Schmuggelversuch eines NVA-Offiziers auf Transitstrecke bei Berlin
6. Dezember 1976
Information Nr. 858a/76 über rechtswidrige Handlungen eines Offiziers der NVA auf der Transitstrecke Autobahn/Berliner Ring am 4. Dezember 1976 [Langfassung]
Am 4. Dezember 1976, gegen 16.30 Uhr wurde durch Sicherungskräfte der DDR die Kontaktaufnahme eines DDR-Bürgers zu Insassen eines Pkw der BRD festgestellt. Der DDR-Bürger versuchte, sich einer Kontrolle zu entziehen und wurde nach erfolglosem Fluchtversuch mittels seines privaten Personenkraftwagens vom Typ »Shiguli«, polizeiliches Kennzeichen […], in der Ortslage Lehnin/Bezirk Potsdam gestellt. Die Identifizierung ergab, dass es sich bei dem DDR-Bürger um den Major B.1, geboren am [Tag] 1940, Berufe: [Angaben zu den Berufen], zuletzt tätig als Fachgruppenleiter an der [Name der NVA-Einheit], wohnhaft: [Adresse], Mitglied der SED seit 1962, handelt.
Im Kofferraum seines Pkw wurden in zwei Plastebeuteln befindliche, von den Insassen des BRD-Pkw übernommene Kleidungsstücke, [weitere Gegenstände], Genussmittel und ein Bargeldbetrag in Höhe von 8 681,50 Mark aufgefunden sowie in seinem Besitz befindliche militärische Unterlagen sichergestellt. Major B. wurde festgenommen und gegen ihn ein Ermittlungsverfahren gemäß § 272 StGB – Verrat militärischer Geheimnisse – § 12 – Zollgesetz – und § 19 – Devisengesetz – eingeleitet und auf gleichen Rechtsgrundlagen Haftbefehl erlassen.
Die durch das MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben:
Seit 1970 unterhält die Ehefrau des B., [Name der Ehefrau], mit Wissen und Duldung ihres Ehemannes persönliche, postalische und telefonische Verbindungen zu ihrer Schwester [Vorname] U. und deren Ehemann U., [Vorname], beide wohnhaft in Düsseldorf, [Adresse]. Nach bisherigen Feststellungen nahm Major B. 1973 und 1975 je einmal an persönlichen Zusammenkünften mit dem Ehepaar U., das auf Tagesvisum über Westberlin in die DDR-Hauptstadt einreiste, teil, ohne seine Vorgesetzten darüber zu informieren. Während des Treffens Ende 1975 übergab ihm [die Schwägerin] einen illegal eingeführten Bargeldbetrag von 3 500 Mark, als Gegenwert einer von [seiner Ehefrau] in Moskau für etwa 300 Rubel gekauften und von [dem Schwager] aus der Sowjetunion nach der BRD ausgeführten Ikone. Bereits 1962 hatte B. einmal einen Geldbetrag in Höhe von 6 000 Mark, der ihm aus dem Nachlass seines in der BRD verstorbenen Großvaters zugestanden habe, unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen durch einen inzwischen verstorbenen Mittelsmann erhalten.
Während der Brief- und Paketverkehr zwischen den Ehepaaren B. und U. durch Einschaltung von Verwandten und Bekannten in der DDR als Absender bzw. Empfänger abgedeckt wurde, erfolgte die telefonische Verbindung unter Einbeziehung der in Moskau lebenden Eltern der beiden Ehefrauen, bei denen im Juni 1974 und Mai 1976 weitere persönliche Treffen zwischen den Familien B. und U. stattfanden.
