Westliche Meldungen zum Tod von Michael Gartenschläger
4. Mai 1976
Zusammenfassung westlicher Agentur-, Rundfunk- und Pressemeldungen zur Grenzprovokation und zum Tod des Grenzprovokateurs Gartenschläger [Bericht O/24]
1. Hinweise auf Kenntnis Bonner und Schleswig-Holsteiner Behörden von der beabsichtigten Grenzprovokation des Gartenschläger
Der DLF verbreitete am 30. April 1976 in seinem Frühkommentar von Walter Fredericia, der sich mit »möglichen strafrechtlichen Folgen« befasst, »die der Abbau von Selbstschussanlagen in der BRD haben kann«, die Meldung, dass der ehemalige DDR-Bürger Michael Gartenschläger im Verdacht stehe, im Nordabschnitt der DDR-Grenze bei Büchen »einen zweiten Selbstschussautomaten demontiert und entwendet« zu haben. Er habe schon »in der Nacht zum 30. April 1976 den ersten Automaten beschafft und dem Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹ zur Untersuchung übergeben«.
Gegen Gartenschläger sei von der Staatsanwaltschaft Lübeck deshalb »ein Ermittlungsverfahren eingeleitet« worden, in dem geprüft werde, »ob ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorliegt, das heißt, ob das Mitführen eines solchen Selbstschussgerätes mit unbefugtem Waffentragen verglichen werden kann. Außerdem ist zu fragen, ob es sich um Diebstahl handelt.«
Wie der Kommentator Fredericia berichtet, hat der von ihm zu den eingeleiteten strafrechtlichen Maßnahmen befragte Schleswig-Holsteiner Justizminister, Dr. Henning Schwarz, »vor weiteren Aktionen an der Grenze« gewarnt und sie »als lebensgefährlich« bezeichnet … »Da die DDR-Behörden die unbegrenzte Möglichkeit haben, entwendete Geräte durch neue zu ersetzen«, könnten »weitere tollkühne Unternehmen dieser Art im Schussfeld der Grenztruppen durchaus nicht mehr zur Entschärfung der widernatürlichen Grenze beitragen. Eine Mutprobe sollte jedenfalls aus der Möglichkeit, DDR-Automaten zu beseitigen, nicht gemacht werden.«
DPA berichtet am 1. Mai 1976 unter Berufung auf Angaben des Bundesministeriums für »innerdeutsche« Beziehungen, dass Gartenschläger von Grenzsicherungskräften der DDR erschossen worden sei, als »er offensichtlich erneut einen Selbstschussapparat aus den Grenzanlagen der DDR abmontieren wollte … An dem Zwischenfall«, der sich bereits am 30. April 1976, gegen 22.30 Uhr ereignet habe, seien »zwei Bekannte Gartenschlägers beteiligt« gewesen, »die aber auf Bundesgebiet geblieben seien und deshalb entkommen konnten«.
Gartenschläger hatte die »beiden Freunde … zur eigenen Sicherung mitgebracht«. Einer von ihnen trug eine »abgesägte Schrotflinte bei sich«, einer der »Freunde« habe »einen Schuss aus der Schrotflinte abgegeben, nachdem er in einen Scheinwerferkegel geraten sei«. (DPA 1.5.1976, FAZ 4.5.1976)
Bei den beiden »Freunden«, die Gartenschläger begleiteten, handelt es sich um die ebenfalls aus der DDR-Haft in die BRD entlassenen Lothar Lienicke und Dieter Uebe. Lienicke hat sich mit Gartenschläger nach dessen Vernehmung in Barsbüttel getroffen und nach eigenen Aussagen mit ihm den für »diesen Tag« vorgesehenen »neuen Einsatz« geplant. (Welt 4.5.1976)
Wie der Oberstaatsanwalt von Lübeck, Oswald Kleiner, erklärte, ist »Gartenschläger noch am Freitag (d. 30.4.), wenige Stunden vorher, in Lübeck wegen der beiden schon zuvor entwendeten Todesautomaten von der Staatsanwaltschaft verhört worden. In der Vernehmung habe Gartenschläger vage Andeutungen gemacht, er wolle noch einmal ›ein ganz großes Ding drehen‹«. Anschließend sei er von der Polizei gewarnt worden, an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Die Grenzbefestigungen seien dort inzwischen erheblich verstärkt worden. Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Kleiner habe »Gartenschläger zunächst wieder einen Selbstschussautomaten entwenden wollen. Dann habe er es sich anders überlegt und einen der Automaten lediglich ›hochgehen‹ lassen wollen.« (DPA 2.5.1976, Tagesspiegel 4.5.1976, FAZ 4.5.1976)
Lt. FAZ vom 4. Mai 1976 wurde Gartenschläger von der Kriminaldirektion Lübeck gewarnt und auf die »verschärfte Situation« an diesem Grenzpunkt hingewiesen.
