRD-Firma [Name] durch.
[Der Beschuldigte] hatte mit dem Ziel, eine Schlichtanlage [der Firma] zu importieren, die entsprechenden Vereinbarungen mit dem Firmenvertreter [Name] – ohne Zustimmung der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe – getroffen und dieser westdeutschen Firma außerdem angeboten, den Import von Schlichtanlagen für die Textilindustrie der DDR mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu fördern.
Nach der Übernahme der Schlichtanlage im BSB [Name] erkannte [der Beschuldigte], dass die vertraglich garantierten Leistungsparameter nicht erreicht wurden und diese Anlage erhebliche technische Mängel aufwies, die zu außerplanmäßigen Stillständen führten. Trotz der ihm bekannten Mängel an den von der Firma [Name] hergestellten Schlichtanlagen erfüllte er die vom Vertreter [der Firma, Name] erhobene Forderung, den Bezug von [Firmenname]-Schlichtanlagen durch die Textilindustrie der DDR günstig zu beeinflussen.
Zur Verwirklichung seines Vorhabens nutzte er insbesondere seine gutachterliche Tätigkeit im Verhandlungskollektiv »Fläche« der VVB Baumwolle aus, was ihm als anerkannten Spezialisten keine Schwierigkeiten bereitete. (Bei dem Verhandlungskollektiv »Fläche« handelt es sich um ein ehrenamtliches Gutachtergremium auf dem Gebiet textiler Veredelungsmaschinen.)
[Der Beschuldigte] verheimlichte wider besseres Wissen die erkannten Mängel und gab gegenüber Vertretern der am Import von Schlichtanlagen interessierten Textilbetriebe der DDR, der VVB Baumwolle Karl-Marx-Stadt und dem Außenhandelsbetrieb Unitechna Berlin sowie dem Bezirkswirtschaftsrat Dresden positive Referenzen für die [Firmenname]-Schlichtanlagen.
Anlässlich einer vom Außenhandelsbetrieb Unitechna für Experten des Textilmaschinenbaus der DDR organisierten Dienstreise in die VR Ungarn täuschte [der Beschuldigte] die Teilnehmer und machte falsche Angaben zur technischen Ausrüstung und zum Leistungsvermögen einer in Kooperation zwischen dem ungarischen Unternehmen KAEV und [einer anderen] BRD-Firma [Name] gefertigten Schlichtanlage. Auf diese Weise gelang es ihm, den Import und Einsatz eines Musters dieser Anlage in einem Textilverarbeitungsbetrieb der DDR zu verhindern.
Durch diese Manipulationen des [Beschuldigten] wurden weitere sechs Schlichtanlagen der Firma [Name] (Preis je Anlage 400 000 DM) für textilverarbeitende Betriebe von der DDR importiert. In den Jahren 1974/75 entstand der Volkswirtschaft der DDR infolge des Einsatzes der mit technischen Mängeln behafteten [Firmenname]-Schlichtanlagen ein Schaden in Höhe von ca. 870 000 Mark.
Der von einer eingesetzten Gutachterkommission errechnete Schaden resultiert in erster Linie daraus, dass die von der Firma [Name] gelieferten Schlichtanlagen im Dauerbetrieb nicht die vertraglich garantierten Leistungen erbrachten. Daraus ergab sich ein hoher Mehraufwand vor allem an Arbeitszeit.
Die darüber hinaus eingetretenen außerplanmäßigen Maschinenstillstandszeiten von ca. 2 100 Stunden sind ebenfalls eindeutig auf Ausfälle infolge technischer Mängel der importierten Schlichtanlagen zurückzuführen. (Die Gefahr außerplanmäßigen Maschinenstillstandes der Anlagen konnte bisher nicht beseitigt werden.)
Für die von [dem Beschuldigten] begangenen betrügerischen Manipulationen zahlten ihm Vertreter der Firma [Name] in mehreren Raten Bestechungsgelder in Höhe von 11 000 DM, die unter Umgehung der devisenrechtlichen Bestimmungen der DDR eingeführt wurden. (Z. B. erfolgten jeweils Zahlungen nach jeder Lieferung einer Schlichtanlage.)
