Das Querfurter Papier »Frieden und Gerechtigkeit heute«
7. Juli 1977
Information Nr. 450/77 über eine geplante Unterschriftensammlung unter ein sogenanntes Querfurter Papier mit dem Titel »Frieden und Gerechtigkeit heute« durch kirchliche Kreise
Dem MfS wurde streng vertraulich bekannt, dass im Amtsbereich der Evangelischen Landeskirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg, illegal ein sogenanntes Querfurter Papier mit dem Titel »Frieden und Gerechtigkeit heute« erarbeitet wurde, das »an die Mitarbeiterschaft der evangelisch-katholischen Kirche« gerichtet ist.1 Es ist geplant, dieses Papier zunächst nur im Amtsbereich der Magdeburger Kirchenleitung zu verbreiten und Unterschriften vorwiegend von kirchlichen Mitarbeitern, aber auch eng mit der Kirche verbundenen Laien einzuholen.
Nach weiteren internen Hinweisen wurde bisher eine Unterschriftensammlung im Raum Querfurt durchgeführt, wobei u. a. acht Pfarrer aus diesem Bereich ihre Unterschriften leisteten. (Darunter befindet sich Dr. Wolfram Nierth, Pfarrer in Schraplau.) Die nächsten Unterschriftensammlungen sollen im Raum Naumburg, Weißenfels, Erfurt und Jena erfolgen.
Mit diesem Papier, das nach bisherigen Hinweisen von Verantwortlichen am Kirchlichen Oberseminar Naumburg verfasst wurde, wird das Ziel verfolgt, durch möglichst zahlreiche Unterschriften Bischof Krusche zu »zwingen«, an die staatlichen Organe mit entsprechenden Forderungen zur Durchsetzung der im Papier vorgetragenen »Probleme« heranzutreten.
Der Inhalt dieses Papiers, das in der Anlage im vollen Wortlaut beigefügt wird, befasst sich in verbrämten Formulierungen mit Problemen der verfassungsmäßigen Ordnung in der DDR und beinhaltet z. T. verklausuliert die Forderung, diese Ordnung zu verändern. Das Papier enthält wahrheitswidrige Behauptungen zur Tätigkeit staatlicher Organe der DDR und zielt u. a. darauf ab, das Verhältnis Kirchenleitung – Staat in der DDR zu beeinträchtigen. So wird in dem Papier betont, der Auftrag der Kirche bestehe darin, die »christliche Versöhnung in die Fragen und Probleme unserer Gesellschaft zu übersetzen«. Was Handreichungen und Hirtenworte der Kirchenleitungen bisher dazu gesagt hätten, habe oft zu wenig Breitenwirkung erzielt. Weiter heißt es, die Kirche könne dem Prinzip des Klassenkampfes nicht zustimmen, und »es genüge nicht, friedliche Koexistenz mit bloßem Nichtkrieg zu verstehen« [sic!]. Dem Frieden diene es nicht, wenn unter dem Stichwort der Verteidigungsbereitschaft »eine umfassende Militarisierung des Denkens und Lebens aufkomme; wenn in Andersdenkenden ein Feind gesehen werde, den es unter Umständen zu vernichten gilt; wenn immer mehr Berufs- und Bildungswege nur noch nach einer freiwilligen Meldung zur Armee für drei Jahre zu erlangen seien«. Es erweise sich, dass Christen, die der herrschenden Ideologie nicht zustimmten, von der Mitverantwortung ausgeschaltet würden und dass Ein- und Ausreisebeschränkungen ohne Begründung verhängt würden. Die Kirche würde ihrem Auftrag treu bleiben, wenn sie die »Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung für jedermann einfordere« und sich für ein »allseitiges Informationsrecht für jedermann« einsetze. Es müsse der »Anspruch auf Möglichkeit zur Kritik am Bestehenden ohne nachfolgende Repressalien« vorhanden sein. In diesem Zusammenhang wird in dem Papier auf die Schlussakte der KSZE2 verwiesen.
