Tagung der Synode der EKU in Westberlin, 21.–23.5.1976
8. Juni 1976
Information Nr. 423/76 über die Tagung der Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU ) in der BRD und Westberlin vom 21. bis 23. Mai 1976 in Westberlin
Dem MfS wurden Einzelheiten über den Verlauf der 1. Tagung der 5. Synode der EKU 1 in der BRD und Westberlin bekannt, die vom 21. bis 23. Mai 1976 im Johannisstift in Westberlin stattfand. (Es handelt sich dabei um die konstituierende Tagung dieser Synode, deren Legislaturperiode sich auf den Zeitraum vom 1. Mai 1976 bis 30. April 1982 erstreckt.)
An der Tagung, deren Thema »Anfechtung und Gewissheit des Glaubens« lautete, nahm als Gast aus der DDR der Präses der EKU -Synode in der DDR, Rechtsanwalt Waitz, aus Magdeburg teil.
In einem Grußwort an die Synode wies Waitz darauf hin, mit seinem Besuch nehme erstmals seit 1961 ein offizieller Kirchenvertreter aus der DDR an einer EKU -Synode in Westberlin teil. Er erinnere sich an die 1972 getroffene Entscheidung zur Aufgliederung der EKU in zwei selbstständige Bereiche und betonte, dieser Weg habe sich als richtig erwiesen. Die Entscheidungen der Bereichsräte in der DDR und im Westen seien sachgerechter und leichter geworden. In einer Reihe gemeinsamer Maßnahmen beider Räte habe man sich auf die Fragen konzentrieren können, die beide Teile gemeinsam angehen würden. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Gemeinsamkeit des Glaubens nicht unbedingt der Integration durch gemeinsame kirchliche Organe bedürfe. Die Gemeinsamkeit im Glauben und Dienst sei eher fester und wesentlicher geworden als vorher. Waitz hob hervor, die Entscheidung der DDR-Kirchen, Kirche nicht gegen oder neben, sondern in der sozialistischen Gesellschaft sein zu wollen, sei aus Glaubensgehorsam getroffen worden. Dieser Glaubensgehorsam sei ein entscheidendes Kriterium für die Mitarbeit der Christen in der Gesellschaft der DDR. Dieser Gesichtspunkt könne auch Maßstab für gesellschaftliches Verhalten und politisches Engagement der Christen im Westen sein.
Der Ratsvorsitzende der EKU , Präses Lic. Immer, führte in Bezug auf die Trennung und Zusammenarbeit der EKU -Bereiche in der BRD und der DDR u. a. aus, die Verantwortung werde ausschließlich für den eigenen Bereich getragen. Trotzdem bleibe die EKU als eine »verpflichtende Gemeinschaft« bestehen, und es müsse beständig für die Erhaltung und Förderung der »brüderlichen Gemeinschaft« gesorgt werden. Immer verwies darauf, dass »die Fähigkeit, aufeinander zu hören, von anderen zu lernen und ihm Beistand zu leisten«, seit der Trennung 1972 gewachsen ist. Es sei für die Kirche keine leichte Aufgabe, in zwei Bereichen, in zwei Staaten zu existieren. Die EKU im Bereich der DDR bemühe sich, als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft zu leben. Sie müsse ihren Weg selbstständig gehen.
Die besondere Gemeinschaft mit den Gliedkirchen der EKU der DDR, so betonte Immer nochmals, dürfe nicht vergessen und »müsse praktiziert« werden. Man sollte jedoch auch Fragen, was es »in dieser besonderen Gemeinschaft bedeute, wenn die führende Partei in der DDR die Abgrenzung der sozialistischen DDR von der kapitalistischen BRD in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sich als gesetzmäßigen Prozess entwickeln sieht, ob diese Gemeinschaft nicht auch diesem gesetzmäßigen Prozess unterliege und welche Folgerungen sich daraus ergeben«.