Im Zeitraum von 1970 bis zur Leipziger Herbstmesse 1975 hat [der Beschuldigte] an den Verkaufsleiter der BRD-Firma [Name] u. a. folgende Tatsachen verraten:
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Die Bedarfszahlen und Planzahlen an Schlichtanlagen für Textilbetriebe der VVB Baumwolle,
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das Produktionsprofil verschiedener Textilbetriebe der DDR,
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Ergebnisse von Dienstreisen in sozialistische Staaten und dabei gewonnene Kenntnisse über Liefermöglichkeiten von Schlichtanlagen in sozialistische Staaten,
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Charakteristiken von leitenden Mitarbeitern von Textilbetrieben der DDR, insbesondere über solche, die für die Importe von Schlichtanlagen verantwortlich waren bzw. Interesse am Kauf von Schlichtanlagen zeigten,
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Charakteristiken über die Mitarbeiter des Wirtschaftsrates Dresden, der VVB Baumwolle und des AHB Unitechna, die für Schlichtanlagenimporte verantwortlich waren.
Die Motivation des [Beschuldigten] für seine strafbaren Handlungen basiert insbesondere auf seinem starken Bestreben nach persönlichem Besitz, das sich vor allem aus einer ablehnenden Einstellung zu der von der SED gegenüber Komplementären3 betriebenen Lohnpolitik und durch eine zielgerichtete politische Beeinflussung durch [den Verkaufsleiter der westdeutschen Firma] entwickelte.
Seit der Leipziger Herbstmesse 1968 hat es [der Verkaufsleiter] bei einer Vielzahl von persönlichen Zusammenkünften verstanden, das Besitzstreben des [Beschuldigten] zu ermitteln und weiter auszubauen sowie dessen Einstellung zu den verschiedensten Bereichen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR festzustellen. Aufbauend auf seine konkreten Kenntnisse über die persönliche und berufliche Entwicklung des [Beschuldigten] und durch die Übergabe von Geschenken und kleineren Geldbeträgen hat es [der Verkaufsleiter] verstanden, [den Beschuldigten] von 1968 bis 1970 systematisch an die Firma [Name] zu binden und zu pflichtwidrigen Handlungen im Zusammenhang mit dem Import einer Schlichtanlage [dieser Firma] zu veranlassen.
Im Januar 1970 hat [der Verkaufsleiter] den [Beschuldigten] für eine Zusammenarbeit mit der Firma [Name] beim Verkauf von deren Schlichtanlagen an bedeutende Textilbetriebe der DDR gewonnen, indem er diesem zusicherte, dass er für jede mit seiner Hilfe in die DDR verkaufte Schlichtanlage [der Firma] eine »Provision« von 2 000 DM bzw. 0,5 Prozent vom Vertragswert erhält. In diesem Zusammenhang wurden für [den Beschuldigten] konkrete Aufgaben festgelegt, die im Wesentlichen in der Erteilung positiver Referenzen für [Firmenname]-Schlichtanlagen an Vertreter der DDR-Textilindustrie, des AHB Unitechna Berlin und des Wirtschaftsrates des Bezirkes Dresden und in der Beschaffung und Übermittlung von Informationen über Interessenten an Schlichtanlagen bestanden. Dadurch versetzte [der Beschuldigte] die Vertreter der Firma [Name] in die Lage, gegenüber den staatlichen Organen der DDR entsprechend taktisch vorbereitet aufzutreten.
In diesem Zusammenhang wird auf einige Umstände hingewiesen, durch die die verbrecherischen Handlungen [des Beschuldigten] begünstigt wurden. Der anerkannte Webereifachmann [Name des Beschuldigten] verstand es, sich durch gesellschaftspolitische Aktivitäten das uneingeschränkte Vertrauen in den staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, einschließlich der SED-Kreisleitung [Stadt], zu erwerben.
