Schusswaffenanwendung in einer NVA-Einheit in Schwerin
27. Dezember 1976
Information Nr. 897/76 über Gewalthandlungen mit Schusswaffenanwendung durch einen Angehörigen der NVA in der Geschosswerferabteilung 8, 8. MSD, Standort Schwerin Stern-Buchholz
Am 25. Dezember 1976, gegen 7.15 Uhr überfiel der Soldat C.1, [Vorname], geboren [Tag] 1956, wohnhaft: [Adresse], Beruf: Schlosser, zuletzt tätig gewesen in [Betrieb], verheiratet, ein Kind (geboren [Tag] 1976), NVA seit 5. Mai 1976, den diensthabenden Posten am Lehrgefechtspark des Objektes, Soldat Hi., [Vorname], geboren 1953, NVA seit 3. November 1976, indem er ihn gewaltsam an sich heranzog, mit einem feststehenden Messer bedrohte und zur Herausgabe seiner MPi-K mit dazugehöriger Munition aufforderte.
Der Posten legte entsprechend der Aufforderung von C. seine Waffe mit 30 Schuss Munition ab und übergab dem C., nachdem dieser die MPi an sich genommen hatte, ein weiteres Magazin mit 30 Schuss Munition sowie das Seitengewehr. Anschließend hat C. den Soldat Hi. unter Androhung von Waffengewalt gezwungen, vor ihm in Richtung Wachlokal (ca. 40 m vom Postenbereich entfernt) herzugehen und sich dort auf den Boden hinzulegen.
C. begab sich unmittelbar zum Wachgebäude, schlug mit der MPi das Fenster ein und bedrohte die dort diensttuenden NVA-Angehörigen Uffz. K., Soldat P., Soldat Ha. mit der in seinem Besitz befindlichen MPi. Vom Wachhabenden forderte er die Herausgabe von Munition (ohne dabei irgendwelche Erklärungen abzugeben) und schoss unmittelbar danach in den Wachraum.
Dabei wurden Uffz. K., geboren [Tag] 1956, ledig, keine Kinder, NVA seit 3. November 1974, Werferführer in der Geschosswerferabteilung, durch drei Schüsse in die Lendengegend (Beckenzertrümmerung und komplizierte Dickdarmverletzung) lebensgefährlich und Soldat P., geboren [Tag] 1957, NVA seit 3. November 1976, durch einen Schuss in die linke Ferse leicht verletzt.
C. betrat dann den Wachraum, bedrohte dort den Soldaten Ha. und forderte von diesem die Herausgabe von Munition. Soldat Ha. händigte dem C. zwei Magazine mit insgesamt 60 Schuss Munition aus. Danach verließ C. das Wachobjekt und schoss vor dem Gebäude wahllos um sich.
C. begab sich von dort aus zu dem sogenannten Panzertor (ca. 20 m vom Wachgebäude entfernt) in Richtung des unmittelbar angrenzenden Übungsgeländes.
Auf den dort diensttuenden Posten Soldat J. [Vorname], geboren [Tag] 1956, NVA seit 7. November 1975, gab C. ebenfalls einen Feuerstoß ab und verletzte diesen durch zwei Streifschüsse am Oberschenkel, bevor dieser seine in Anschlag gebrachte Waffe anwenden konnte. Soldat J. warf sich danach auf den Erdboden und unternahm keine weiteren Handlungen mehr.
(Den Verletzten wurde sofort jegliche medizinische Hilfe zuteil. Sie wurden unverzüglich in das Bezirkskrankenhaus Schwerin überführt. Uffz. K. ist trotz sofortiger Operation und aller möglichen medizinischen Hilfe am 26. Dezember 1976, 21.12 Uhr, seinen Verletzungen erlegen.)
C. durchkletterte das Panzertor und flüchtete in Richtung des angrenzenden Übungsgeländes, wobei er ohne erkennbare Gründe weitere Schüsse abgab.
Nach diesem Vorkommnis sofort eingesetzte Such- und Fahndungskräfte der NVA und des MfS fanden C. gegen 8.50 Uhr im Übungsgelände (ca. 500 m vom Objekt entfernt) mit einer offenkundig von ihm selbst beigebrachten schweren Kopfschussverletzung (Gehirnzerfetzung) auf. Die Waffe lag unmittelbar neben ihm; insgesamt hat er 115 Schuss abgegeben. Durch andere Angehörige der NVA wurden zu keiner Zeit auf C. Schüsse abgegeben. (Bei C. besteht nach erfolgter Operation weiter akute Lebensgefahr; bei Überleben wird jedoch Unzurechnungsfähigkeit bestehen bleiben.)
