Situation im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner«
4. November 1976
Information Nr. 753/76 über die gegenwärtige Situation im VEB Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« (KKW)
Wie dem MfS bekannt wurde, informierte der Leiter der sowjetischen Spezialistengruppe im KKW »Bruno Leuschner«, Gen[osse] [Name], mit Schreiben vom 29. April 1976 den Hauptingenieur des KKW, dass auf Empfehlung des Herstellerwerkes der Dampferzeuger und von Sojusglawsagranatomenergo der Druck in den Hohlräumen der Schutzkammer der Sammler (Kollektoren) in den Dampferzeugern der Blöcke 1 und 2 während der bevorstehenden planmäßigen Stillstände zu messen sei. Diese Forderung wurde von sowjetischer Seite nicht begründet und konnte von den Fachspezialisten der DDR nicht gedeutet werden. Zur Installierung der Druckmesssysteme übergab die sowjetische Seite im Juli 1976 die entsprechenden Dokumentationen.
Daraufhin erfolgte während der planmäßigen Revision des Blockes 2 im Juli/August 1976 an zwei Dampferzeugern die Montage der geforderten Druckmesssysteme. Aufgrund hoher Strahlenintensität in den betreffenden Anlageteilen und der zeitlichen Begrenzung der Revision konnte der Einbau der geforderten Druckmesssysteme an den restlichen vier Dampferzeugern der zum Block 2 gehörenden sechs Dampferzeuger nicht erfolgen.
Am 9. September 1976 kam es zu einer erneuten Abstimmung zwischen der sowjetischen Seite und der Leitung des KKW, in deren Ergebnis protokollarisch Folgendes festgelegt wurde:
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An den restlichen vier Dampferzeugern des Blockes 2 ist der Einbau der Druckmesssysteme während weiterer Stillstände 1976/77 vorzunehmen.
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Während des geplanten Stillstandes des Blockes 1 vom 1. bis 10. Oktober 1976 (planmäßige Instandhaltung) sind mittels Druckluft Dichtheitskontrollen bei den Dampferzeugern durchzuführen.
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Das Betriebspersonal hat bei Feststellung erhöhter Radioaktivität im Dampf und Wasser des 2. Kreislaufes sofort die Anlage außer Betrieb zu setzen.
Über die eigentlichen Gründe der erneuten sowjetischen Forderungen gab es zunächst keine offiziellen Begründungen. Aus persönlichen internen Gesprächen zwischen der DDR- und sowjetischen Seite ist bekannt geworden, dass im Sommer 1975 im KKW Nowoworonesh an einem Dampferzeuger Spannungsrisskorrosionen auftraten, in deren Folge ein Stillstand des betroffenen Kraftwerksblockes von ca. neun Monaten zu verzeichnen war.
Am 5. Oktober 1976 wurde dem VEB KKW ein weiteres Schreiben der Gruppe der sowjetischen Spezialisten übergeben, in dem u. a. zum Ausdruck kam, dass der sowjetische Generalprojektant die am 9. September 1976 abgestimmten Maßnahmen zwischen der DDR-Seite und der Gruppe der sowjetischen Spezialisten zur Betriebssicherheit des Blockes 1 für nicht ausreichend hält. In diesem Zusammenhang forderte der Generalprojektant nachdrücklich, neben den Dichtheitskontrollen an den Dampferzeugern des Blockes 1 den Einbau von Druckmesssystemen an den Schutzkammern der Kollektoren vorzunehmen. Außerdem sei eine Kontrolle auf eventuelles Vorhandensein von Wasser in den Schutzkammern durchzuführen.
Entsprechend den sowjetischen Forderungen wurden die Dampferzeuger des Blockes 1 überprüft und die Druckmesssysteme installiert.
