Reaktionen auf den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem SV der DDR
9. November 1976
Information Nr. 765/76 über Reaktionen verschiedener Schriftsteller der DDR zum Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR
Dem MfS liegen interne Hinweise vor, wonach unmittelbar nach dem erfolgten Ausschluss des Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband der DDR in Kreisen Kunze-freundlicher Schriftsteller der DDR reges Interesse am Sachverhalt und an der Objektivität des Ausschlusses einsetzte.1
So informierte Jurek Becker am 5. November 1976 auf der Grundlage von Veröffentlichungen westlicher Massenmedien Stefan Heym in einem internen Gespräch über den Ausschluss des Kunze. Heym regte daraufhin Becker an, diese Meldung sowohl beim Berliner Schriftstellerverband als auch bei einem Mitglied des Präsidiums des Verbandes zu überprüfen, um danach gemeinsam zu beraten, welche »Protestmaßnahmen« angebracht seien.
Nachdem Becker dieser Aufforderung nachgekommen war, informierte er Stefan Heym vom Ergebnis und teilte mit, er wolle eventuell als Protest seinen Austritt aus dem Verband erklären. Heym stimmte ihm zu und betonte, er wolle sich diesem Protest anschließen, es sei jedoch notwendig, zur Auslösung einer »wirkungsvollen Aktion« weitere Schriftsteller zu gewinnen.
Beide vereinbarten zu versuchen, Stephan Hermlin für einen Protest zu gewinnen, wobei sie zu bedenken gaben, dass Hermlin kein direkter Freund von Kunze sei. Das Gespräch mit Hermlin solle unter dem Gesichtspunkt geführt werden, dass es nicht um die Person Kunze, sondern »um das Prinzip gehe«.
Hermlin ließ in einer späteren internen Unterhaltung mit Heym erkennen, er habe vor, einen persönlich gehaltenen Brief an das Präsidium des Schriftstellerverbandes zu richten, in dem er den Ausschluss des Kunze missbilligen werde.
Während einer Lesung Jurek Beckers aus seinem Buch »Der Boxer«2 am 6. November 1976 in Räumen der Jüdischen Gemeinde Groß-Berlin nutzte dieser die Möglichkeit, um sich mit Kunze zu solidarisieren. Dabei distanzierte er sich vor den Anwesenden vom Ausschluss Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR und betonte, er wolle bei Aufrechterhaltung des Ausschlusses des Kunze seinen Austritt aus dem Schriftstellerverband der DDR erklären.
Nach jüngsten Äußerungen beabsichtige Becker, in der nächsten Zeit mit Kunze persönlich zusammenzutreffen und zu sprechen. Davon will er seine weiteren Schritte abhängig machen.
Auch Robert Havemann zeigt sich an Einzelheiten über den Ausschluss des Kunze äußerst interessiert. In einem individuellen Gespräch mit Stephan Hermlin versuchte er diesen zu veranlassen, seine Möglichkeiten als Mitglied des Schriftstellerverbandes und des Internationalen PEN auszunutzen, »um öffentlich und nachhaltig« gegen den Ausschluss Kunzes aus dem Schriftstellerverband zu protestieren. Dabei äußerte Havemann, es gehe nicht vordergründig um die Person Kunze, sondern darum, den »Systemkritikern« beizustehen und dem Ansehen ihrer Sache Geltung zu verschaffen.
Havemann bezeichnete den Ausschluss Kunzes als eine »Verunglimpfung und rüde Methode« gegenüber Kunze und anderen »Kritikern«.
Stephan Hermlin gab Havemann in diesem internen Gespräch zu verstehen, er könne dessen Auffassung nicht so absolut teilen, da es Kunze nach seiner Meinung mit seinem Verhalten offensichtlich darauf angelegt habe, aus dem Verband ausgeschlossen zu werden. Hermlin erklärte sich nicht bereit, die Grenze seiner bisher eingeschlagenen Haltung zu Kunze zu überschreiten. (In einem inzwischen an den Schriftstellerverband der DDR adressierten Brief formulierte Hermlin u. a.: »Unmut kann verständlich sein, aber ich halte es im Hinblick auf kulturpolitische Tatsachen und Zusammenhänge nicht für weise, einem solchen Unmut nachzugeben.«)
Weiter wurde intern bekannt, dass auch der Schriftsteller Günter Kunert beabsichtigt, einen »Protestbrief« zum Ausschluss des Kunze an die Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, Anna Seghers, abzufassen.3 Dabei zieht er in Erwägung, Durchschläge dieses Schreibens an das Ministerium für Kultur und andere Einrichtungen zu versenden.
Internen Hinweisen zufolge plant das DPA-Büro Berlin, ein Interview mit Kunze in Greiz zu führen. Die Aufzeichnung dieses Interviews soll dem DPA-Büro Hamburg und dem S. Fischer-Verlag in Frankfurt/M. zugestellt werden.
Der ZDF-Korrespondent Dirk Sager will am 10. November 1976 mit Heym ein Gespräch über den Fall Kunze führen. Initiator zu diesem Gespräch ist Heym.
Außerdem zeigte sich der Bonner Korrespondent der »New York Times«, Graig Wittney, an Interviews mit Schriftstellern der DDR über den Ausschluss Kunzes sehr interessiert. Bisher sind von ihm Stefan Heym und Stephan Hermlin zu Interviews aufgefordert worden.
Am 8. November 1976 forderten die Mitglieder der Westberliner Akademie der Künste in einer Resolution die Zurücknahme des Ausschlusses des Kunze aus dem Schriftstellerverband.4
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