Brief des Vorsitzenden der KKL an den Nationalen Kirchenrat der USA
10. Oktober 1977
Information Nr. 620/77 über ein Schreiben des Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR an den Präsidenten des Nationalen Christenrates der Kirchen Christi in den USA, William Thomson
Ergänzend zur Information des MfS Nr. 601/77 vom 27.9.1977 über die Sitzung der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR1, während der u. a. über eine Stellungnahme des Bundes zur Neutronenbombe beraten wurde, wurde intern bekannt, dass die inzwischen überarbeitete Stellungnahme unter dem Datum 10.9.1977 an den Präsidenten des Nationalen Christenrates der Kirchen Christi in den USA2, William Thomson, versandt wurde.
Das Schreiben, dass in der Anlage im vollen Wortlaut beigefügt wird, wurde vom Vorsitzenden der Konferenz des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR unterzeichnet. (Offensichtlich haben weitere Mitglieder des Bundes dieses Schreiben nicht unterzeichnet.) Gegenwärtig besteht für die Veröffentlichung der Stellungnahme noch eine Sperrfrist bis Mitte Oktober 1977.
In dem Schreiben wird der beabsichtigte serienmäßige Bau der Neutronenbombe in den USA und die Einführung neuer Waffensysteme verurteilt und das vom Ökumenischen Rat der Kirchen3 geplante »Programm über Militarismus und Wettrüsten«4 begrüßt. Es wird der Wunsch geäußert, mit den Kirchen Christi in den USA zu diesen Fragen in einen Dialog zu treten, wobei dieser Dialog »als Zeichen dafür verstanden werden könnte, dass wir nicht bereit sind, uns in den Mechanismus der gegenseitigen Aufrechnung und Verteufelung zu verstricken oder in Angst und Resignation zu verfallen. Er könnte in einer gespaltenen Welt zu einem Zeichen der Hoffnung werden.«
Diese Information ist bis zur Aufhebung der Sperrfrist für diese Stellungnahme nicht zur öffentlichen Auswertung bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 620/77
[Stellungnahme des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR zur Neutronenbombe]5
Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik | 104 Berlin, den 10. September 1977 | Auguststraße 80 | Telefon 282 51 86
Der Vorsitzende der Konferenz
An den | Präsidenten des Nationalen Christenrats der Kirchen Christi in den USA | Herrn Dr. William Thomson
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Bruder Thomson!
In den vergangenen Wochen und Monaten haben sich bei vielen Christen und Nichtchristen zunehmend Befürchtungen über das Fortschreiten der Rüstung und die damit verbundene Gefahr für die Sicherheit der Völker ausgebreitet. Anlass für diese Befürchtungen sind Nachrichten über den beabsichtigten serienmäßigen Bau der Neutronenwaffe in den USA und die Einführung neuer Waffensysteme.
Das ist eine starke Herausforderung an Zeugnis und Dienst unserer Kirchen.
Wir empfinden große Dankbarkeit darüber, dass in den letzten Jahren zwischen unseren Kirchen und Ihren Kirchen vielfältige Verbindungen entstanden sind. Das ermutigt uns, Ihnen in der Verbundenheit des Glaubens an unseren gemeinsamen Herrn Jesus Christus zu schreiben. Der weltweite Rüstungswettlauf fordert Einsatz und Zeugnis der gesamten Weltchristenheit. Wir wissen, wie wichtig Ihnen diese Erkenntnis ist und hören mit Aufmerksamkeit, wie Ihre Kirchen ihre gesellschaftliche Verantwortung in dieser Frage wahrnehmen.
Um der gemeinsamen Verantwortung willen haben wir den dringenden Wunsch, dass unsere Kirchen in einen Dialog über diese Fragen eintreten.
Um diesen Wunsch zu erläutern, möchten wir Ihnen darlegen, wie wir die Verantwortung unserer Kirchen sehen, und welche Aufgaben wir zu erkennen meinen: Trotz aller Entspannungsbemühungen schreitet des Wettrüsten voran. Das zeigt uns, dass die Sicherheit, in der wir uns zu befinden meinen, trügerisch ist. Unsere Sorge besteht darin, dass wir uns in einem Frieden eingerichtet haben, der die Keime der Gewalt und der Vernichtung in sich trägt. Der Gehorsam gegen das Gebot Gottes und das Zeugnis für das Evangelium des Friedens verlangen von uns – angesichts des sich eskalierenden Wettrüstens – ein Eintreten für das menschliche Leben, dass von Gott geschaffen und von Jesus Christus errettet ist.
