Brand in der Rathenower Produktionsstätte für Futtermittel
3. Mai 1977
Information Nr. 273/77 über die im Zusammenhang mit dem Brand in der Kaltpelletieranlage Rhinow der Zwischengenossenschaftlichen Einrichtung Futtermittelproduktion Rathenow, [Bezirk] Potsdam, am 15.4.1977 vorliegenden Aufklärungsergebnisse
Am 15.4.1977, gegen 0.00 Uhr, brach in der Kaltpelletieranlage Rhinow der Zwischengenossenschaftlichen Einrichtung Futtermittelproduktion (ZGE) Rathenow, [Bezirk] Potsdam, ein Brand aus, durch den die Kaltpelletieranlage (Tagessproduktion im Drei-Schicht-Betrieb 1 300 t Pellets) vollständig vernichtet wurde.
Im Einzelnen handelt es sich um
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ein Produktionsgebäude (massiv mit Pappdach, Grundfläche 110 × 30 m),
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die technische Ausrüstung,
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100 t Magnesiumoxyd, 50 t Mineralstoffe, 40 t Harnstoffe, 20 t Viehsalz,
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30 t Stroh, 8 t Gemenge und 2 t Pelletiermasse.
Nach Feststellungen der Staatlichen Versicherung ist ein Sachschaden in Höhe von ca. 1 Mio. Mark entstanden.
Diese Produktionsanlage für technische Trocknung, Aufschluss und Pelletierung von Futtermitteln hatte bedeutende Aufgaben im Rahmen der Futtermittelversorgung des Kreises Rathenow zu erfüllen. (Durch den Rat des Bezirkes, Abt. Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, wurden Maßnahmen zur Umlagerung der Produktion in andere Trockenwerke getroffen.)
Die im Zusammenwirken mit der DVP geführten Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen ergaben:
Als Entstehungsursache wurde zweifelsfrei ein Brand an der Auspuffanlage eines Traktors vom Typ GT 124 ermittelt. Dieser Traktor war zum Strohschieben eingesetzt worden, obwohl er folgende technische Mängel aufwies: Das Kühlsystem war funktionsuntüchtig, sodass sich der Motor überhitzte. Ein Zylinder des Motors war ebenfalls nicht voll funktionstüchtig; dadurch konnte unverbrannter Kraftstoff in die Auspuffanlage gelangen und sich dort entzünden. Diese Mängel waren bereits seit dem 9. April 1977 bekannt und im Schichtbuch vermerkt, ohne dass von den Verantwortlichen der Leitung der ZGE darauf reagiert wurde.
Damit hat die Leitung der ZGE, insbesondere der Leiter [Name 1], gegen die Arbeits- und Brandschutzanordnungen (ABAO) 105/1 – Ernte, Transport, Aufbereitung und Lagerung von leichtbrennbaren landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom 23.8.1969 (einschließlich der Anordnung Nr. 1 vom 2.8.1971 zu vorgenannter ABAO)1 sowie gegen die 361/2 – Straßenfahrzeuge sowie Instandhaltungsanlagen für Kraftfahrzeuge vom 2.2.19722 (einschließlich der Sonderregelung vom 28.8.1973) hinsichtlich der Durchsichten und Kontrolle des Fahrzeuges, der Auspuffanlage, des Funkenschutzes und der Pflege sowie gegen die betriebseigene Pflegeordnung, die Bestimmung zur Führung und Kontrolle der Schichtbücher und die Bestimmung zur Durchführung von Arbeitsschutzbelehrungen verstoßen.
Wie die Untersuchungen weiter ergaben, wurde die Brandausdehnung auch dadurch begünstigt, dass die in der technischen Anlage befindlichen Handfeuerlöscher trotz ständiger Hinweise und Forderungen der Abt. Feuerwehr sich nicht in einem betriebsfähigen Zustand befanden.
Bei den Untersuchungen sind weitere ernsthafte Mängel in der Leitungstätigkeit der ZGE festgestellt worden. Hinweise der Werktätigen über Mängel im Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutz wurden missachtet. Der bis zum 1. April 1977 verantwortliche Leiter der Anlage, [Name 2], hat aus diesem Grund gekündigt, da er vom Leiter der ZGE Rathenow, [Name 1], keine Unterstützung zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sowie des Brandschutzes erhielt. ([Name 2] hatte laufend sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form auf bestehende Mängel in der technischen Anlage und in der Leitungstätigkeit aufmerksam gemacht.)
Er erhielt erst nach mehrfachem Drängen am 15.2.1977 einen Funktionsplan, der jedoch auf die Funktion eines Schichtleiters zugeschnitten und von [Name 1] noch nicht unterzeichnet war. (Funktionspläne sind auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vorhanden.) Der Betrieb kann darüber hinaus keine rechtskräftigen, verbindlichen Unterlagen des Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutzes nachweisen. [Name 2] hatte bei Störungen Protokolle angefertigt, die [Name 1] zwar abzeichnete, ohne jedoch Maßnahmen einzuleiten oder anzuweisen.