Gartenschläger wurde vom Staatsanwalt Hans-Rudolf Wirsich in Barsbüttel vernommen, da er der Vorladung zur Vernehmung nach Lübeck nicht Folge geleistet hatte. Am Ende der Vernehmung habe Staatsanwalt Wirsich den Gartenschläger gewarnt, als dieser seine Absicht bekanntgegeben habe, »ein ganz großes Ding zu drehen«. (Welt 4.5.1976)
Aus der Meldung der »Tagesschau« des »Deutschen Fernsehens« vom 2. Mai 1976, 20.15 Uhr, dass »nach Beobachtungen des Bundesgrenzschutzes« Gartenschläger »offenkundig von DDR-Soldaten erwartet worden« sei, kann geschlussfolgert werden, dass auch der BGS von der Grenzprovokation Kenntnis hatte.
2. Hinweise zum Tathergang1
Nach Aussagen des Lienicke fuhren Gartenschläger, Uebe und Lienicke »etwa um 21.30 Uhr in einem BMW 2800 von Barsbüttel ostwärts«. Absicht sei es gewesen, »die bei dem letzten Tatort bei Büchen versteckte Leiter zu holen«. Als sie die Leiter geholt hatten, habe Gartenschläger erklärt, er »wolle noch einmal zur Grenze vor, an die Stelle, wo er schon zweimal einen Todesautomaten geklaut« hatte und noch einen holen. Gartenschläger habe daraufhin Lienicke und Uebe auf die Plätze eingewiesen, Uebe mit der von Gartenschläger erhaltenen Schrotflinte links vom Grenzstein, Lienicke einige Meter weiter zur Beobachtung der »Nordflanke des scharfen Knicks« im dortigen Grenzverlauf. Gegen 23.45 Uhr sei Gartenschläger in Richtung Osten gerobbt. Wenn eine Bewegung auf DDR-Seite erfolgen sollte, sollte er, Lienicke, rufen: »Halt, hier ist der Zoll, kommen Sie sofort zurück!« Dies sollte heißen: Bewaffnete Organe der BRD sind zur Stelle. Aber vom BGS und Zoll sei keine Spur gewesen.
Plötzlich seien »Salven aus mindestens vier MPi-K« abgefeuert worden. Sie hätten Gartenschläger getroffen, »als er sich erheben und mit einem 20 cm langen Drahthaken und einer Angelschnur den Metallgitterzaun« habe erreichen wollen.
