Auslieferung eines flüchtigen Strafgefangenen durch drei Pfarrer
4. Oktober 1977
Information Nr. 615/77 über eine Stellungnahme der evangelischen Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg zur Angelegenheit Defort
Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg hat sich in einer Sitzung am 23.9.1977 mit den in westlichen Pressemeldungen gegen sie und zwei Pfarrer dieser Landeskirche erhobenen Anschuldigungen im Zusammenhang mit Defort beschäftigt.1 (Defort war im Januar 1975 – nach vorangegangener Flucht aus der Strafvollzugsanstalt Cottbus – von drei Amtsträgern der evangelischen Kirche in der DDR wieder den Sicherheitsbehörden übergeben worden. Die »Arbeitsgemeinschaft 13. August«2, Westberlin, hatte »namens zahlreicher entlassener politischer Häftlinge« eine Entlassung dieser Geistlichen aus dem Kirchendienst und eine entsprechende Bestrafung gefordert.)
In ihrer Sitzung am 23.9.1977 billigte die evangelische Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg die Handlungsweise der ihrem Kirchenbereich angehörenden Pfarrer Hans-Georg Rannenberg, geb. am [Tag] 1933, wohnhaft: Forst-Eulo, [Adresse], und Jörg Radeke, geb. am [Tag] 1939, wohnhaft: Mülknitz.
Im Ergebnis der Sitzung wurde eine Erklärung, die im vollen Wortlaut als Anlage beigefügt wird, erarbeitet und verabschiedet, in der sich die Kirchenleitung hinter die Haltung der beiden Geistlichen stellt.
Die Kirchenleitung beabsichtigt, diese Stellungnahme bei weiteren und verstärkten Anwürfen gegen diese beiden Pfarrer oder gegen die Kirchenleitung zur Veröffentlichung freizugeben.
Die Information ist nicht zur öffentlichen Auswertung bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 615/77
Wortlaut der Erklärung der Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg
»Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg hat sich in ihrer Sitzung vom 23.9.1977 eingehend mit der Tatsache befasst, dass Pfarrer ihrer Kirche an der Wiederverhaftung des aus der Haftanstalt Cottbus geflüchteten Strafgefangenen Wolfgang Defort beteiligt waren. Sie hat dazu die betreffenden Pfarrer eingehend befragt. Der Tatbestand stellt sich danach folgendermaßen dar:
Defort hat am 13.1.1975, gegen 17.30 Uhr, das Pfarrhaus in Forst-Eulo aufgesucht. Er traf zuerst nur die Pfarrfrau und einen Kirchenältesten an. Eine Stunde später erschien der Pfarrer. Diesem offenbarte Defort, dass er aus der Haftanstalt Cottbus geflüchtet sei. Es bat um Fluchthilfe ins Ausland. Der Pfarrer zog durch Vermittlung des genannten Kirchenältesten einen Nachbarpfarrer hinzu. Beide standen unter dem Eindruck einer bereits seit dem Vormittag laufenden Großfahndung. Ein Hubschrauber war eingesetzt worden. Straßenkontrollen wurden durchgeführt, von denen einer der beiden Pfarrer bereits betroffen worden war. Die Staatsgrenze an der Neisse war durch eine dichte Postenkette abgeriegelt worden. Die Suchmaßnahmen konzentrierten sich auf Forst-Eulo.
Eine Fortsetzung der Flucht angesichts dieser Absperrmaßnahmen und des Gesundheitszustandes des Flüchtlings war aussichtslos. Sie hätte nach Einschätzung der Pfarrer den Flüchtling an Leib und Leben gefährdet. Demgegenüber erschien den Pfarrern, von denen der eine selbst früher Strafgefangener war (es handelt sich um Radeke), eine solche Bedrohung an Leib und Leben ausgeschlossen, wenn er sich selbst stellte. Die Pfarrer hatten die Absicht, sich sodann über kirchliche Stellen dafür einzusetzen, dass der Flüchtling nach der BRD entlassen wird. Die Pfarrer versuchten, dem Flüchtling die Aussichtslosigkeit seiner Lage klarzumachen und ihn dazu zu bewegen, sich selbst zu stellen. Diese Bemühungen waren vergeblich. Nach dem Urteil beider war der Flüchtling nicht in der Lage, seine Situation realistisch einzuschätzen.
Weil die beiden Pfarrer in den Gesprächen mit Defort zu keinem Ergebnis kamen, suchte einer von ihnen nach dreieinhalb Stunden einen dritten Nachbarpfarrer auf. Diese beiden kamen zu dem Entschluss, dass es das Beste sei, die Polizei zu verständigen. Sie nahmen inkauf, weder den Flüchtenden noch den zuerst aufgesuchten Pfarrer, der bei Defort geblieben war, vorher davon zu benachrichtigen, weil sie bei Defort eine Kurzschlusshandlung befürchteten. Bei ihrem Entschluss wurden sie auch von der Tatsache geleitet, dass zu den Mitwissern auch Nichtpfarrer zählten. Defort wurde dann ohne Gegenwehr, unmittelbar nach dem Anruf, in der Wohnung des Pfarrers, den er aufgesucht hatte, und in dessen Gegenwart festgenommen. Die drei Pfarrer leiteten bereits am nächsten Tag alles ihnen Mögliche ein, um eine baldige Entlassung Deforts zu erwirken (bekanntlich hat das nunmehr zum Erfolg geführt).
Die Kirchenleitung würdigt, dass die drei Pfarrer vor eine sehr schwierige Situation gestellt waren. Sie haben sich verantwortlich klargemacht, dass eine weitere Flucht Deforts von größter Gefahr für Leib und Leben des Flüchtenden gewesen wäre. Die Kirchenleitung erkennt an, dass durch eigene Hafterfahrungen begründetes Verantwortungsgefühl für andere, nämlich für Defort selbst und für den mitwissenden Kirchenältesten und dessen Familie, und nicht Angst für sich selbst, auch die beiden Pfarrer, die sich zur Anzeige entschlossen haben, geleitet hat. Die drei Pfarrer erklären selbst: »Die Entscheidung ist uns sehr schwergeworden. Wir sahen und sehen aber unter den damals gegebenen Umständen keine andere Möglichkeit, zum Besten von Herrn Defort und allen, die vor seiner Festnahme von seinem Aufenthalt im Forst-Euloer Pfarrhaus wussten, zu handeln.«