In unseren Kirchen ist das Bewusstsein für diese Fragen gewachsen. Die 5. Tagung der 2. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik6 hat im Mai 1977 dieser Tatsache Ausdruck gegeben. Für den Bereich unserer Gesellschaft hat diese Synode einen Beschluss gefasst, in dem es heißt:
»Im Blick auf eine weitgehende Gewöhnung an Armee, Rüstung, Wehrerziehung und die wehrpolitische Durchdringung wichtiger Bereiche des gesellschaftlichen Lebens empfiehlt die Synode der Konferenz der Kirchenleitungen, einen neuen Impuls für die Gemeinden zur Bildung eines wachen und kritischen Abrüstungsbewusstseins zu geben …«
Aus dem gleichen Grund hat der Kirchenbund das geplante »Programm über Militarismus und Wettrüsten« des Ökumenischen Rates der Kirchen begrüßt. In einer ersten Stellungnahme zu Einzelpunkten dieses Programms heißt es u. a.:
»Die wachsende Anzahl von Staaten, die Kernwaffen besitzen und herstellen können, die Verwischung der Grenze zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung sowohl im Bereich der Waffen als auch im Bereich der Strategie, die fortschreitende Aushöhlung bisher noch stabilisierend wirkender Abschreckungskapazitäten der Großmächte durch neue Kernwaffentechnologien und das zunehmende Konfliktpotenzial in der Dritten Welt durch den umfangreichen und weiter zunehmenden Waffenhandel mit modernen Waffen, führen immer mehr zu einer Destabilisierung internationaler Beziehungen und zu wachsender Gefahr eines Kernwaffenkrieges. Ein aktionsorientiertes Programm muss mit dazu verhelfen, dass diese Situation bei Regierungen, politischen Kräften und in der Öffentlichkeit bewusst wird, und im Bewusstsein dieser Gefahr globale und lokale politische, ökonomische und militärische Zielstellungen neu definiert und kompromissbereite Methoden zu ihrer Realisierung gefunden werden.«
Wir werden aktiv an diesem Programm mitarbeiten und hoffen, dass der Dialog, um den wir Sie in diesem Brief bitten, dieses Programm fördern wird.
Nach unserer Erkenntnis fällt den Kirchen vor allem eine gewissensschärfende Rolle bei der Diskussion um politische Lösungen des Abrüstungsproblems zu. Der gegenwärtig erreichte Stand der Rüstung droht die Hoffnung auf politische Formen der Konfliktlösung zu ersticken. Wir dürfen uns an den unmenschlichen Charakter der modernen Waffentechnik schon im Bereich der konventionellen Waffen nicht gewöhnen. Wir sind auch nicht bereit, die gängigen Feindbilder zu übernehmen.
In Bezug auf die Neutronenwaffe sind wir uns dessen bewusst, dass eine isolierte Beurteilung nicht den Kern des Problems trifft. Wir sehen in der Neutronenwaffe vielmehr ein Signal für die lebensbedrohende und menschenverachtende Logik des Wettrüstens, dass aufgrund seiner immanenten Zwänge darauf angelegt ist, immer perfektere Vernichtungsmittel zu produzieren. Sie ist ein Zeichen für die Irrationalität eines Sicherheitsverlangens, dass auf Gewaltdrohung, Misstrauen und Furcht statt auf Vertrauen und Kooperation begründet ist. Ihre in Aussicht genommene Herstellung wirft darüber hinaus die Frage auf, ob die politischen Entscheidungsträger heute schon weitgehend zu Gefangenen ihrer Rüstungssysteme geworden sind. Wir wissen, dass sich in Europa zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen. Wir wissen auch, dass die Bedeutung der konventionellen Waffen für die wechselseitige Eskalation der Rüstung nicht unterschätzt werden darf.
Als Kirchen sollten wir alles zu tun versuchen, dass ein tiefgreifenderer Bewusstseinswandel erfolgen kann. Diesen Wandel in der öffentlichen Meinung einzuleiten, wird großer Anstrengungen bedürfen. Partikulare Aktivitäten einzelner Kirchen und Christen allein werden hier unwirksam sein. Der Glaubensgehorsam der Christenheit als Ganzer ist notwendig. Wir erinnern uns daran, dass eine unserer Synoden 19577 zur atomaren Bewaffnung in Deutschland gesagt hat:
»Darum verwirft die Synode alle Massenvernichtungsmittel8 und alle Versuche, sie durch irgendwelche Zwecke rechtfertigen zu wollen. Durch die Massenvernichtungsmittel wird in jedem Falle verraten, was man retten will und seien es Freiheit und Frieden. … Sie warnt jeden Einzelnen in dieser Sache durch Beteiligung, Verharmlosung oder Gleichgültigkeit vor Gott und den Menschen schuldig zu werden.«
Wir erkennen erneut die Dringlichkeit der Erziehung zum Frieden und wollen versuchen, zu jedem noch so kleinen praktischen Schritt in dieser Richtung zu ermutigen. Wir wissen, dass es dafür auch in unserer Gesellschaft genug Aufgaben gibt.
Die in diesem Schreiben aufgeworfenen Fragen können wir nicht allein, sondern nur in ökumenischer Gemeinschaft bewältigen. Neben dem multilateralen Austausch zu dem uns das Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen über Militarismus und Wettrüsten die Gelegenheit geben wird, sind wir besonders an einem Gespräch mit Ihnen interessiert. Nach unserer Vorstellung sollte zu diesem Dialog ein offenes und kritisches gegenseitiges Sich-Befragen ebenso gehören, wie das freimütige Ansprechen unserer Befürchtungen und Erwartungen. Wir erhoffen uns vom Dialog eine gegenseitige bessere Befähigung für ein sachgemäßes Gespräch mit unseren Regierungen. Hierzu gehören Fragen wie: Auf welche Weise können die Kirchen die Politiker unterstützen, die sich um die Schaffung alternativer Sicherheitssysteme bemühen? Wie können die Kirchen zu vertrauensbildenden Maßnahmen beitragen? Dieser Dialog könnte ein Beitrag zum Friedenstiften sein. Er könnte als Zeichen dafür verstanden werden, dass wir nicht bereit sind, uns in den Mechanismus der gegenseitigen Aufrechnung und Verteufelung zu verstricken oder in Angst und Resignation zu verfallen. Er könnte in einer gespaltenen Welt zu einem Zeichen der Hoffnung werden.
Wir grüßen Sie in der Gemeinschaft des Glaubens und in der Hoffnung auf Frieden für alle Menschen.
(D. Schönherr) | Bischof | Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der Deutschen Demokratischen Republik