Weitere Reaktionen zum Ausschluss von Reiner Kunze aus dem SV
15. November 1976
Information Nr. 789/76 über weitere Reaktionen zum Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR
In Ergänzung der Information 765/76 vom 9. November 1976 wurden weitere interne Hinweise über Reaktionen verschiedener Schriftsteller der DDR und einiger im Verlagswesen Tätiger zum Ausschluss des Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband der DDR bekannt.
Aufgrund dieser Hinweise ist einzuschätzen, dass der Ausschluss Kunzes vom überwiegenden Teil der Schriftsteller der DDR akzeptiert wird. Eine Reihe als progressiv und parteiverbunden einzuschätzende Schriftsteller begrüßen und unterstützen den Ausschluss. Sie verbinden damit die Hoffnung, dass diesem Schritt weitere staatliche Maßnahmen gegen Kunze und ähnliche feindlich eingestellte Kulturschaffende folgen werden. Auch Schriftsteller, die in der Vergangenheit mehrfach politische Schwankungen erkennen ließen und negativ auftraten, akzeptieren den Ausschluss und verbinden damit z. T. ihre Distanzierung von Kunze. In einigen Fällen äußern Schriftsteller, die durch ihr negatives Auftreten bereits bekannt sind, ihren Unwillen und ihr Nichteinverständnis mit dem Ausschluss Kunzes.
Die Mitglieder der Parteileitung des Berliner Schriftstellerverbandes erklärten auf einer Beratung am 8. November 1976 einmütig ihr völliges Einverständnis mit dem Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband. Bedenken gab es jedoch, ob die Nichtveröffentlichung des Buches »Der Löwe Leopold«1 von Kunze, nachdem sein Erscheinen bereits angekündigt worden war, richtig sei, da dies für den Autoren materielle Nachteile zur Folge hat. Diese Tatsache könnte sowohl seitens der BRD als auch von Kunze selbst gegen die DDR verwandt werden.
In individuellen Gesprächen stellt sich das Mitglied des Präsidiums des Schriftstellerverbandes Helmut Sakowski voll hinter Kunzes Ausschluss. Darüber hinaus äußerte er, er müsse der von Erwin Strittmatter geäußerten Ansicht beipflichten, wonach Kunzes Ausschluss aus dem Schriftstellerverband nur der erste Schritt sein könne, dem weitere Maßnahmen folgen müssten, die nicht mehr allein vom Schriftstellerverband abhängig seien. Er habe schon vor Jahren immer wieder führende Genossen der Partei darauf aufmerksam gemacht, wohin eine Kulturpolitik führe, »die alles bemäntele und Konflikte, die objektiv vorhanden sind, nicht zur Kenntnis nehme oder nicht wahrhaben wolle«.
Die richtige Forderung der Partei auf ständige und konsequente Auseinandersetzungen mit bürgerlichen Auffassungen werde durch »das Nachgeben gegenüber den Forderungen solcher Leute, wie zum Beispiel Kunze, aber auch Schlesinger, Heym und anderen, erschwert«. Das beziehe sich sowohl auf Veröffentlichungen von Büchern in der BRD und die Gewährung von Reisen in das kapitalistische Ausland als auch auf die Endgegennahme von Preisen und anderen Würdigungen durch westliche Institutionen. So entstehe der Eindruck, dass deren erpresserischem Druck nachgegeben werde.
Auch die Schriftsteller Eberhard Panitz, Peter Edel, Gisela Steineckert, Ruth Werner und Peter Abraham – alle Mitglieder des Vorstandes des Berliner Schriftstellerverbandes – sind der Ansicht, dass Kunzes Ausschluss eine »dringende Notwendigkeit« gewesen sei, auch wenn er »den einen oder anderen schmerze«. An weitere konsequente Maßnahmen gegenüber Personen wie Kunze, »die diesem ersten Schritt zwingend folgen müssten«, könnten sie jedoch »nicht recht glauben«. Ihre ehrlichen Absichten, sich mit Kollegen wie Plenzdorf und anderen offen und parteilich im Verband auseinanderzusetzen, hätten in der Vergangenheit nicht die notwendige Unterstützung gefunden.
Gisela Steineckert äußerte in diesem Zusammenhang, der Vorschlag, Plenzdorf nicht wieder in den Vorstand des Berliner Verbandes zu wählen, sei durch die Bezirksleitung der SED Berlin nicht gebilligt worden. Dabei gehörten dem Vorstand des Berliner Verbandes Personen wie Ulrich Plenzdorf, Volker Braun, Jurek Becker, Sarah Kirsch und Dieter Schubert an, mit denen in der Vergangenheit fortgesetzt Auseinandersetzungen zu und über deren politisch-ideologische Haltung geführt werden mussten.