Es sei ohne Anruf, ohne Warnung geschossen worden. Scheinwerfer seien plötzlich aufgeflammt. Als Lienicke versucht habe, Gartenschläger zu helfen, sei er auch beschossen worden und deshalb zurückgerannt. Uebe habe aus seiner Schrotflinte einen ungezielten Schuss abgegeben. Daraufhin seien sie beide auf dem Gebiet der BRD beschossen worden. Uebe sei sogar der Meinung, die DDR-Soldaten hätten Gebiet der BRD betreten. (DPA 2.5.1976, Welt 4.5.1976)
Gartenschläger habe sich »ein paar Meter auf ostdeutschem Gebiet« befunden, als »plötzlich Scheinwerfer die Szene erhellten und Soldaten aus dem Hinterhalt mit ihren automatischen Waffen das Feuer« eröffnet hätten. Nach Schätzungen des BGS seien zwischen »120 und 140 Kugeln abgefeuert« worden. Danach hätten »Grenzsoldaten den Zaun geöffnet und den Mann weggeschleppt«. (Daily Mail 3.5.1976, DPA 1. u. 2.5.1976)
Nach Angaben der beiden entkommenen Grenzprovokateure fielen 20 bis 30 Schüsse. (Bild 4.5.1976)
Nach Meinung des Lübecker Oberstaatsanwalts Kleiner hätten »die DDR-Soldaten Gartenschläger regelrecht in einen Hinterhalt gelockt«. BGS-Beamte hätten am Sonnabend früh beobachtet, wie DDR-Soldaten aus westlicher Sicht vor den Grenzzäunen liegende Schlafsäcke abtransportierten. Die Tag und Nacht wachenden DDR-Grenzsoldaten hätten vor den Grenzzäunen gelegen und auf Gartenschläger und seine beiden »Freunde« aus unmittelbarer Nähe und ohne jegliche Warnung geschossen. Kleiner ermittelt deshalb gegen die DDR-Soldaten wegen Mordes. (DPA 2.5.1976, Welt 4.5.1976, Tagesspiegel 4.5.1976, FAZ 4.5.1976)
Soldaten der Grenzbrigade 8 hätten in Schlafsäcken, mit Nachtgläsern, die MPi entsichert, schon seit Tagen auf Gartenschläger gelauert. (Bild 4.5.1976)
3. Reaktion Bonner und Schleswig-Holsteiner Regierungskreise sowie der Bonner Opposition auf die Verhinderung der Grenzprovokation2
Der Bundesminister für »innerdeutsche« Beziehungen, Franke, erklärte: »Auch wenn bei allen guten Beweggründen der Versuch, offensichtlich erneut einen Schussapparat aus den Sperranlagen der DDR zu entfernen, nur als unverantwortliches Risiko bezeichnet werden könne, müsse das völlig unangemessene Vorgehen der DDR-Grenzorgane aufs Schärfste verurteilt werden. Der Grund der Tragödie liege ganz und gar in der Existenz der Sperranlagen, mit denen sich niemand von uns abfinden kann.« (DPA 1.5.1976)
Der am 1. Mai 1976 von der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR dem Außenministerium der DDR überreichte Protest der Bonner Regierung richte sich nach Erklärung eines Regierungssprechers »gegen den unangemessenen Gebrauch von Schusswaffen und die Grenzverletzung durch Schüsse«. (DPA 1.5.1976, Morgenpost 4.5.1976)
Der Regierungssprecher der Schleswig-Holsteiner Landesregierung, Rathke, erklärte, die Landesregierung gebe ihrer »tiefen Abscheu darüber Ausdruck, dass trotz des Grundlagenvertrages noch immer Lebensgefahr für alle Deutschen bestehe, die sich der Grenze näherten«. (DPA 1.5.1976)
Der Schleswig-Holsteiner Justizminister, Dr. Henning Schwarz, erklärte, das tiefe Bedauern über den Zwischenfall müsse sich »aber auch auf die Unbelehrbarkeit von einzelnen Menschen erstrecken, die einfach die schrecklichen Gefahren nicht sehen wollten«. (DPA 1.5.1976)
Der stellvertretende Bonner CDU-Sprecher, Karl-Hugo Pruys, erklärte, die Bonner »Regierung werde aufgefordert, es nicht bei verbalen Protesten gegen die Unmenschlichkeit der Absperrmechanismen mitten in Deutschland zu belassen, sondern endlich auf die DDR-Behörden politischen Druck auszuüben, um zu erträglichen Verhältnissen zu kommen«. (DPA 1.5.1976)