Weitere Reaktionen auf die Ausbürgerung Biermanns
[ohne Datum]
Information Nr. 876/76 über weitere Reaktionen von Verbindungen Biermanns und anderer Kulturschaffender in der DDR
Dem MfS wurden Reaktionen von Verbindungen Biermanns und anderen Kulturschaffenden in der DDR bekannt, die insbesondere nach der Durchführung der Mitgliederversammlung der Parteiorganisation des Berliner Schriftstellerverbandes sowie im Zusammenhang mit den in diesen Personenkreisen geführten Aussprachen und durchgeführten Maßnahmen von Bedeutung sind.
Stephan Hermlin äußerte in den letzten Tagen mehrfach, ihn bedrücke nach der Versammlung der Gedanke, dass er »hereingelegt wurde«, da seine Stellungnahme jetzt »herumgereicht« werde. Christa Wolf und Günter Kunert gegenüber brachte er zum Ausdruck, ihm bliebe nichts weiter übrig, als seine Erklärung1 offiziell zu widerrufen und aus der Partei auszutreten. Diesen Schritt wolle er sich nach dem 4. Plenum »noch überlegen« und bekanntgeben, er sei »überfahren worden«. (Nach vorliegenden Hinweisen ist zwischenzeitlich ein Brief des Hermlin bei der Parteileitung des Berliner Schriftstellerverbandes eingegangen, in dem er seine Erklärung vom 4. Dezember 1976 für »null und nichtig« erklärt.)
Hermlin ließ die Absicht durchblicken, erneut einen Brief an Genossen Honecker zu richten, in dem er sein Nichteinverständnis mit Entlassungen bekannter Schauspieler deutlich machen wolle.
Hermlin verhält sich gegenwärtig zurückhaltend und lehnte westlichen Journalisten gegenüber Interviews und Filmaufnahmen ab.
Stefan Heym, der seit dem 7. Dezember 1976 bemüht war, Details über den Verlauf der Parteiversammlung in Erfahrung zu bringen, hält sich seitdem außerordentlich zurück. Ersuchen westlicher Journalisten um Interviews lehnte er ab, »da er es für falsch hält, alles noch einmal zu wiederholen«. In Gesprächen mit Becker äußerte er, das »Herausbrechen« Hermlins sei »deprimierend«.
Jurek Becker unterhält weiterhin regen Kontakt zu zahlreichen Unterzeichnern der »Protesterklärung« und Sympathisanten, der sich in gegenseitigen Besuchen und zahlreichen Gesprächen ausdrückt. Becker versucht in allen Fällen, die Meinungen der Betreffenden zu den letzten Ereignissen in Erfahrung zu bringen. (Gespräch mit Heym, Frank Beyer, Moese, Gorges, Krug, Eva-Maria Hagen u. a.). Besonders in den letzten Tagen unternahm Becker Aktivitäten (überwiegend Einladungen), um »das Gespräch nicht abreißen zu lassen«.
Bemerkenswert ist, dass sich Wolfgang Schreyer2 unmittelbar vor der Formulierung seines »Protestschreibens« am 4. und 6. Dezember 1976 mit Heym und teilweise mit Becker konsultiert hatte.
Sarah Kirsch äußerte wiederholt ihre »Enttäuschung« über das Verhalten Hermlins, auf den sich nun »niemand mehr verlassen« könne. In einem anderen Gespräch erklärte sie, Hermlin »hat uns alle in den Eimer gehauen«; er habe offenbar schon vor der Parteiversammlung gewusst, dass er in der Partei bleibe, während andere ausgeschlossen würden.
In diesem Zusammenhang betonte Karl-Heinz Jakobs gegenüber Sarah Kirsch, Hermlin hätte merken müssen, wie er »ausgetrickst« worden sei. Es wäre »mit zweierlei Maß gemessen« worden. Das sei »ungeheuer«, wo doch Hermlin »der große Rädelsführer« gewesen wäre. Sarah Kirsch bestätigte diese Meinung und betonte, es habe gut angefangen, und Hermlin habe »alles in der Hand« gehabt. In einem anderen Gespräch fand die Kirsch ihre Streichung aus der Partei »als größten Witz«, nach dem sie »viel ruhiger schläft«.