Im Zusammenhang mit diesen Äußerungen stellte Peter Edel fest, der Ausschluss von Kunze sei richtig, stünde jedoch im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise bei Wolf Biermann, dem Ausreisen in die BRD gestattet würden, obgleich er zusammen mit seinen Freunden im Westen die DDR ständig verleumde und angreife. Bei ihm würden auch die Statuten des PEN nicht konsequent angewandt, um ihn aus dem PEN der DDR auszuschließen. Für ihn – Edel – gebe es keinen Zweifel an der Richtigkeit der Beschlüsse des VIII. und IX. Parteitages unserer Partei, und er identifiziere sich mit der Forderung, um jeden beharrlich zu ringen. Wo diese Bemühungen jedoch erfolglos bleiben, wie bei Kunze, Plenzdorf und Schlesinger, sollte man sich rechtzeitig von solchen Personen trennen und auch vor Konsequenzen nicht zurückschrecken. Es sei für ihn als alter Kommunist enttäuschend, »wenn über längere Zeit solche Konsequenzen nicht praktiziert würden«.
Im individuellen Gespräch äußerte der Schriftsteller Günther Deicke (Mitglied des Hauptausschusses der NDPD) volle Zustimmung zum Ausschluss des Kunze. Er habe sich über die Haltung von Kunze informiert und sei zu der Ansicht gekommen, dass dieser »bedeutend weiter gehe als die Konterrevolution 1968 in der ČSSR«. Aus diesem Grund würde er es begrüßen, wenn sich die DDR entschließen könnte, Kunze auszuweisen.2
Der Schriftsteller Herbert Otto, Vorsitzender des Schriftstellerverbandes Bezirk Potsdam, äußerte, der Ausschluss Kunzes aus dem Verband sei längst fällig gewesen, jetzt müsse aber in der DDR das Problem Biermann gleichfalls gelöst werden; es dürfe auf keinen Fall wegen Kunze in den Hintergrund treten.
In individuellen Gesprächen brachten die Cheflektorin des Aufbau Verlages, Ruth Glatzer, die Lektorin dieses Verlages [Name] und die Mitarbeiterin der HV Verlage und Buchhandel, [Name], [über]einstimmend ihre Genugtuung zum Ausschluss des Kunze zum Ausdruck. Sie befürchten allerdings, der Ausschluss Kunzes aus dem Schriftstellerverband könne eine weitere Aufwertung seiner Person im nichtsozialistischen Ausland zur Folge haben, aus der Kunze Vorteile ziehe.
Der Chefredakteur von »Neue Deutsche Literatur« (NDL), Walter Nowojski, äußerte intern, er habe das Buch von Reiner Kunze »Die wunderbaren Jahre« gelesen und finde, »dass es schlimmer nicht gehe«.3 Kunze schlage nicht irgendeinen »demokratischen Sozialismus« vor, sondern jeder Satz, den er schreibe, sei vom Hass gegen den Sozialismus durchtränkt. »Der Mann hat Schaum vor dem Mund, wenn er über uns und den Sozialismus schreibt.«
Auch bisher Kunze-freundlich eingestellte Schriftsteller missbilligen die Haltung Kunzes.
So bezeichnete der Schriftsteller Franz Fühmann Kunzes in der BRD erschienenes Buch »Die wunderbaren Jahre« als »ein künstlerisch und in seiner politischen Aussage und Wirkung äußerst schlechtes Buch«. Er sei ein Freund und Fürsprecher von Kunze gewesen, könne aber in diesem Falle mit ihm in keiner Weise konform gehen. Kunze habe mit diesem Buch sich und seinen Freunden einen schlechten Dienst erwiesen. Die Entscheidung des Schriftstellerverbandes zu Kunzes Ausschluss sei legitim.
Christa Wolf erklärte in einem individuellen Gespräch, sie und ihr Ehemann seien mit dem von Kunze geschriebenen Buch »Die wunderbaren Jahre« nicht einverstanden und lehnen es ab. Kunze sei nach dieser Veröffentlichung »nicht mehr zu retten«. Das Ehepaar Wolf habe davon Abstand genommen, einen bei Kunze angekündigten Besuch zu verwirklichen, da Kunze eine derartige freundschaftliche Geste möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt für sich und damit gegen das Ehepaar Wolf benutzen könnte. Mit dieser Entscheidung hätten sie und ihr Mann den Kontakt zu Kunze abgebrochen und sich von ihm distanziert.
Der Schriftsteller Rolf Schneider (der häufig starke Vorbehalte gegenüber der Kulturpolitik unserer Partei äußert und bereits mehrfach negativ in Erscheinung trat) verurteilt Kunzes Auftreten und dessen Buch ebenfalls. Er äußerte, Kunze könne von ihm keinerlei Unterstützung erwarten.