Durch eine seiner Interessenlage dienenden Förderung seitens der Vertreter der Firma [Name] entwickelte sich [der Beschuldigte] seit 1968 zu einem anerkannten Spezialisten für Schlichtanlagen. Seinen fachlichen Hinweisen, Gutachten und Empfehlungen wurde dementsprechend kritiklos Glauben geschenkt. Hinzu kam weiter, dass durch die Textilbetriebe, die eine [Firmenname]-Schlichtanlage importiert haben, und den AHB Unitechna Berlin keine ordnungsgemäße, laut Vertrag vereinbarte Übernahme/Übergabe mit dem dazugehörigen Leistungsnachweis erfolgte.
Aufgetretene technische Mängel an [Firmenname]-Schlichtanlagen wurden dem AHB Unitechna Berlin nicht gemeldet.
Mitarbeiter des AHB Unitechna, der VVB Baumwolle, des Wirtschaftsrates des Bezirkes Dresden sowie leitende Mitarbeiter der Textilbetriebe vertrauten den Angaben [des Beschuldigten] zum Leistungsvermögen und zur technischen Ausrüstung der [Firmenname]-Schlichtanlagen, ohne diese einer näheren Prüfung zu unterziehen.
Darüber hinaus informierten diese unberechtigterweise den [Beschuldigten] über den Bedarf an Schlichtanlagen für die Textilindustrie der DDR.
Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass [der Beschuldigte] es verstanden hat, gegenüber seinem engsten Mitarbeiterkreis im Betrieb, den ihm bekannten Mitarbeitern der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe und auch im engeren Familienkreis die Beziehungen zu den Vertretern der Firma [Name] zu konspirieren.
Die von [dem Beschuldigten] begangenen strafbaren Handlungen werden durch eine lückenlose Beweisführung – Sachverständigengutachten, Zeugenaussagen, Sachbeweise, umfangreiches Geständnis des Beschuldigten – eindeutig nachgewiesen. Gleichzeitig sollen in der Hauptverhandlung die Praktiken der BRD-Firma [Name] (Mittel des Betrugs und der Bestechung, Verstoß gegen das Prinzip des Handels zum gegenseitigen Vorteil) aufgedeckt werden.
In diesem Zusammenhang ist vorgesehen, dass – nachdem das Urteil rechtskräftig geworden ist – im Organ der Bezirksleitung der SED Cottbus »Lausitzer Rundschau« ein Kommentar über die Machenschaften der genannten BRD-Firma zur Schädigung der Volkswirtschaft der DDR veröffentlicht und von den Organen der SED-Bezirksleitungen Dresden und Karl-Marx-Stadt übernommen wird.4
Es wird vorgeschlagen, zur Teilnahme an der gerichtlichen Hauptverhandlung einen verantwortlichen Vertreter der »Lausitzer Rundschau« und 20 ausgewählte Funktionäre aus dem Verantwortungsbereich der VVB Baumwolle Karl-Marx-Stadt einzuladen.
Ihre Teilnahme erscheint im Sinne ihrer aktiven Einflussnahme zur Erhöhung der Klassenwachsamkeit sowie ihres Wirkens im Sinne der konsequenten Durchsetzung bestehender Weisungen für den Umgang mit Vertretern aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet und bei der Übernahme importierter Maschinen und Anlagen einschließlich der Erfassung von Mängeln und der Einleitung von Sanktionen zweckmäßig.
Weiter ist vorgesehen – ausgehend vom Ergebnis der Hauptverhandlung und auf der Grundlage einer von der VVB Baumwolle erarbeiteten Dokumentation über die Mängel der [Firmenname]-Schlichtanlagen –, das DDR-Außenhandelsunternehmen Unitechna in die Lage zu versetzen, Sanktionen gegenüber der BRD-Firma einzuleiten. Zwischenzeitlich wurden Maßnahmen eingeleitet, die dazu dienen sollen, bei einem möglichen Abbruch der Handelsbeziehungen durch die Firma [Name] Schäden für die Volkswirtschaft der DDR abzuwenden.