Äußerungen staatsnaher Schriftsteller zum VIII. Schriftstellerkongress (1)
8. November 1977
Information Nr. 700/77 über Reaktionen aus Kreisen progressiver Schriftsteller im Zusammenhang mit konzeptionellen Vorbereitungen des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR 1978
Unter progressiven Schriftstellern gibt es gegenwärtig verstärkt individuelle Gespräche im Zusammenhang mit der Vorbereitung des VIII. Schriftstellerkongresses 1978,1 wobei teilweise Auffassungen vertreten werden, die für die weitere Arbeit mit diesen Schriftstellern beachtenswert erscheinen.
In Vorbereitung des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR 1978 ist vorgesehen, dass Mitglieder des Vorstandes des Schriftstellerverbandes, Bezirksverband Berlin, eine Einschätzung der gegenwärtigen Situation sowie der Entwicklungstendenzen seit dem VII. Schriftstellerkongress erarbeiten. In diesem Zusammenhang habe der Parteisekretär des Bezirksverbandes Berlin, Genosse Küchler, den Vorstandsmitgliedern des Bezirksverbandes Berlin die Orientierung gegeben, es sei die positive Entwicklung auf dem Gebiet der Literatur herauszuarbeiten und deutlich zu machen, wie sich die Politik des VIII. und IX. Parteitages der SED2 auf diesem Gebiet bewährt hat.
Es sei nicht erforderlich, die im Berliner Verband seit Herbst 1976 aufgetretenen Probleme und Auseinandersetzungen3 besonders herauszuarbeiten; die Einschätzung solle keine Probleme enthalten, sondern nur das Positive, Vorwärtsweisende deutlich machen. Diese Orientierung sei, wie Genosse Küchler äußerte, von der Bezirksleitung der SED Berlin gegeben worden.
Während es auf der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes, Bezirksverband Berlin, zu dieser Orientierung keine offizielle Meinungsäußerung gab, wurden in anschließenden persönlichen und individuellen Gesprächen Äußerungen dahingehend bekannt, diese Orientierung finde kein Verständnis und führe bei progressiven Kräften unter den Schriftstellern zu Resignation und Verärgerung. (Meinungen u. a. von Vorstandsmitgliedern Harald Hauser, Gerhard Bengsch, Gisela Steineckert, Prof. Anneliese Löffler und Peter Edel).
Es bestand die Ansicht, wenn der zurückliegende Zeitabschnitt eingeschätzt werden solle, dann könnten auch die geführten Auseinandersetzungen nicht außer Acht gelassen werden, zumal sich die gegenwärtige Situation so darstelle, dass nicht alle Probleme ausdiskutiert wären und der größte Teil der Unterzeichner der »Protestresolution« gegen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft Biermanns4 nicht von seiner negativen Haltung abgerückt sei.
Auch in weiteren individuellen Gesprächen von Vorstandsmitgliedern wurde intern geäußert, die geforderte Einschätzung der Situation werde ein »verzerrtes und einseitiges Bild« ergeben, was zu falschen Entscheidungen auf diesem Gebiet seitens der Parteiführung führen könne. In der gegenwärtigen Klassenkampfsituation mache sich die ungeschminkte Darstellung aller negativen, hemmenden und störenden Probleme genauso erforderlich wie die Darstellung des Positiven und Vorwärtsweisenden.
In Einzelfällen wurde dabei der »Verdacht« geäußert, dass es offenbar auf »mittlerer Ebene des Parteiapparates« Funktionäre gäbe, die es nicht zulassen, »dem Genossen Honecker die wirkliche, reale Situation mit all ihren komplizierten Problemen zu schildern, weil ihnen dann die für sie unangenehme Frage gestellt würde, welche persönlichen Schritte sie zur Stärkung der progressiven Kräfte eingeleitet hätten«.
Progressive Vorstandsmitglieder äußerten weiter, eine Aussparung der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen in den Materialien zum VIII. Schriftstellerkongress bedeute gleichzeitig, die mühevolle und aufwendige Arbeit der Genossen, die sich mit den feindlich-negativen Kräften auseinandersetzten, zu disqualifizieren und geringschätzend zu behandeln (u. a. mehrfach geäußerte Meinung von Harald Hauser).