Aus den Dokumenten und Diskussionen der EKU -Synode gehe eindeutig hervor, betonte Immer, »dass die Führer der EKU West nicht bereit sind, den Verselbstständigungsprozess der beiden Bereiche zu Ende zu führen«. In der Erklärung des Berichtsausschusses zum Tätigkeitsbericht des Ratsvorsitzenden werde einer eindeutigen Abgrenzung mit folgenden Festlegungen entgegengetreten: »In der Geschichte der EKU hat der helfende, brüderliche Besuchsdienst immer eine besondere Rolle gespielt. Die Synode ist dankbar dafür, dass auch in der Gegenwart die Gemeinschaft über die Grenzen sich widersprechender Gesellschaftssysteme hinweg mithilfe solcher Besuche und Begegnungen – insbesondere mit den Berliner Bibelwochen – gefördert wird. Sie bittet die Leitungen der Gliedkirchen und die Gemeinden, die sich uns bietenden Möglichkeiten stärker zu nutzen.« (Punkt II,2 der Erklärung)2
Zur KSZE in Helsinki führte Präses Immer in seinem Bericht aus, dass man dankbar sei, weil »unsere beiden Regierungen« zu den Unterzeichnern gehören. Nach seiner Meinung habe man sich mit dem Ergebnis von Helsinki im Westbereich bisher zu wenig beschäftigt. Die Christen sollten die politischen Aufgaben nicht allein den Politikern, Wirtschaftlern und Sportlern überlassen. Die Kirche habe von ihrem Auftrag her eine Sache einzubringen, die »lebensnotwendig für die Zukunft menschlichen Lebens ist: die Proexistenz [!] für den Menschen«.
Immer ging in seinem Bericht weiter auf das Problem der Übersiedlung von Pfarrern ein. Er zitierte aus den Verlautbarungen der Bischöfe Schönherr/Berlin und Krusche/Magdeburg, die sich gegen solche Übersiedlungen richten, und stellte folgende Fragen: Was können und dürfen wir für die Mitarbeit im Verkündigungsbereich aus der DDR tun, die trotz der Warnung und gegen den Willen der Kirchenleitung in die Bundesrepublik kommen? Was heißt denn Solidarität mit den Mitgliedskirchen in der DDR? Wie beantworten wir die Frage nach der geistlichen Bedeutung der Ordination in unseren Kirchen? Worin besteht die Freiheit und die Gebundenheit eines Dieners am Wort?
In der Erklärung des Berichtsausschusses wird der Entscheidung der EKU -Kirchen in der DDR zu Pfarrern, die ohne Genehmigung ihrer Kirchenleitung in die BRD übersiedeln (wobei nicht differenziert wird zwischen legaler Übersiedlung und ungesetzlichem Verlassen der DDR) nur mit Vorbehalten zugestimmt und die Frage ihrer Wiedereingliederung in die westlichen EKU -Kirchen offen gelassen. Zu dieser Problematik heißt es in der Erklärung des Berichtsausschusses:
»Die 5. Synode beginnt ihre Amtszeit als eigenständige Bereichssynode, nachdem 1972 die Gliederung in zwei Bereiche beschlossen worden ist. Die zurückliegenden Jahre haben die Erfahrung gebracht, dass die gegenseitige Freigabe zu je eigenem Zeugnis und Dienst nicht zu einer Schmälerung der Gemeinschaft führen muss. Die Fähigkeit, aufeinander zu hören, vom anderen zu lernen und ihm Beistand zu leisten, ist gewachsen. Deshalb nehmen wir Entscheidungen von Kirchen des Bereichs DDR über den Verlust oder die Wiederbeilegung der in der Ordination begründeten Rechte und Pflichten auf und praktizieren Gemeinschaft, indem wir gegenseitig solche Entscheidungen verbindlich sein lassen.«
In der Aussprache zum Bericht des Ratsvorsitzenden wurden u. a. folgende Aspekte angesprochen:
- –
Prof. Dr. Wolfgang Schweizer, Bielefeld, übte Kritik an der Verwendung langer Zitate von Bischöfen der DDR. Er brachte zum Ausdruck, dass mit der Verwendung positiver Zitate aus der DDR man sich der Notwendigkeit, selbst etwas zu sagen, entziehen wolle.
