Aktionen von Mitgliedern der Jungen Gemeinde im Bezirk Halle
1. April 1977
Information Nr. 198/77 über negative Aktivitäten der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) gegen die DDR
Am 18.3.1977 fand zwischen dem Referenten für Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Magdeburg und dem Oberkonsistorialrat Dr. Schultze als Vertreter der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) eine Aussprache statt, zu der seitens des Staatsapparates eingeladen worden war.
Im Zusammenhang mit der Erörterung verschiedener Anliegen der Kirchenleitung zu regionalen Fragen machte Schultze im Auftrag der Kirchenleitung zur Auswertung von Vorkommnissen in Halle folgende Ausführungen:
Ende 1976 habe nach Kenntnis der Kirchenleitung in der Stadt Halle eine illegale, gegen die DDR gerichtete Flugblattaktion stattgefunden. Zur Untersuchung dieses Vorkommnisses hätten die Sicherheitsorgane eine umfangreiche Ermittlungstätigkeit eingeleitet und in diesem Zusammenhang eine Reihe Mitglieder der »Jungen Gemeinde« befragt.1
Die Befragungen hätten sich jedoch nicht nur auf den Fakt der Flugblattaktion beschränkt, sondern seien bis ins Detail auch auf kirchliche Probleme innerhalb der »Jungen Gemeinde« ausgedehnt worden. Bischof Krusche habe diese Art der Befragung als »einen Schlag gegen die Kirche« bezeichnet und schätze sie als »einen Eingriff in die persönlichen Freiheiten dieser jungen Menschen« ein. Krusche habe den Eindruck gewonnen, die evangelische Kirche werde »bewusst in diese Flugblattaktion einbezogen«.
Nach den Ausführungen von Oberkonsistorialrat Dr. Schultze während des offiziellen Gesprächs am 18.3.1977 habe Bischof Krusche in diesem Zusammenhang bisher Folgendes veranlasst:
Propst Dr. Münker, Halle, wurde von Bischof Krusche beauftragt, mit jedem der befragten Jugendlichen ein Gespräch zu führen mit dem Ziel, detaillierte Angaben über Art und Umfang der Befragungen zu erhalten. Dr. Münker ist veranlasst, Bischof Krusche darüber einen zusammenfassenden Bericht vorzulegen. Bischof Krusche habe weiter die Absicht geäußert, in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der »Konferenz Europäischer Kirchen«2 dieses Gremium bei der nächsten Tagung über die Vorkommnisse zu informieren. Bischof Krusche wolle sich darüber Gehör verschaffen und verdeutlichen, dass es sich bei diesen Vorgängen um »eine Verletzung der Menschenrechte« handele.
Im Zusammenhang mit dem Auftrag von Bischof Krusche an Propst Münker, alle »Fakten über die Befragungen« zusammenzutragen, richtete Münker am 17.3.1977 einen Brief an den Stellvertreter für Inneres des Rates des Bezirkes Halle, in dem er sich darüber beschwert, dass ihm auf eine persönliche Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, die Befragungen von Mitgliedern der »Jungen Gemeinde« zu unterlassen, bisher nicht geantwortet wurde.
Münker verweist in dem Brief weiter darauf, dass die Befragungen eine »ungute Atmosphäre« verbreiten würden und betont: »Wir möchten guten Gewissens auf die etwaige Frage ökumenischer Freunde aus Genf3 sagen können, dass wir nicht zu klagen haben über Maßnahmen, die nach Behinderung von Glaubens- und Gewissensfreiheit aussehen.«
Bedeutsam im Zusammenhang mit den »Beschwerden« kirchenleitender Persönlichkeiten der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) sind folgende Vorkommnisse:
Am 14.3.1977 wurden im Stadtgebiet von Weißenfels, Bezirk Halle, an fünf verschiedenen Tatorten acht »Losungen« folgenden Inhalts mit weißer Farbe geschmiert: »Mehr Menschenrechte«, »Mehr Freiheit«, »Wir fordern Menschenrechte«, »Freiheit«, »Wir fordern Menschlichkeit«, »Sch…staat«.
In der Nacht vom 30. zum 31.3.1977 wurde erneut das Wort »Menschenrechte« an einen Pkw »Trabant«, einen Pkw »Wartburg«, auf einen Gehweg und an eine Wand geschmiert. Im Ergebnis unverzüglich eingeleiteter Maßnahmen wurde der Täter auf frischer Tat gestellt. (Entsprechende Beweismittel wurden sichergestellt.)
