Androhung von Waffengewalt durch einen geflüchteten NVA-Soldaten
7. Januar 1977
Information Nr. 18/77 über die Androhung der Anwendung der Schusswaffe durch einen Unteroffiziersschüler der Nationalen Volksarmee gegenüber einem Bürger der DDR sowie einem BRD-Ehepaar
Am 2.1.1977, gegen 20.15 Uhr, entfernte sich der Unteroffiziersschüler [Name 1, Vorname], geb. am [Tag] 1957, wohnhaft: Limbach-Oberfrohna, [Adresse], NVA seit 2.11.1976, kommandiert zur Fla-Raketenabteilung [Nr., Ort 1] der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung, unter Mitnahme einer MPi, Typ Kalaschnikow und 60 Schuss Munition sowie einiger Zivilkleidungsstücke unerlaubt aus seinem Postenbereich am Objekt [Ort 1] und bedrohte mit dieser Waffe ein in [Ort 2], Kreis Ribnitz-Damgarten, zu einem Besuchsaufenthalt bei einem ehemaligen Superintendenten weilendes BRD-Ehepaar sowie den Hauseigentümer. Am 3.1.1977, gegen 0.30 Uhr, wurde [Name 1] in der Nähe des Objektes der NVA in [Ort 1] im Ergebnis sofort eingeleiteter Fahndungsmaßnahmen festgenommen.
Die durch das Ministerium für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit dem zuständigen Militärstaatsanwalt geführten Untersuchungen ergaben:
[Name 1] wurde am 4.12.1976 von der Unteroffiziersschule [Ort 3] zur Ausbildung als Unteroffizier (Mechaniker) zur Fla-Raketenabteilung – [Nr.] der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung nach [Ort 1] kommandiert. Darüber zeigte er sich verärgert, da er dadurch nicht mehr so oft seine Verlobte (Studentin der Pädagogik in Zwickau) besuchen konnte, von der er annahm, dass sie intime Beziehungen zu anderen Männern unterhielt.
Diese Vermutungen führten bei [Name 1] zu dem Entschluss, während des nächsten Postendienstes unter Mitnahme der Waffe und Munition seine Einheit zu verlassen, sich mittels Waffengewalt eines Pkw zu bemächtigen und damit nach Zwickau zu fahren. Er nahm an, durch ein überraschendes Erscheinen seine Verlobte bei »anderen Männern« anzutreffen. Wenn diese Vermutung zugetroffen wäre, wollte er seine Verlobte und danach sich selbst erschießen. Im Falle einer Nichtbestätigung des Verdachtes wollte er sich illegal in die VR Polen begeben und dort verstecken und sich dem weiteren Wehrdienst entziehen.
In Verwirklichung dieses Vorhabens verließ [Name 1], wie eingangs schon erwähnt, am 2.1.1977, gegen 20.15 Uhr, unter Mitnahme seiner MPi und 60 Schuss Munition seinen Postenbereich, holte aus der Unterkunft einige bereits in eine Aktentasche verpackte Zivilkleidungsstücke und begab sich von anderen Posten unbemerkt aus dem Objekt.
Nach Verlassen der Einheit zog er die Zivilkleidung an, versteckte die Uniform im Wald und begab sich in Richtung [Ort 2]. Als er am Haus des Rentners und ehemaligen Superintendenten [Name 2, Vorname] (78), einen Pkw Typ »Volkswagen« mit amtlichem Kennzeichen der BRD bemerkte, klopfte er an die Haustür, erkundigte sich beim öffnenden Hauseigentümer nach dem Besuch aus der BRD, wünschte diesen zu sprechen und richtete dabei die bis dahin versteckt gehaltene MPi auf den [Name 2]. Die in der Zwischenzeit hinzugekommenen Bürger der BRD, Prof. Dr. [Name 3, Vorname 1] (Schwiegersohn des [Name 2]), wohnhaft: Hamburg 55, [Adresse], Professor für Psychologie an der Universität [Ort 4] und dessen Ehefrau, [Name 3, Vorname 2], wohnhaft: wie Ehemann, Diplombibliothekarin, zzt. Hausfrau, zeigten keinerlei Furcht vor dem [Name 1] und dessen vorgehaltener MPi, schlossen die Tür des Hauses und [Name 2] benachrichtigte telefonisch den Gruppenposten der Deutschen Volkspolizei.
[Name 1] verließ sofort das Haus und irrte danach im Zustand völliger Verwirrung umher, gab dann schließlich sein Vorhaben auf und beabsichtigte, unbemerkt in die Diensteinheit zurückzukehren.
Am 3.1.1977 wurde durch die die Untersuchung führenden Organe gegenüber dem [Name 2] und dem BRD-Ehepaar [Name 3] die Erklärung abgegeben, dass sich [Name 1] in Ausübung seines Dienstes von seinem Posten entfernt habe, um sich mit einem Mädchen zu treffen. Da er sich dabei verspätet hätte und dennoch das Objekt rechtzeitig erreichen wollte, habe er an den Besitzer des Pkw die Bitte richten wollen, ihn zum Objekt zu fahren. Dabei sei ihm die Waffe unter der Kleidung hervorgerutscht und er habe sie wieder umhängen wollen. Keinesfalls sei es Absicht gewesen, sie mit der Waffe zu bedrohen. [Name 2] und die Bürger der BRD bedankten sich für die schnelle und gründliche Ermittlung und zeigten sich mit der abgegebenen Erklärung zufrieden.
Die bisherigen Untersuchungen des Ministeriums für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit dem zuständigen Militärstaatsanwalt zum Persönlichkeitsbild des [Name 1] ergaben, dass sich bei ihm in der Vergangenheit bereits mehrfach abnorme Verhaltensweisen zeigten. Seit Beginn seiner Wehrdienstzeit hat er große Kontaktschwierigkeiten, verursachte mehrere unmotivierte Disziplinarverstöße und verfiel oft in depressive Zustände. Am 23.12.1976 hatte [Name 1] einen epilepsieartigen Anfall mit zeitweiligem Verlust des Bewusstseins. Entsprechend seinen eigenen Aussagen hat er derartige Anfälle bereits seit seinem 14. Lebensjahr, vor allem bei starker psychischer Beanspruchung. Trotz dieses Zustandes wurde [Name 1] auch in der Folgezeit zu Postendiensten eingesetzt.
Am 24.12.1976 machte er aufgrund einer offensichtlich krankhaften Sinnestäuschung während seines Postendienstes mehrfach von der Schusswaffe Gebrauch und beging anschließend in einem Zustand der Depression einen Selbsttötungsversuch, indem er durch Abschnüren der Pulsader die Blutzirkulation unterbrechen wollte.
Im Ergebnis einer daraufhin durch den Leiter des Medizinischen Dienstes der [Nr.] Fla-Raketenbrigade durchgeführten Untersuchung wurde für [Name 1] zur Klärung einer möglichen Erkrankung des schizophrenen Formenkreises für den 7.1.1977 eine ambulante Untersuchung im zentralen Armeelazarett Bad Saarow veranlasst.
Am 6.1.1977 wurde durch den zuständigen Militärstaatsanwalt gegen [Name 1] ein Ermittlungsverfahren gemäß §§ 254 (2)1 – Fahnenflucht im schweren Fall – und 206 StGB2 – Unbefugter Waffenbesitz – eingeleitet und auf gleicher Rechtsgrundlage Haftbefehl erlassen.
Die Untersuchungen werden fortgesetzt.