- –
Prof. Franz Hesse, Münster, sprach sich gegen friedliche Koexistenz zwischen Christen und Atheisten aus.
- –
Prof. Dr. Erich Grässer, Witten-Bommern (Bochum), bezeichnete Immers Ausführungen als weniger profiliert als bei den DDR-Bischöfen. Er kritisierte, dass z. B. nicht die Berufsverbote in der BRD angesprochen wurden.
- –
Der ehemalige Präses Wilm, Espelkamp, verlangte von den kirchlichen Amtsträgern des Westens eine größere Ausnutzung der besser gewordenen Besuchsmöglichkeiten nach der DDR und kritisierte die hier vorhandene Trägheit.
- –
Superintendent Karzig, Westberlin, erinnerte in diesem Zusammenhang an den im nächsten Jahr in Westberlin stattfindenden Kirchentag. Er betonte, dieser Kirchentag müsste zu umfangreichen Besuchen der DDR-Hauptstadt ausgenutzt werden.
Während der Synode wurden Grußtelegramme an die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Südwestafrika und an die Evangelisch-Lutherische Kirche im südlichen Afrika sowie ein Appell an die Regierung Südafrikas verabschiedet. Bei der Abfassung des sogenannten Appells an die südafrikanische Regierung kam es zu grundsätzlichen politischen Auseinandersetzungen. In Anlehnung an die offizielle Haltung der Bonner Regierung gegenüber dem südafrikanischen Rassistenregime wurde der ursprünglich vorgeschlagene Text so geändert, dass anstelle »Namibia« die Bezeichnung »Südafrika« eingesetzt wurde. Die Forderung nach Aufhebung der Todesurteile wurde in eine Aufforderung zur Überprüfung der Urteile umgewandelt. (Wortlaut des Entwurfs und des verabschiedeten Appells siehe Anlage.)
Es ist einzuschätzen, dass die Diskussionsbeiträge und Ergebnisse der Synode der EKU -West insgesamt hinter den Aussagen des Tätigkeitsberichtes von Präses Immer zurückgeblieben sind und konservative Kräfte ihren Einfluss wesentlich geltend machen konnten.
[Handschriftlicher Zusatz:] Die Inf[ormation] ist nur zur persönlichen Auswertung bestimmt.
[Anlage 1 zur Information Nr. 423/76]
Entwurf des Appells an die Südafrikanische Regierung
»Mit tiefer Bestürzung haben wir erfahren, dass in einem Gerichtsverfahren in Swakopmund am 12. Mai 1976 vier Namibianer zu schweren Strafen verurteilt wurden, darunter sind zwei Todesurteile. Wir haben die große Sorge, dass diese Strafen zu einer Eskalation der Gewalt und Gegengewalt in Namibia führen und damit die Versöhnung verhindern werden, die die Menschen in Namibia brauchen, damit ihr Land seine Selbstständigkeit auf friedlichem Wege findet. In der Verbundenheit mit den Kirchen Namibias und den betroffenen und leidenden Menschen des Landes appellieren wir dringend an den Staatspräsidenten und die Regierung von Südafrika, die Urteile aufzuheben.«
[Anlage2 zur Information Nr. 423/76]
Verabschiedeter Wortlaut des Appells an die Südafrikanische Regierung
»Mit tiefer Bestürzung haben wir erfahren, dass in dem Gerichtsverfahren in Swakopmund am 12. Mai 1976 vier Angeklagte zu schweren Strafen, darunter zwei zum Tode, verurteilt worden sind, obwohl sie nicht einmal beschuldigt waren, selbst den Mord begangen zu haben. Wir haben die große Sorge, dass solche Strafen zu einer Eskalation von Gewalt und Gegengewalt führen und damit die Versöhnung verhindern werden, die alle Menschen dieses Landes brauchen, damit sie die Zukunft in ihrem Lande auf friedlichem Wege erreichen. In der Verbundenheit mit den Kirchen und den Menschen des Landes appellieren wir dringend an den Staatspräsidenten und die Regierung von Südafrika, die Urteile nicht vollstrecken, sondern eine Überprüfung der Urteile herbeiführen zu lassen.«