Dabei wurden 1974 zwischen den genannten Personen Vereinbarungen über die ungesetzliche Ausfuhr von angeblich aus dem persönlichen Besitz der Mutter beider Ehefrauen stammender Ikonen aus der Sowjetunion zunächst in die DDR und von hier aus in die BRD getroffen, um deren dort zu erzielenden Verkaufserlös an das Ehepaar B. zu übergeben. Entsprechend dieser Absprache führte B. nach Beendigung dieses Besuchsaufenthaltes in Moskau fünf Ikonen ungesetzlich in die DDR ein, von denen drei Ende 1975 dem Ehepaar U. in der Hauptstadt der DDR persönlich übergeben und von diesem ungesetzlich nach der BRD verbracht wurden. Um die Übergabe der restlichen beiden Ikonen abzudecken, wurde telefonisch für den 4. Dezember 1976 zwischen 16.00 und 16.30 Uhr ein Treff an einem nahe der Autobahnauffahrt Brandenburg gelegenen Parkplatz vereinbart, den das Ehepaar U. sowie B. in Verwirklichung dieser Absicht wahrnahmen. Dabei übernahm B. gleichzeitig den genannten Geldbetrag in Höhe von 8 681,50 Mark, wobei der Anteil von ca. 4 000 Mark aus der Veräußerung der bereits früher übergebenen Ikonen stammt, während die restliche Summe aus der Hinterlassenschaft seiner in der BRD verstorbenen Großmutter hervorgeht.
In einer im Pkw des B. sichergestellten Aktentasche befanden sich unter anderem Ausbildungsunterlagen der [NVA-Einheit] zwei Studienanleitungen für die Topographie-, Pionier- und Nachrichtenausbildung, eine Studienanleitung für die Gefechtssicherstellung einer Fachsektion, ein Klassenspiegel, drei Namenslisten von Unterrichtsklassen, Nomenklaturübersichten und mehrere als Vertrauliche Dienstsache gekennzeichnete Luftbildaufnahmen. B. begründet das Mitführen dieser militärischen Dokumente und Unterlagen damit, dass er sie aus Gewohnheit und Bequemlichkeit entgegen den ihm bekannten Geheimhaltungsbestimmungen der NVA nicht unter Verschluss brachte, sondern, da er sie täglich zur Durchführung seines Unterrichts benötige, stets in seiner Aktentasche mit nach Hause und im vorliegenden Falle auch nur zufällig zu der Fahrt zum Treffort mit dem Ehepaar U. mitgenommen habe.
Die bisherigen Untersuchungen zum Persönlichkeitsbild des B. ergaben:
B. erlernte nach erworbener mittlerer Reife von 1956 bis 1959 den Beruf eines Vermessungstechnikers und verpflichtete sich anschließend freiwillig zum Dienst als Unteroffizier auf Zeit, den er in einer [Typ der Einheit] der NVA in [Ort] absolvierte. Ende 1960 besuchte er eine [Waffengattung]-Offiziersschule in Dresden und wurde im November 1961 zum Unterleutnant ernannt. Anschließend war er als Truppführer tätig und wurde 1964 zum Studium an eine sowjetische Militärakademie delegiert, die er 1970 als Hauptmann mit der Qualifikation eines [Bezeichnung der Qualifikation] abschloss. Seit diesem Zeitpunkt war er auf diesem Spezialgebiet als Fachgruppenleiter an [Name der NVA-Einheit] tätig.
B. ist seit 1962 Mitglied der SED: Nachdem seine erste Ehe, aus der drei Kinder hervorgegangen sind, 1966 geschieden worden war, heiratete er 1969 eine während seines Studiums in der Sowjetunion kennengelernte Sowjetbürgerin [Name], die mit ihm in die DDR übersiedelte. Diese gebar 1970 Zwillinge. Die Schwester seiner Ehefrau, mit Vornamen […], ehelichte 1969 den BRD-Bürger U. und übersiedelte im gleichen Jahr in die Bundesrepublik Deutschland. Während U. als Elektromonteur bei der Düsseldorfer [Name der Firma] arbeitet, ist seine Ehefrau als [Beruf] in Duisburg tätig.
Gegen das Ehepaar U. wurde wegen ihrer aktiven Tatbeteiligung ebenfalls ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen § 12 des Zollgesetzes der DDR sowie § 17 des Devisengesetzes der DDR eingeleitet und auf gleichen Rechtsgrundlagen Haftbefehle erlassen.
Gegen die Ehefrau des B. wurde, da sie ebenfalls Tatbeteiligte ist, ein Ermittlungsverfahren ohne Haft – unter Berücksichtigung, dass sie zwei siebenjährige Kinder zu versorgen hat – eingeleitet.
Die Untersuchungen werden durch das MfS fortgesetzt.