Auch von Literaturexperten, die im Auftrage der Abteilung Kultur des ZK der SED an einer Einschätzung über die Entwicklung der Literatur der DDR nach dem VIII. Parteitag der SED arbeiten sollen, wurden intern ebenfalls bestimmte, in der vorgenannten Richtung liegende Auffassungen bekannt.
Zu der vom Mitarbeiter der Abteilung Kultur des ZK der SED, Genossen Leo Sladzyk, gegebenen Orientierung, die Einschätzung in der Form vorzunehmen, dass eine positive Bilanz der Entwicklung der DDR-Literatur herauskäme, Probleme und Schwierigkeiten aber möglichst weggelassen würden, gab es in individuellen Gesprächen – nicht in der offiziellen Diskussion – Meinungen, dass unsere führenden Genossen durch eine solche Einschätzung nicht objektiv informiert würden.
Inoffiziellen Hinweisen zufolge hätten Genosse Prof. Jarmatz und Genosse Dr. Drenkow einige Zeit nach dem erhaltenen Auftrag zur Mitarbeit in der genannten Gruppe unabhängig voneinander »Wege gefunden«, nicht an der Erarbeitung dieses Materials teilzunehmen. In einem streng vertraulichen Gespräch habe Genosse Prof. Jarmatz geäußert, »er wolle sich da heraushalten, da er seine Unterschrift nicht unter eine Sache gibt, die er nicht verantworten könne«.
Progressive Kräfte unter Kulturschaffenden vertraten im Zusammenhang mit den vorher erwähnten Fragen sowie in anderen Diskussionen untereinander die Meinung, es werde erwartet, dass die Positionen politisch progressiver Schriftsteller und vor allem der Genossen, die aktiv im Sinne unserer Politik an den Diskussionen um die Unterzeichner und politisch-negativen Kräfte teilgenommen haben, zielstrebig gestärkt würden. Es werde für notwendig erachtet, für sie »bessere Bedingungen« zu schaffen und ihre Verantwortlichkeit zu heben, mit ihnen im ständigen Gespräch zu bleiben, Fragen der Politik auf dem Gebiet der Literatur und Kunst mit ihnen gemeinsam zu erörtern und sie systematisch mit einzubeziehen in Diskussionen und Auseinandersetzungen mit noch schwankenden Kräften.
Gegenwärtig sei es aber so, dass sie sich »zurückgesetzt« oder »allein gelassen« fühlen. Sie seien zwar gerufen gewesen, um sich in den Auseinandersetzungen mit den Unterzeichnern zu engagieren und sie hätten sich im Interesse der Kulturpolitik der DDR stark eingesetzt. Jetzt dagegen wäre ihre Meinung nicht mehr gefragt. Sie hätten den Eindruck, dass die Parteiführung jetzt vordergründig mit solchen Schriftstellern diskutiert (und ihnen sogar »Vorteile« zugesteht), die nicht mit der Politik der DDR konform gehen (u. a. Meinung von Harald Hauser, Abusch, Gotsche, Strittmatter, Jan Koplowitz, Horst Bastian, Peter Edel, Gisela Steineckert).
Gerhard Bengsch äußerte ebenfalls, er und andere fortschrittliche Schriftsteller seien der Meinung, es sei an der Zeit, dass ein Genosse der Parteiführung, evtl. sogar Genosse Honecker selbst, ein paar Stunden Zeit finden müsse, um mit den Genossen Schriftstellern, die sich am offensivsten in der ideologischen Auseinandersetzung mit den Unterzeichnern engagiert haben, zusammenzutreffen, wobei sie gestärkt werden sollten in ihrer Auffassung, dass sie sich richtig verhalten haben. Gleichzeitig könnte mit ihnen in einem zwanglosen Gespräch beraten werden, wie die Politik der Partei auch weiterhin auf der untersten Ebene im Verband praktisch durchgesetzt werden kann. Eine solche Zusammenkunft würde gleichzeitig die Autorität der progressiven Schriftsteller stärken.
