Reaktionen auf eine eventuelle Verpachtung der S-Bahn Westberlin
30. März 1976
Information Nr. 234/76 über erste Reaktionen von Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin zur Veröffentlichung über eine eventuelle Verpachtung der Westberliner S-Bahn-Einrichtungen an den Westberliner Senat
Dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge, entstanden nach der Veröffentlichung der ADN-Meldung vom 25. März 1976 umfangreiche Diskussionen unter den Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn in Westberlin.1
Die Meinungsäußerungen tendierten nach ersten Einschätzungen hauptsächlich dahin, dass bei einer möglichen Verpachtung der Westberliner S-Bahn-Einrichtungen unter Umständen die Sicherung des Arbeitsplatzes infrage gestellt sei. Vornehmlich SEW-Mitglieder2 äußerten Befürchtungen, vom Westberliner Senat nicht weiterbeschäftigt zu werden. Überhaupt werde die weitere Perspektive der Deutschen Reichsbahn in Westberlin durch eine solche Maßnahme infrage gestellt.
Im Allgemeinen wird bemängelt und Unverständnis zum Ausdruck gebracht, dass weder die dienstlichen Leiter der Reichsbahndienststellen in Westberlin noch die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen von dem Vorschlag der DDR vorher in Kenntnis gesetzt wurden.
Wie weiter bekannt wurde, häufen sich nach dem Bekanntwerden der ADN-Meldungen am 25. März 1976 Telefonanrufe, vor allem bei der Betriebsgewerkschaftsleitung der Reichsbahndirektion Berlin, in denen Reichsbahndirektionsdienststellen in Westberlin, so u. a. RAW und BW Grunewald, S-Bahnbetriebswerk Papestraße und Spandau, um die Bestätigung des Wahrheitsgehaltes dieser Meldung bitten und gleichzeitig um konkrete Erklärungen ersuchen.3
Die BGL der Reichsbahndirektion Berlin war jedoch anfänglich nicht in der Lage, eine entsprechende Argumentation zu verbreiten und die erforderlichen Instruktionen für das Auftreten der Gewerkschaftsfunktionäre in den Dienststellen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin zu erteilen.
Auch in einigen Parteiorganisationen, so u. a. in der Parteiorganisation der SEW-Gruppe der Poliklinik der Deutschen Reichsbahn, wird Unverständnis darüber geäußert, dass ohne vorhergehende Information ein solcher Vorschlag der DDR an den Senat von Westberlin unterbreitet worden sei. Damit würde die DDR der SEW in den »Rücken« fallen.
(Ähnliche Hinweise liegen auch aus dem RAW-Tempelhof und dem S-Bahnbetriebswerk Wannsee vor.)
Lehrkräfte der Betriebsschule des Reichsbahnamtes Berlin 4 (Grunewald) erklärten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der ADN-Meldung, der politischen Arbeit unter den Lehrlingen und unter den Eisenbahnern »sei ein Schlag versetzt worden«. Es sei große Unsicherheit im Vertrauen zur DDR eingetreten, und es werde angezweifelt, ob die Partei und die Gewerkschaft tatsächlich noch die Interessen ihrer Mitglieder vertreten.
Die bisher verbreitete Argumentation über krisensichere Arbeitsplätze bei der Deutschen Reichsbahn und die Auffassung, die DDR werde die Westberliner Eisenbahner nicht im Stich lassen, werden stärker als bisher angezweifelt.
Angestellte der Verwaltung der S-Bahn erklärten, dass sie den Westberliner Beschäftigten, wie Triebfahrzeugführern, die sie diesbezüglich ansprachen, keine Argumentation geben konnten, weil sie selbst überrascht wurden. Da die ganze Problematik einen politischen Hintergrund habe, sei es eine große Unterlassung des MfV und der Reichsbahndirektion Berlin, sie nicht entsprechend vorzubereiten.