Der Leiter der ZGE hat es weiter unterlassen, die Abt. Feuerwehr von Entstehungsbränden in der Anlage am 24.2.1977, 7.3.1977 und 23.3.1977 in Kenntnis zu setzen und auch keine anderweitigen vorbeugenden Maßnahmen angewiesen, obwohl er wusste, dass diese Brände durch grobe technische Mängel (technische Schäden an elektrischen Motoren und an einem Traktor) entstanden sind.
Das Elektroprojekt der Anlage enthält erhebliche Mängel, es ist kein Schutzgütenachweis vorhanden und auch kein Explosionsschutz gewährleistet, obwohl infolge erheblicher Staubablagerungen Explosionsgefahr bestand.
Im Strohraum (Brandentstehungsort) wurde ungeachtet der dadurch entstehenden Brandgefahr mit Traktoren gearbeitet, obwohl ein zum Zweck der Strohbewegung geeignetes Saug-Druck-Gebläse vorhanden war.
Eine zwischen dem Strohraum und den übrigen Anlagen befindliche Brandmauer war auf Vorschlag von [Name 1] ohne Genehmigung der Abt. Feuerwehr durchbrochen worden, um ein Förderband aufstellen zu können. (Auch dieser Umstand hat sich letztlich begünstigend auf die Brandausdehnung ausgewirkt.)
Die festgestellten Pflichtverletzungen, welchen offensichtlich die Ideologie »Produktion auf Kosten der Sicherheit« zugrunde liegt, stehen im Widerspruch zu den Anstrengungen der Werktätigen in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, die Futterversorgung für die tierische Produktion zu sichern und die Auswirkungen der Dürreperiode 1976 durch zusätzliche Produktion von Strohpellets zu mildern.
Durch den Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft wurde am 20.4.1977 ein Schreiben an die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft gerichtet, in dem auf die Ursachen und begünstigenden Bedingungen des Brandes in der Kaltpelletieranlage in Rhinow, [Kreis] Rathenow, aufmerksam gemacht und mit aller Konsequenz die Einleitung vorbeugender Maßnahmen in den Trocken- und Pelletieranlagen gefordert wird.
Nach vorliegenden Expertenhinweisen traten bisher bei der Gewährleistung der Produktionssicherheit in derartigen Anlagen laufend Schwierigkeiten auf. Diese resultieren aus
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Projektierungs- und Konstruktionsfehlern, die eine hohe Störanfälligkeit nach sich ziehen,
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mangelhaft organisierter Ersatzteilversorgung,
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vernachlässigter Schutzgütearbeit,
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zu geringen Lagerkapazitäten sowie nicht ausreichenden Räumlichkeiten für Werkstätten, Garagen, Unterstellmöglichkeiten u. Ä.,
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erschwerten Arbeitsbedingungen und teilweise unzureichenden Sozialeinrichtungen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen in den Trocken- und Pelletieranlagen zusätzlich belasten,
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der unzureichenden brandschutzmäßigen Ausrüstung derartiger Anlagen sowie aus
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der teilweise ungenügenden Ausbildung der Werktätigen für diese Anlagen.
Wie die Experten einschätzen, sei dieser Zustand darauf zurückzuführen, dass bei der Entwicklung von Trocken- und Pelletieranlagen oftmals entsprechende leitungsmäßige Voraussetzungen fehlten. (Übereinstimmend wird jedoch zum Ausdruck gebracht, dass infolge der seit 1976 einsetzenden Bemühungen der VVB Zucker- und Stärkeindustrie zur Koordinierung aller im Zusammenhang mit dem Errichten und Betreiben derartiger Anlagen bestehenden Aufgaben erste positive Veränderungen zu verzeichnen sind.)
Insbesondere die bisherige dezentralisierte Leitung der Trocken- und Pelletierungsanlagen führte dazu, dass eine Reihe von berechtigten Forderungen der Landwirtschaft bei deren Errichtung nicht mit der erforderlichen Konsequenz in den Herstellerbetrieben durchgesetzt werden konnten.
Übereinstimmenden Expertenmeinungen zufolge sei es deshalb erforderlich, im Interesse der Verbesserung der Situation in den Trockenwerken der DDR auf die Herbeiführung einiger zentraler Regelungen verstärkt einzuwirken.
Das bezieht sich insbesondere auf die Schaffung einer zentralen Anleitung der Trockenwerke im Rahmen des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft zur Herstellung stabiler Kooperationsbeziehungen mit der volkseigenen Industrie und zur Gewährleistung einer ausreichenden Ersatzteilversorgung, auf die Sicherung der Schutzgütearbeit und die Durchsetzung diesbezüglicher Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutzbestimmungen, die Gewährleistung des regelmäßigen Antihavarietrainings und die Schaffung angemessener Arbeits- und Lebensbedingungen für die Werktätigen der Trockenwerke einschließlich ihrer Ausbildung und weiteren Qualifizierung.
Gegenwärtig prüfen die Sicherheitsorgane aufgrund des Brandes in der Kaltpelletieranlage in Rhinow die Notwendigkeit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Betriebsleiter [Name 1], den Produktionsbereichsleiter [Name 3] und den Traktoristen [Name 4] entsprechend § 187 – Gefährdung der Brandsicherheit – und § 188 – Fahrlässige Verursachung eines Brandes – StGB.3
Die Untersuchungen werden fortgesetzt.