Weitere Reaktionen auf die Ausbürgerung Biermanns
25. November 1976
Information Nr. 817/76 über weitere Reaktionen von Verbindungen Biermanns in der DDR
Dem MfS wurde intern bekannt, dass am 22. November 1976, 20.00 Uhr, in der Wohnung von Stephan Hermlin eine »Beratung« stattfand, an der neben Hermlin Stefan Heym, Jurek Becker, Volker Braun, Christa und Gerhard Wolf, Sarah Kirsch, Günter Kunert sowie Rolf Schneider und Ehefrau teilnahmen. (Mit Ausnahme der Ehefrau Schneiders haben alle aufgeführten Personen die sogenannte erste Protestresolution unterzeichnet.)1
Ziel dieser Zusammenkunft war die gegenseitige Informierung über die mit ihnen geführten Aussprachen seitens leitender Funktionäre des Partei- und Staatsapparates der DDR, die Festlegung des weiteren gemeinsamen abgestimmten Vorgehens und die Erörterung zur Erarbeitung einer bisher nicht näher bekannten »Erklärung« der Beteiligten nach Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Biermann, die im Namen der Unterzeichner der ersten »Protesterklärung« zu einem noch zu vereinbarenden Zeitpunkt veröffentlicht werden solle.
Die Zusammenkunft fand auf Initiative Hermlins statt. Er informierte zu Beginn der »Beratung« ausführlich über das Gespräch beim Generalsekretär des ZK der SED,2 von dem er sich sehr beeindruckt zeigte und den Eindruck hinterließ, dass seine Wertschätzung für den Genossen Honecker noch gestiegen sei. Hermlin betonte, dass eine Wiedereinreise Biermanns nicht zur Debatte stehe.
Volker Braun habe nach dem »Bericht« Hermlins vorgeschlagen, eine gemeinsame Erklärung abzugeben und in »Neues Deutschland« zu veröffentlichen, in der eine Distanzierung vom »Missbrauch der ersten Erklärung – Protestresolution – durch die westlichen Massenmedien« erfolgen sollte.3
Daraufhin habe sich eine sehr erregte Diskussion unter den Anwesenden entwickelt, in deren Ergebnis es infolge Unsachlichkeit einzelner sowie gegensätzlicher Meinungen und Differenzen zu diesem Vorschlag nicht zur Verabschiedung einer Erklärung kam, wobei jedoch offen gelassen wurde, das Gespräch mit diesem Ziel fortzusetzen.
In der Diskussion habe besonders Heym mehrfach unqualifizierte, aus dem Zusammenhang gerissene Zwischenbemerkungen gemacht. Er habe wiederholt in großer Erregung die Befürchtung geäußert, dass man selbst in die Situation Biermanns kommen könnte. Er sei von Hermlin, der sich in dieser »Beratung« sachlich gegeben habe, »gebremst« worden.
Jurek Becker, der nach wie vor offen seine Sympathie für Biermann bekundete, sei in der Beratung keinerlei Argumenten zugänglich gewesen, habe erregt und lautstark abgelehnt, zurückzuweichen und den Anwesenden gedroht, seine Ausreise zu fordern, falls Biermann nicht einreisen dürfe.
Becker ließ durchblicken, in der DDR sollte berücksichtigt werden, dass die DDR »in den Geruch des Antisemitismus« kommen könnte, da er, Heym, Biermann u. a. jüdischer Abstammung seien.
Christa Wolf4 habe den Vorschlag, eine gemeinsame Erklärung zu unterschreiben, strikt abgelehnt. Sie habe wiederholt sehr verärgert geäußert, zunächst müsse eine Erklärung zur Stellungnahme von Otto Gotsche erfolgen (»… Leute, die unter einem geteilten Himmel leben …«),5 in der sie »eine direkte persönliche Beleidigung und Drohung« erblickte.
Rolf Schneider brüskierte offensichtlich den Vorschlag Volker Brauns, eine gemeinsame Erklärung abzugeben und verwies nachhaltig darauf, man sei jetzt »eine Gruppe, die sich weiter organisieren muss«. Besonders die Betonung Schneiders darauf, er wolle die Gruppe als Organisation verstanden wissen, habe bei den Beteiligten Befremden und Misstrauen hervorgerufen.
In der Beratung sei zum Ausdruck gekommen, dass die Beteiligten – offensichtlich ausgelöst durch die mit ihnen geführten Aussprachen – versuchen, in gegenseitigen Argumentationen die politische Bedeutung der »Protesterklärung« herunterzuspielen. Einige Teilnehmer befürchteten eine »Verhärtung des kulturpolitischen Kurses unserer Partei«.
Ferner sei in der Beratung übereinstimmend betont worden, in der Haltung und Stimmung bestimmter Schriftsteller in der DDR sei eine gewisse Trotzreaktion festzustellen, da ihre Werke in der DDR z. T. nicht veröffentlicht worden seien.