In den Diskussionen werden teilweise auch solche spekulativen Gedanken geäußert, die DDR hätte bereits konkrete Verhandlungen geführt. Vorliegende Erfahrungen würden angeblich bestätigen, dass die DDR solche Vorschläge erst veröffentlicht, wenn die entsprechenden Fakten festliegen.
Der Präsident der Reichsbahndirektion Berlin und der Leiter der Politabteilung erörterten am 29. März 1976 in einer außerordentlichen Dienstbesprechung mit den in Westberliner Dienststellen tätigen Funktionären der S-Bahn verschiedene, sich seit der ADN-Meldung ergebende Fragen und Probleme der Lage unter den Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin. U. a. wurde dabei auch in den Mittelpunkt gestellt, das Vertrauen in die Politik der SED und der Regierung der DDR in den Vordergrund der Aussprachen zu stellen und insbesondere darauf hinzuweisen, dass bei einer Verpachtung der S-Bahn an den Westberliner Senat die Betriebsführung auch weiterhin in Händen der Deutschen Reichsbahn verbleiben würde.
Beschäftigte des Ministeriums für Verkehrwesen erklärten u. a., der S-Bahnverkehr in Westberlin wäre wohl ein unrentabler Betrieb und es müsse zumindest versucht werden, das Ergebnis günstiger zu gestalten, jedoch wäre die »S-Bahn ein integrierter Bestandteil der Deutschen Reichsbahn, und die DDR sollte nicht unnötigerweise in Westberlin vorhandene Rechte abgeben«. Ein Mitarbeiter der Reichsbahndirektion Berlin äußerte, dass die ganze Frage sicherlich mit der Entwicklung der politischen Gespräche mit der BRD und Westberlin im Zusammenhang stehe. Wenn man die Presse in den letzten Monaten verfolgt habe, könne dieses Angebot nur eine logische Fortsetzung der getroffenen Feststellungen bedeuten. Unklar bliebe jedoch, wie bei der Realisierung des Angebotes die Frage der Beschäftigten geregelt werde, da doch auf verschiedenen Bahnhöfen der Fern- und S-Bahnverkehr nicht getrennt abgewickelt werde.
Im Zusammenhang mit vorgenannten Erscheinungen unter Angehörigen der Deutschen Reichsbahn ist bedeutsam, dass am 26. März 1976 verschiedentlich auf dem Gelände der Deutschen Reichsbahn – S-Bahnhöfe Papestraße und Eichkamp – ca. 600 Hetzflugblätter des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« (genannt wird als Verantwortlicher im Sinne des Westberliner Pressegesetzes: D. Zimmer, 1 Berlin 62, [Adresse]) verteilt wurden. Darin wird gegen den Vorschlag der DDR an den Senat von Westberlin gehetzt, der Deutschen Reichsbahn wird der Charakter eines volkseigenen Betriebes abgesprochen und kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft vorgeworfen.
Mit einer Verpachtung der S-Bahn an den Westberliner Senat, so wird unterstellt, würde nur der »Ausbeuter« wechseln. Die Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin werden unter Berufung auf die Gesetzgebung der DDR aufgefordert, die dienstlichen Vorgesetzten zur Stellungnahme zu zwingen und die »Offenlegung der Verpachtungspläne« zu fordern.
Anlage zur Information Nr. 234/76
[Flugblatt des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands]
DDR will S-Bahn an Senat verpachten!/ Sofortige Offenlegung des Pacht-Plans!
Die S-Bahn soll an den Senat von Westberlin verpachtet werden. Dies teilte die DDR-Nachrichtenagentur ADN am 24. März mit. Als Begründung wurde ein jährliches Defizit von 100 Mio. DM jährlich genannt.
Senatssprecher Struve fand dies nicht überraschend. Nur der Zeitpunkt sei erstaunlich.