Es handelt sich um Spranger, Matthias, geb. am [Tag] 1954, Angestellter der evangelischen Kirchengemeinde Weißenfels, wohnhaft: Weißenfels, [Bezirk] Halle.
Als Mittäter wurden festgestellt und sind geständig Spranger, [Vorname], geb. am [Tag] 1957, Stenotypistin im Ev. Küsteramt Weißenfels und [Name 1, Vorname], geb. am [Tag] 1954, Schriftsetzer, zur Zeit ohne Beschäftigung.
Beim Vater des Matthias Spranger und der [Vorname] Spranger handelt es sich um den evangelischen Pfarrer Spranger, Fritz, geb. am [Tag] 1922, Pfarrer in der Marienkirche in Weißenfels.
Matthias und [Vorname] Spranger unternahmen bereits in der Vergangenheit mehrfach rechtswidrige Versuche zur Übersiedlung nach der BRD. Sie wollen nach eigenen Angaben »in Freiheit« leben und erhoffen sich in der BRD bessere Lebensbedingungen.
Über die Herkunft der verwendeten Farbe gab Spranger bisher an, sie in der Tatnacht gegen 0.30 Uhr von Pfarrer Beck, Weißenfels, bekommen zu haben, der sie noch in einen Plastebeutel verpackte. Angeblich habe Beck über den Verwendungszweck der Farbe nicht Bescheid gewusst.
Spranger, Matthias, hat in den geführten Untersuchungen ausgesagt, bereits am 12.11.1976 und 14.3.1977 in Weißenfels Hetzschmierereien vorgenommen zu haben. So wurden durch ihn auf den Gehsteigen der Friedrich-Engels-Straße vier Hetzlosungen und an der Schaufensterscheibe eines Privatgeschäftes eine Hetzlosung mit dem Inhalt: »Helft Biermann«,4 »Biermann« mit Ölvorstreichfarbe angebracht.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen sowie des eindeutigen Sachverhaltes wird vorgeschlagen, mit Bischof Krusche – von dem bekannt ist, dass er jede Gelegenheit nutzt, Konfrontationssituationen zwischen Staat und Kirche zu erzeugen und die DDR zu diffamieren – seitens eines Vertreters der Bezirksstaatsanwaltschaft Halle eine Aussprache zu führen. In dieser Aussprache sollte Bischof Krusche darauf hingewiesen werden, dass die durchgeführten Befragungen in voller Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen der DDR erfolgt seien. Außerdem sollte er über die von Angestellten der evangelischen Kirche begangenen Straftaten gegen die DDR informiert werden mit der Forderung, die Beschäftigten der evangelischen Kirche und die Mitglieder kirchlicher Organisationen in seinem Verantwortungsbereich zur Respektierung der Rechtsordnung der DDR anzuhalten. Bischof Krusche sollte weiter mitgeteilt werden, dass trotz des Vorliegens eindeutiger Rechtsverletzungen seitens der staatlichen Organe der DDR in großzügiger Weise entschieden wurde, von einer strafrechtlichen Verfolgung Abstand zu nehmen, unter der Voraussetzung, dass die Täter zukünftig die Gesetze der DDR achten und einhalten.
Am 31.3.1977 wurde durch den Kreisstaatsanwalt des Kreises Weißenfels mit dem Vater der Täter Spranger, Matthias und [Vorname 1], dem Pfarrer Spranger, Fritz, eine Aussprache geführt, in der er über die Rechtsverletzungen seiner Kinder unterrichtet wurde. Spranger gab an, keine Kenntnis von den strafrechtlichen Handlungen seiner Kinder gehabt zu haben. Er verurteilte diese Handlungsweise und bekundete seine Bereitschaft, seinen Einfluss auf die Kinder geltend zu machen, damit sich derartige Vorfälle nicht mehr wiederholen.
Nach Abschluss der Aussprache wurden die Kinder Spranger, Matthias und [Vorname 1] aus der Haft entlassen und dem Vater übergeben. Gleichzeitig wurde die inhaftierte [Name 2, Vorname] aus der Haft entlassen.
Vom MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur Kontrolle des weiteren Verhaltens der entlassenen Täter eingeleitet.