Mehrere progressive Schriftsteller äußerten, seit mehreren Wochen wäre bei ihnen im Gespräch, dass sich Genosse Honecker mit den Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes und einigen Schriftstellern – zumindest mit denen, die ZK-Mitglieder sind oder andere verantwortliche Funktionen bekleiden – zusammensetzen und unterhalten wolle. Sie würden »langsam müde«, auf eine terminliche Festlegung zu warten. In Gesprächen mit Vizepräsidenten sei auch deren »Verärgerung darüber« zu erkennen, und es sei zu Bemerkungen gekommen wie, »für uns ist keine Zeit, aber ein Anruf von Hermlin genügt, und er wird sofort empfangen«. (Uwe Kant und andere hätten mehrmals den »Slogan« weitererzählt: »Mit wem der Westen nicht spricht, mit dem unterhält sich Hager nicht.«)
Bei einigen Funktionären des Schriftstellerverbandes und Genossen Schriftstellern sei es zu Bemerkungen im vertraulichen Kreis gekommen, im Parteiapparat gebe es Genossen, die solche Gespräche »mit Absicht hintertreiben, weil sie befürchten, die Schriftsteller könnten in der Diskussion Sachverhalte und Probleme an Genossen Honecker herantragen, die ihm bisher verheimlicht wurden«.
Unter der Mehrzahl progressiver Schriftsteller stößt gegenwärtig die nach ihrer Meinung großzügige Genehmigung von Reisen ins kapitalistische Ausland und die Erteilung von Dauervisen über einen längeren Zeitraum für »Unterzeichner« auf Unverständnis. Tatsache sei, dass sich progressive Schriftsteller an die Reiseordnung und die Disziplin halten müssten, die vorschreibe, den Reiseantrag drei Monate vor Antritt der Reise schriftlich beim Schriftstellerverband vorzulegen. Dagegen könnten es sich z. B. Günter Kunert oder Volker Braun aber erlauben, Genossen Hager anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie beabsichtigen, am nächsten Tag nach Westberlin oder in die BRD zu fahren und sie würden noch rechtzeitig ihr Visum erhalten.
Von einer Reihe Autoren wird die »großzügige Behandlung« der »Unterzeichner« als persönliche Benachteiligung angesehen. In der Diskussion zu solchen Fragen gab es vertrauliche Äußerungen wie z. B. die von Genossin Gisela Steineckert (stellvertretende Vorsitzende des Berliner Schriftstellerverbandes): »Ich glaube, man muss unbedingt erst ein ›Ding drehen‹, damit die Parteiführung auf einen aufmerksam wird und man nicht als parteiverbundener Genosse gegenüber den ›Unterzeichnern‹ benachteiligt ist.«
Peter Edel und Jan Koplowitz z. B. meinten in vertraulichen Gesprächen unabhängig voneinander, sie seien »gefragt gewesen, um sich mit negativ eingestellten Leuten herumzuschlagen«. Sie hätten dafür viel Zeit geopfert, während der sie nicht produktiv arbeiten konnten und seien durch Zeitverzug ernsthaft in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Jetzt jedoch kümmere sich niemand mehr um ihre Probleme.
Horst Bastian nahm in einem vertraulichen Gespräch Bezug auf Dichterlesungen anlässlich des 60. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und äußerte, es wäre einer Reihe solchen Schriftstellern Gelegenheit zu öffentlichkeitswirksamen Lesungen gegeben worden, die häufig keine Stellung für die DDR beziehen; progressive Schriftsteller, die sich in letzter Zeit »für die Sache geschlagen« hätten, wären nicht oder in zu geringem Umfang dazu herangezogen worden.
Harald Hauser meinte u. a. in einem individuellen Gespräch, er fühle sich »müde und verbittert«, da die fortschrittlichen Kräfte allein gelassen würden. Es müssten erst »ganz große politische Sachen passieren«, bevor er sich noch mal öffentlich politisch äußern würde, ab sofort würde er »den Mund halten«.
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