»Ungehalten« sei die Kirsch über die Veröffentlichung von Hacks in der »Weltbühne«3, die sie als »ungeheuerlich« finde, sodass »man etwas unternehmen müsse«. Ihr sei bekannt, dass Hacks über den Gen[ossen] Verner ein Gedicht »in der Schublade« habe, das dem von Biermann »in nichts nachstehen« würde. Sie sehe Möglichkeiten, eine Abschrift zu beschaffen und zu verbreiten, um Hacks damit zu schaden.
Im Zusammenhang mit der Reaktion der Kirsch auf ihre Streichung aus der Partei und ihren danach angestrebten Kontakten und Gesprächen zu zahlreichen Teilnehmern der Versammlung äußerte u. a. Gerhard Wolf in verschiedenen Gesprächen, Sarah Kirsch sei »politisch nicht ganz zurechnungsfähig«, was unwidersprochen blieb.
Christa Wolf hält sich gegenwärtig zurück und stellte keine neuen Kontakte her. Mehrfach äußerte sie, von der Partei erwarte sie das gleiche »Strafmaß« wie ihr Ehemann. Sie habe vor, rechtzeitig vor der nächsten Parteiversammlung einen Brief »an zuständige Stellen« schreiben zu wollen.4
Eva-Maria Hagen, Sibylle Havemann, Bettina Hindemith und [Name] halten nach wie vor enge Kontakte zu Christine Biermann, wobei sie eine sogenannte beratende Position, besonders hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Ehe mit Biermann, einnehmen. Die Hagen und Havemann stehen häufig mit Biermann in telefonischem Kontakt, ermuntern ihn zu weiteren »Konzerten« und unterrichten ihn im Detail über ihn interessierende Ereignisse aus ihrem Umgangskreis.
Eva-Maria Hagen informiert mehrfach über ihre Entlassung beim Fernsehen der DDR, bei der ihr »Sachen vorgeworfen wurden, die man nicht in den dunkelsten Träumen erfinden kann«. Sie habe vor, beim Arbeitsgericht Klage zu erheben. Im anderen Falle betonte sie, sie wisse nicht, wie es weitergehen solle; sie wäre aber entschlossen, die Verbindung zu Biermann aufrechtzuerhalten. Sie habe vor, einen Brief an den Gen[ossen] Honecker zu schreiben. Der Schauspieler [Ingolf] Gorges habe die gleiche Absicht geäußert.5
Sibylle Havemann ist der Meinung, mit ihrer Exmatrikulation sei ihr »großes Unrecht geschehen«. Sie wird in dieser Meinung besonders von Bettina Hindemith und […] bestärkt, zumal sich zur Hindemith ein engeres Verhältnis gebildet hat. Sibylle Havemann stellt in allen Fällen die Begründung ihrer Exmatrikulation falsch dar und betont, in der DDR würden alle Weisungen »von oben« kommen; ihre Dozenten in Jena seien anderer Meinung und »nur die Ausführenden«. Die Havemann äußerte die Absicht, ihre Ausreise in die BRD zu beantragen; sie wolle es aber durchdachter vorbereiten, sodass es nicht zur überstürzten Handlung wie bei Nina Hagen käme.
Intern wurde die Absicht Reiner Kunzes bekannt, einen Brief an den Gen[ossen] Honecker zu schreiben. Darin wolle er zum Ausdruck bringen, in der DDR »geschehe gnadenlos Unrecht«; deshalb wolle er bitten, zu verhindern, »dass denjenigen, die sich für Biermann geäußert haben, weiterhin Leid zugefügt und auch der Hausarrest gegen Havemann aufgehoben wird«.6
Die Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.