Schließung von GÜST durch die VR Polen
17. Mai 1976
Hinweise auf einige im Zusammenhang mit der zeitweiligen Schließung der Grenzübergangsstellen zwischen der VR Polen und der DDR sowie der gegenwärtigen innenpolitischen Situation in der VR Polen bekannt gewordenen Probleme [Bericht O/26d]
Die gegenwärtige Situation an den Grenzübergangsstellen (GÜST) zwischen der DDR und der VR Polen ist unverändert. Die am 11. Mai 1976 vom Politbüro des ZK der SED beschlossenen Maßnahmen zur zeitweiligen Schließung der GÜST Grambow, Tantow, Ahlbeck, Linken, Gumience, Pomellen, Schwedt, Frankfurt/O. – Stadtbrücke und Autobahn und Wilhelm-Pieck-Stadt Guben für den gesamten pass- und visafreien Reiseverkehr in beiden Richtungen sind durch die zuständigen Organe der DDR reibungslos durchgesetzt worden.1 Die zuständigen polnischen Organe an den genannten GÜST wurden am 12. Mai 1976 ordnungsgemäß von diesen Maßnahmen in Kenntnis gesetzt. Es gab in diesem Zusammenhang keine besonderen Reaktionen und auch keine Vorkommnisse.
Demgegenüber liegen sowohl aus politisch gut informierten polnischen Kreisen als auch aus der Bevölkerung der VR Polen übereinstimmende Hinweise vor, wonach die von den polnischen Organen verfügten Maßnahmen zur Schließung der Grenzübergangsstellen für den pass- und visafreien Reiseverkehr nicht ursächlich auf das Auftreten von Maul- und Klauenseuche in der DDR, sondern in hohem Maße auf die gegenwärtige innere Situation und bestimmte Entwicklungstendenzen in der VR Polen zurückgeführt werden.
Diese Maßnahmen werden vor allem als eine Geste der PVAP-Führung an den polnischen Nationalismus – der in den letzten Monaten besonders augenfällig geworden sei – gewertet.
Insbesondere nach der Annahme der neuen Verfassung der VR Polen im Februar 1976 sei es zu einer Zunahme von Aktivitäten oppositioneller und nationalistischer Kräfte und zu einer in diesem Umfang seit langer Zeit nicht gekannten nationalistischen Welle in der VR Polen gekommen, die sich in erster Linie gegen die UdSSR richtet.
Durch eine große Anzahl namhafter polnischer Intellektueller, Künstler, Vertreter der katholischen Kirchenführung u. a. Kreisen seien sogenannte offene Briefe in Umlauf gebracht worden, in denen die oppositionellen und nationalistischen Kräfte u. a. Forderungen nach mehr »Souveränität der VR Polen innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft«, nach Erhöhung des »Gewichts der VR Polen im internationalen Maßstab« und nach »allgemeinen freien Wahlen« erheben.
Beispiele der zunehmenden nationalistischen Tendenzen werden auch darin gesehen, dass z. B. am 1. Mai in Warschau und anderen Städten in Demonstrationszügen und auf den Ehrentribünen überwiegend nur Fahnen mit den polnischen Nationalfarben und im Verhältnis zu den Vorjahren fast keine Fahnen und Symbole der sozialistischen Bruderländer gezeigt wurden.
In politisch gut informierten Kreisen der VR Polen wird die Ansicht vertreten, dass die nationalistische Bewegung ihren Höhepunkt noch nicht erreicht habe, der Antisowjetismus sich weiter verstärke und diesbezüglich ernste Konfliktsituationen zu erwarten bzw. nicht auszuschließen seien. Gleichzeitig wird in diesem Zusammenhang auf eine noch nie dagewesene Geschlossenheit der oppositionellen Kräfte verwiesen. Von diesen Kräften sollen zahlreiche Kontakte zur mittleren Funktionärsebene der westlichen Sowjetrepubliken (Litauen, Lettland, Estland) mit dem Ziel geschaffen worden sein, gemeinsam die »Vormachtstellung« der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zu brechen und eine »neue Form sozialistischer Demokratie«, d. h. die pluralistische Gesellschaft zu errichten.
Von besonderer Bedeutung für die innenpolitische Situation werden die wachsenden Disproportionen zwischen Kauf- und Warenfonds eingeschätzt. [sic!] Insbesondere bei Grundnahrungsmitteln und einigen industriellen Konsumgütern würden erhebliche Versorgungslücken bestehen. Vor allem in den nördlichen Gebieten der VR Polen sei die Versorgungslage sehr angespannt. Bis zur Ernte wird mit keiner wesentlichen Verbesserung der Versorgungslage gerechnet und bei der Fleischversorgung sogar eine weitere Zunahme der Schwierigkeiten erwartet.
Bekannt wurde, dass im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Festlegungen des VII. Parteitages der PVAP über eine elastische Preispolitik von der polnischen Führung ein Programm der Preisregulierung vorbereitet wird, das im Juni/Juli zur Durchführung gelangen soll. (Dieses Programm soll neben Preiserhöhungen auch bestimmte Preissenkungen sowie Lohnausgleichszahlungen und Steuervergünstigungen vorsehen.)2
Davon ausgehend werden in der VR Polen verbreitet Auffassungen vertreten, dass noch im ersten Halbjahr 1976 die Preise für Grundnahrungsmittel und einen großen Teil der industriellen Erzeugnisse stark ansteigen werden.
In den letzten Tagen sollen sich Mitarbeiter des ZK der PVAP in Großbetrieben der Industriezentren Wroclaw, Krakow, Poznan, Gdansk und Szczcecin aufgehalten und in den Parteiorganisationen eine intensive Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zur Notwendigkeit der in Kürze durchzuführenden Preisveränderungen geleistet haben.
Diese Maßnahmen sollen insbesondere mit dem Ziel der Untersuchung der Stimmung und Reaktion der Werktätigen in Schwerpunktbetrieben durchgeführt worden sein, um ähnliche Reaktionen und Ereignisse wie 1970 in Gdansk zu vermeiden.3
Wie aus politisch gut informierten Kreisen bekannt wurde, habe die polnische Führung bisher noch kein klares Bild über die zu erwartende Haltung der Bevölkerung gewonnen. Aus dem MfS vorliegenden Hinweisen wird sichtbar, dass unter Teilen der Bevölkerung der VR Polen angesichts der ernsten Versorgungsprobleme und der zu erwartenden Preisveränderungen eine starke Unzufriedenheit und Unruhe, teilweise Verbitterung und Existenzangst herrschen.
In einzelnen Betrieben, besonders der nördlichen Gebiete der VR Polen, soll es bereits zu Protesten der Belegschaften gekommen sein. Öffentliche Demonstrationen werden nicht ausgeschlossen. Auch die in der letzten Zeit verstärkt festzustellenden Vorkommnisse mit dem Verdacht der Sabotagetätigkeit (Brand auf einem sowjetischen Schiff in der Werft Gdansk, den Ölpumpenanlagen in Plock, des Gerichtsgebäudes Olsztyn und des Warenhauses Wroclaw) hätten zur Verunsicherung der Bevölkerung geführt.
(Diese Hinweise sind wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.)