Wie intern weiter bekannt wurde, äußerte sich Becker nach der Beratung gegenüber Plenzdorf, das Resultat der Zusammenkunft sei »nicht nennenswert«. Sie hätten sich gegenseitig versichert, dass sie im Grunde doch alle »prima Kerle« seien. Auf jeden Fall wäre es ein »Abwickeln der Geschäfte«, was an den Standpunkten nichts geändert hätte.
Stefan Heym hatte bereits vor dieser Beratung in Gesprächen mit Stephan Hermlin und Jurek Becker geäußert, er sei zu der Überzeugung gelangt, jetzt werde gegen die 13 Unterzeichner der ersten »Protesterklärung« massiv Front bezogen; alles laufe darauf hinaus, sie mit der hauptsächlichen Begründung, die »Protesterklärung« der Westpresse übergeben zu haben, »anzugreifen«. Dagegen müsse man sich wehren und Stellung beziehen. Heym unterstützte Beckers Einwurf, dass dies erneut nur unter Ausnutzung der Westpresse möglich sei.
Stefan Heym setzte sich im Anschluss an diese Gespräche mit der Lektorin Ingrid Grimm vom Bertelsmann Verlag München in Verbindung und informierte darüber, dass jetzt die »Kampagne gegen die Unterzeichner eingeleitet« worden sei. Er forderte sie auf, mit ihren Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass in westlichen Massenmedien deutlich betont werde, »Neues Deutschland« sei drei Stunden vor den Westagenturen in Kenntnis gesetzt worden. Er wies die Grimm darauf hin, Berichte über die oben genannte Kampagne mit den Worten zu beginnen: »In Kreisen der Schriftsteller wird gesagt …«
Die Linie der Abwertung der ersten »Protestresolution« wurde von Hermlin und Becker (reagierte nicht wieder so erregt wie auf der vorstehend genannten Zusammenkunft bei Hermlin) auch auf der Mitgliederversammlung der Parteiorganisation des Berliner Schriftstellerverbandes am 23. November 1976 vor ca. 90 Mitgliedern weiterverfolgt.6 Sie versuchten das Verhalten der Unterzeichner der sogenannten ersten Protestresolution in seiner Bedeutung herabzuspielen, da sie die Auswirkungen nicht beabsichtigt hätten.
Christine Biermann geht regelmäßig ihrer Studientätigkeit an der Humboldt-Universität nach. Sie erwartet die »Zustellung eines offiziellen staatlichen Dokumentes, in dem bestätigt wird, dass ihrem Ehemann die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt wurde«.
Sie unterhält zu Rechtsanwalt Dr. Götz Berger Kontakt, der ihr den Vorschlag unterbreitete, eine Eingabe an den Rechtsausschuss der Volkskammer einzureichen, darin die »Unzulässigkeit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft des Biermann nachzuweisen« und die Möglichkeit [von] dessen Wiedereinreise zu fordern. Christine Biermann erklärte sich mit diesem Vorschlag einverstanden.
(In diesem Zusammenhang wird auch auf das Schreiben des Berger an das ZK der SED vom 23. November 1976 verwiesen, in dem sich Berger voll hinter die feindliche Position des Biermann stellt und die Parteiführung auffordert, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft Biermanns aus angeblich mangelnden rechtlichen Grundlagen »zu überdenken«.)
Christine Biermann sucht Rat bei Stefan Heym und Jurek Becker und ist laufend mit Meinungen der Eva-Maria Hagen, Sibylle Havemann und Nina Hagen konfrontiert.
In einem persönlichen Gespräch mit Jurek Becker ging Christine Biermann auf eine Unterredung ein, die sie mit Hermlin hatte, und betonte, Hermlin habe ihr – eingehend auf die mit ihm durch Genossen Honecker geführte Aussprache – zu verstehen gegeben, an eine »vorläufige« Rückkehr Biermanns sei nicht zu denken; jedoch bestünde die Aussicht, dass jemand in die BRD fahren und mit Biermann sprechen könne. Hermlin habe nicht ausgeschlossen, dass ihr in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Reise in die BRD zur Regelung persönlicher Angelegenheiten mit Biermann genehmigt werde.
Becker vertrat der Biermann gegenüber ebenfalls die Auffassung, dass Biermann »für lange Zeit nicht zurückkehren« dürfe (wenn ja, werde sie »eine alte Frau sein und die Ehe nicht mehr existieren«). Diese Schlussfolgerung müsse auch aus dem Verlauf der Parteiversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes am 23. November 1976 gezogen werden. Er betonte weiter, in der Aussprache, die Genosse Prof. Hager mit ihm geführt hat, habe er diesem vorgeschlagen, ihn zu einem Gespräch mit Biermann in die BRD reisen zu lassen.
Rolf Schneider wurde von Dr. Bräutigam von der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR zu einem »Weinabend« (nähere Angaben noch nicht bekannt) eingeladen. Schneider sagte zu, nachdem er erfahren hatte, dass noch weitere DDR-Bürger anwesend sein werden.
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