Ersten Ergebnissen zufolge wurden am Dampferzeuger 5 insgesamt zwölf Undichtigkeiten an den Verbindungsschweißnähten der Schutzkammer und dem Kollektor festgestellt, wodurch bereits Wasser aus dem 2. Kreislauf in den Schutzraum eintreten konnte. Aufgrund dieser Feststellung wurden alle Dampferzeuger des Blockes 1 einer nochmaligen Überprüfung unterzogen, wobei am Dampferzeuger 5 auch Rissbildungen im Grundmaterial (austenitischer Stahl aus der UdSSR) des Kollektors (1. Kreislauf) unter den Verbindungsschweißnähten zwischen Schutzkammer und Kollektor von mindestens 1 cm Tiefe festgestellt wurden. (Ausgeschnittene Materialproben werden gegenwärtig im Zentralinstitut für Werkstoffkunde der Akademie der Wissenschaften der DDR untersucht.) Auch am Dampferzeuger 3 wurde Wassereintritt in die Schutzkammer aus dem 2. Kreislauf festgestellt. Das bedeutet, dass ebenfalls begünstigende Bedingungen für Spannungsrisskorrosion am Kollektor vorliegen.
Aus einer am 15. Oktober 1976 erfolgten Abstimmung zwischen dem sowjetischen Chefkonstrukteur und DDR-Spezialisten wurde die Bedeutung der geforderten Maßnahmen an den Dampferzeugern für die nukleare Sicherheit sichtbar und technisch begründet. Nach vorliegenden sowjetischen Erkenntnissen führt das Eindringen von Wasser aus dem 2. Kreislauf in die Schutzkammer (zusätzlicher Schutz des Kollektors des 1. Kreislaufes im Dampferzeuger an gefährdeten Berührungsstellen zwischen 1. und 2. Kreislauf) nach einem gewissen Zeitraum zu Spannungsrisskorrosionen am Kollektor des 1. Kreislaufes, wodurch keine hermetische Trennung zwischen 1. und 2. Kreislauf mehr besteht und somit die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung des 2. Kreislaufes gegeben ist.
Im Falle der Ausweitung der Rissbildungen am Kollektor zu einem Durchbruch kann mit dem größten anzunehmenden Unfall (GAU) im Kernkraftwerk gerechnet werden, d. h. die Zerstörung der Spaltzone und die Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe wäre dann unvermeidlich. Nach Hinweisen der sowjetischen Seite können auch an den Dampferzeugern des Blockes 2 gleiche technische Mängel auftreten. Aufgrund dieser Situation hat der Minister für Kohle und Energie am 3. November 1976 entschieden, den Block 2 zur weiteren Untersuchung der Dampferzeuger ab 4. November 1976 außer Betrieb zu nehmen. Nach gegenwärtigen ersten Einschätzungen können die Ursachen für das Auftreten von Rissen im Kollektor u. a. in der Schweißnahtgestaltung bestehen. Durch den Minister für Kohle und Energie wurde eine Schadenskommission unter Leitung des Stellvertreters des Ministers, Genossen Krause, zur weiteren Untersuchung der Schadensursachen und zur Schadensbeseitigung gebildet. Auf Anforderung des Ministeriums für Kohle und Energie werden am 9./10. November 1976 weitere sowjetische Spezialisten im VEB KKW erwartet.
Aufgrund der dargestellten Situation ist der Block 1 (440 MW) infolge des Ausfalls der Dampferzeuger 3 und 5 nur mit 220 MW in Betrieb. Die Außerbetriebnahme des Blockes 2 ab 4. November 1976 bedeutet einen weiteren Erzeugungsausfall von 440 MW. Damit stehen von der gegenwärtig installierten Leistung des VEB KKW von 880 MW nur 220 MW für die Versorgung zur Verfügung.
Daraus resultierend sind erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Elektroenergiebilanz der DDR zu erwarten. Zur Beherrschung des Versorgungsprozesses sind vom Ministerium für Kohle und Energie folgende Maßnahmen vorgesehen:
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stabsmäßige Leitung durch das Ministerium für Kohle und Energie/Staatliche Hauptlastverteilung,
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Erhöhung der außerplanmäßigen Importe aus dem Vereinigten Energiesystem »Frieden« und
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Inkraftsetzung des Stufensystems entsprechend der jeweiligen Elektroenergiesituation (verbrauchseinschränkende Maßnahmen).