Es liegen weitere interne Hinweise über Äußerungen solcher Schriftsteller vor, die den Ausschluss Kunzes aus dem Schriftstellerverband verurteilen und demonstrative Proteste dagegen erwägen.
So äußerte Stefan Heym, er habe einen Brief an das Präsidium des Schriftstellerverbandes der DDR und eine Zweitschrift des Briefes an den Generalsekretär der SED, Genossen Erich Honecker, geschrieben und per Einschreiben am 9. November 1976 abgeschickt. Er habe darin u. a. formuliert, man solle doch bedenken, ob diejenigen, die den Ausschluss Kunzes veranlasst haben, der DDR nicht mehr Schaden zugefügt hätten als Reiner Kunze selbst.4
Auch Günter Kunert habe einen »Protestbrief« formuliert, den er an die Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, Anna Seghers, richten wolle.5 Durchschriften des Briefes wolle er an das ZK der SED und das Ministerium für Kultur senden.
Heym und Kunert beabsichtigen am 12. November 1976 in der Wohnung Kunerts ein Zusammentreffen, an dem auch der BRD-Schriftsteller Max Frisch teilnehmen wolle, um sich über das Problem Kunze weiter zu unterhalten.
Jurek Becker äußerte in verschiedenen internen Gesprächen, die Angelegenheit Kunze sei tatsächlich »eine schlimme Sache«. Er sei aber nach wie vor der Meinung, der Tatbestand des Ausschlusses sei trotzdem nicht gerechtfertigt, und er habe deshalb in einem Brief an das Präsidium des Verbandes gegen den Ausschluss protestiert. (In diesem »Brief« von Jurek Becker, der am 11. November 1976 beim Präsidium des Schriftstellerverbandes der DDR eintraf, heißt es u. a.:
»Ich will nicht verhehlen, dass dieser Ausschluss interpretierbar ist als ein Versuch der Einschüchterung derjenigen Schriftsteller, die in wesentlichen Fragen anders denken als die Mitglieder des Präsidiums des Verbandes. Ich schreibe diesen Brief also nicht so sehr um Reiner Kunzes willen, wie vielmehr in eigener Sache. Für meine Begriffe gibt es nur eine Möglichkeit, diesen fatalen Eindruck – der, wie ich mit Sicherheit weiß, nicht nur mein persönlicher ist – zu beseitigen, den Ausschluss Reiner Kunzes zu revidieren. Ich sehe den Ausschluss Reiner Kunzes als grobe Repressalie an«.)6
Klaus Schlesinger zeigt großes Interesse an Einzelheiten über den Ausschluss Kunzes und versucht, andere durch ihre Antihaltung zur Kulturpolitik der DDR bekannte Schriftsteller auf ihre Meinung abzutasten. Er erklärte, gegenwärtig sei alles in »Panikstimmung«, und man dürfe die »Sache mit dem Ausschluss Kunzes nicht einfach vorbeiziehen lassen«. Er habe erfahren, dass nicht nur die Veröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre« in der BRD der Grund für den Ausschluss Kunzes aus dem Verband sei, sondern »noch andere Dinge eine Rolle gespielt haben«. In diesem Sinne sprach Schlesinger auch mit Ulrich Plenzdorf, der jedoch nur davon Kenntnis nahm und sich nicht äußerte.
Reiner Kunze hielt sich seit dem Ausschluss aus dem Bezirksverband Erfurt/Gera des Schriftstellerverbandes der DDR am 29. Oktober 1976 vorwiegend in seinem Heimatort Greiz bzw. in Leiningen, wo er »literarische Arbeiten« anfertigt, auf. Veranstaltungen, die er Ende Oktober 1976 im Rahmen der »Evangelischen Studentengemeinde« und der »Katholischen Studentengemeinde« geplant hatte, wurden durch ihn abgesagt.
Nach bisher vorliegenden internen Hinweisen ist sowohl von mit Kunze Sympathisierenden als auch von ihm selbst beabsichtigt, Zusammenkünfte im kleinen Kreis zu organisieren, in denen Kunze auftritt bzw. aus seinen »Werken« liest.
Soweit es sich um organisierte, genehmigungspflichtige Veranstaltungen handelt, wird darauf Einfluss genommen, dass die zuständigen staatlichen Organe die Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen vom 26. November 1970 (GBl. II Nr. 10/1971) konsequent durchsetzen.
Durch das MfS sind Maßnahmen eingeleitet, mögliche Vorhaben Kunzes und der mit ihm Sympathisierenden weiter aufzuklären und unter Kontrolle zu halten.