Umso überraschender kommt dieser Plan für die Beschäftigten der DR. Sie sollen verschoben werden wie Kühe auf dem Viehmarkt. Der Lohnraub und die Rationalisierung auf dem Rücken der Kollegen, Einstellungsstopp und steigende Überstunden, die miserable medizinische Versorgung und die verstärkte Kontrolle in vielen Bereichen haben es längst gezeigt: Die DR ist kein sozialistischer Betrieb. Nach den Verpachtungsplänen nun liegt völlig offen: Eine Ware ist die Arbeitskraft auch bei der DR, die der Kapitalist ankauft, wenn er sie braucht und abstößt, wenn ihm die Kosten zu hoch werden.
Vor den Arbeitern haben diese Herren, die sonst den Mund nicht voll genug nehmen können mit ›Sozialismus‹ und ›Arbeitermacht‹, ihre Pläne verheimlicht. Um hundsgemeine Ausbeuter handelt es sich, die sich in nichts unterscheiden von westlichen Kapitalisten.
Über Nacht einfach einem anderen Ausbeuter zur Pacht angeboten zu sein – das ist ein entwürdigender Vorgang. Er macht deutlich, dass dem Kapitalisten der Mensch nichts und der Profit alles gilt. Dennoch gibt es keinen Grund für die Beschäftigten der DR, sich jetzt auf die Seite des einen oder anderen Ausbeuters zu schlagen. An wen sie sich verkauft und wer sie ausbeutet, das kann der Arbeiterklasse und auch der Belegschaft bei der DR gleich sein. Ihr Interesse ist, mit der Ausbeutung überhaupt ein Ende zu machen.
Trotzdem muss die Nachricht von der Verpachtung ein Alarmzeichen für die Belegschaft sein. Denn natürlich wird der neue Ausbeuter versuchen, gleich einmal klarzustellen, wer Herr im Haus ist. Er wird versuchen, den Wechsel in der Leitung zu verbinden mit verschärfter Ausbeutung.
Doch auch die DR hat alles Interesse, ihre Rationalisierungspläne noch mehr voranzutreiben. Je straffer sie die Arbeiter unter ihrer Kontrolle hat, je besser die Schweißauspressung funktioniert, desto höher ist der politische oder wirtschaftliche Preis, den die DDR als Pacht fordern kann.
Der Poker um den Preis hat schon begonnen. Senatssprecher Struve etwa gab sich gestern im RIAS erst einmal uninteressiert: Ein derart unwirtschaftlicher Betrieb sei für den Senat nicht sinnvoll, den Senat reizvoll. Man kann sich gut vorstellen, auf wessen Kosten die Art von Wirtschaftlichkeit geht, die den Senat reizen könnte.
Diesen Plänen können die Beschäftigten der DR einen Strich durch die Rechnung machen. Schon in der Vergangenheit hat sich Widerstand geregt, vor allem gegen den 50-DM-Abschluss vom letzten Herbst.4 Das hat gezeigt, dass Kampf auch bei der DR möglich ist. Jeder Versuch, die Kollegen mehr arbeiten zu lassen, muss jetzt auf erbitterten Widerstand stoßen.
Zunächst muss man genau wissen, was die DR-Leitung im Einzelnen vorhat. Fordert deshalb Eure Vorgesetzten auf, Stellung zu nehmen. Fordert Offenlegung der Verpachtungspläne. Legt die Vertrauensleute auf diese Forderung fest. Der FDGB hat zu fordern, dass Fakten auf den Tisch kommen. Die DDR-Gesetze legen fest, dass der FDGB an der Betriebsleitung teilnimmt. Wie ein Teil der Betriebsleitung hat er sich auch verhalten: Ebenso wenig wie die DR-Leitung hat der FDGB sein Schweigen gegenüber den Arbeitern gebrochen.
Am Lohn, am Gesundheitswesen und überall sonst kann man sehen, dass die DR darauf aus ist, den Arbeitern Zug um Zug das Fell über die Ohren zu ziehen. Vertrauen ist gegenüber diesen Herren völlig fehl am Platz.
Fordert: Sofortige Offenlegung des Pacht-Plans!
KBW/ Aufl[age]: 600/ Kommunistischer Bund Westdeutschland.