Die vom MfS geführten Untersuchungen zu den Ursachen und Umständen dieses Vorkommnisses ergaben bisher Folgendes:
Zu C. wurde bekannt, dass er in geordneten Familienverhältnissen aufwuchs. Sein Vater (1974 verstorben) war zuletzt Bauleiter in [Betrieb], seine Mutter arbeitet dort gegenwärtig noch als Angestellte. Nach Beendigung der Schule gab es mit C. Erziehungsschwierigkeiten. Er zeigte eine schlechte Einstellung zur Arbeit und trat mit rowdyhaften Handlungen in Erscheinung. Die 1971 aufgenommene Lehre als Meliorations-Baufacharbeiter konnte er wegen unbefugter Benutzung von Kfz und Diebstahlshandlungen nicht beenden. In der Zeit vom 4. Mai 1973 bis 5. Juli 1974 befand sich C. wegen Trunkenheit am Steuer und Widerstand gegen staatliche Maßnahmen in Jugendhaft.
Nach der Arbeitsaufnahme in [Betrieb] 1974 sprach C. stark dem Alkohol zu und zerstörte in einem Fall in angetrunkenem Zustand einen Betonmischer. Nach seiner Einberufung zur NVA wurde er wegen Nichteinhaltung dienstlicher Weisungen und Befehle – z. B. Alkoholgenuss und unerlaubte Entfernung – mehrfach disziplinarisch zur Verantwortung gezogen.
Im Ergebnis einer Ausgangsüberschreitung am 9. Dezember 1976 wurde er durch seinen Kommandeur mit vier Wochen Ausgangssperre bestraft.
Am 12. Dezember 1976 entfernte sich C. unerlaubt vom Objekt und begab sich zu seiner Familie nach [Ort]. Durch die DVP wurde er in seiner Wohnung festgenommen und an seine Einheit übergeben. Für diese unerlaubte Entfernung erhielt er am 22. Dezember 1976 weitere vier Wochen Ausgangssperre.
Aufgrund dieser Disziplinarstrafen bekam C. keinen Urlaub zu Weihnachten. C. war darüber sehr verärgert und machte dafür seine Vorgesetzten verantwortlich. Er äußerte in diesem Zusammenhang, dass er unbedingt nach Hause will, weil er in den letzten drei Jahren Weihnachten nie zu Hause gewesen wäre und sich seine Ehefrau von ihm scheiden lassen wolle. (Die Ehefrau hatte in einem Brief an den Kommandeur der Einheit ebenfalls darum gebeten, ihrem Ehemann Urlaub zu gewähren, was jedoch aufgrund der Disziplinarstrafen abgelehnt wurde. Den Antwortbrief des Kommandeurs hatte die Ehefrau dem C. übersandt.) Diese Entscheidung führte bei C. zu weiteren negativen Äußerungen über seine Vorgesetzten.
Am 25. Dezember 1976, gegen 4.00 Uhr wurde festgestellt, dass C. mit zwei weiteren NVA-Angehörigen in seiner Unterkunft alkoholische Getränke zu sich nahm und randalierte. C. stand zu diesem Zeitpunkt unter starkem Alkoholeinfluss. NVA-Angehörige, die ihn aufforderten, ruhig zu sein und sich hinzulegen, wurden von ihm mit einem Küchen- sowie einem Taschenmesser bedroht. Gegen den hinzugerufenen OvD wurde C. tätlich.
C. forderte den OvD auf, den Kommandeur zu benachrichtigen, da er mit diesem sofort sprechen will. Er brachte dabei zum Ausdruck, dass es unbedingt zu seiner Ehefrau und seinem Kind will. Dem C. wurde versprochen, den Kommandeur entsprechend zu verständigen, sodass sich dieser zunächst beruhigte. Obwohl sich C. danach nochmals im Stab erkundigte, ob der Kommandeur bereits eingetroffen sei, was verneint wurde, erfolgten keine weiteren Maßnahmen.
Als sich der OvD kurze Zeit später in die Unterkunft des C. begab, stellte er dessen Abwesenheit fest. C. hatte beim Verlassen des Unterkunftsobjektes geäußert, dass er sich zum Kommandeur begeben und diesen dazu zwingen will, ihm Urlaub zu gewähren.
Bevor durch den OvD entsprechende Maßnahmen zur Suche des C. eingeleitet werden konnten, erfolgten durch diesen die vorgenannten Handlungen.
Weitere Feststellungen zu möglichen Ursachen und Motiven der Handlungsweise des C. konnten bisher nicht getroffen werden.