Es wird vorgeschlagen, dass vom Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Seigewasser, ein Gespräch mit Bischof Krusche geführt wird mit dem Ziel, diesen zu veranlassen, die gegen den Staat gerichteten Aktivitäten kirchlicher Amtsträger und kirchlich gebundener Kräfte aus seinem Amtsbereich zu unterbinden. Nach der mit Bischof Krusche durchgeführten Aussprache sollte auch Bischof Schönherr vom Sachverhalt informiert und veranlasst werden, entsprechende Schritte einzuleiten, um weitere gegen die DDR gerichtete Aktivitäten auszuschalten.
Bischof Krusche gegenüber sollte argumentiert werden, den Staatsorganen sei bekannt, dass von Verantwortlichen der Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg, ein Schreiben verfasst wurde, in dem gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR Stellung genommen wird. Es sollte darauf verwiesen werden, dass das Schreiben wahrheitswidrige Behauptungen zur Tätigkeit staatlicher Organe der DDR enthält und darauf abzielt, das Verhältnis Kirchenleitung – Staat in der DDR zu beeinträchtigen. Bischof Krusche sollte weiter darauf aufmerksam gemacht werden, dass dieses Schreiben zur Unterschriftsleistung auffordert und sich bereits kirchliche Amtsträger durch ihre Unterschrift mit dessen Inhalt solidarisiert haben. Damit werde offensichtlich beabsichtigt, Christen in der DDR in einen Widerspruch zu ihren Pflichten als Bürger der DDR zu verstricken. Es sollte betont werden, das Handeln der dafür Verantwortlichen habe mit der Wahrnehmung der verfassungsmäßig garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit nichts mehr zu tun, da es in dem Papier eindeutig um Probleme geht, die außerhalb der Rechte und Pflichten der Kirche liegen. Falls die Notwendigkeit besteht, Bischof Krusche vorzuhalten, wer dieses Papier unterzeichnet hat, kann der Name des Pfarrers Dr. Wolfram Nierth, Schraplau, genannt werden.
Bischof Krusche sollte ersucht werden, im Rahmen seiner Verantwortung für die Einhaltung der Rechtsordnung der DDR zu sorgen und Klarheit darüber zu schaffen, dass sich Verantwortliche der Kirche nicht in staatliche Angelegenheiten einzumischen haben.
Diese Information ist wegen Quellengefährdung nicht für eine öffentliche Auswertung geeignet.
Anlage zur Information Nr. 450/77
An die Mitarbeiterschaft der evangelisch-katholischen Kirche »Frieden und Gerechtigkeit heute«
2 Kor. 5/20
So bitten wir nun in Christi statt, lasset Euch versöhnen in Gott.3 Versöhnung ist Sinn und Ziel des kommenden Christi in die Welt. Versöhnung ändert den Menschen und Verhältnisse. Unser Auftrag ist es, die Versöhnung betreffs Christi in die Fragen und Probleme unserer Gesellschaft zu übersetzen. Es nötigt uns aber auch, unser tägliches Verhalten in den hiesigen Lebensverhältnissen ständig zu überprüfen. Es ist dringend geboten, weil Teile der Kirche um die Erhaltung ihrer Position in der Gesellschaft willen in der Gefahr stehen, sich den Erwartungen der Umwelt in falscher Weise anzupassen. Wenn wir Kirche für andere sein wollen, erstreckt sich unser Auftrag um [sic!] alle, die in diesem Land leben. Was Kirchenleitungen bisher in Handreichungen und Hirtenworten dazu gesagt haben, besaß oft zu wenig Breitenwirkung. Nun haben es Gemeinden und Öffentlichkeit gehört, aber in der Praxis würde es kaum umgesetzt. Mitarbeiter erkennen immer deutlicher die Gefahr der wachsenden Fremdbestimmung und des bequemen Schweigens. Wir bitten Sie mit uns zu überlegen, worauf kommt es jetzt an?
- 1.
Friede ohne Versöhnung ist kein echter und bleibender Friede. Er stellt nur die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln dar. Wir können dem Prinzip des Klassenkampfes nicht zustimmen, weil es die Versöhnung mit dem Gegner von vornherein ausschließt. Um des Menschen willen können Konflikte nicht mehr mit Gewalt gelöst werden. Gegenseitiges Übereinkommen muss an ihre Stelle treten. Dafür genügt es nicht, friedliche Koexistenz mit bloßem Nichtkrieg zu verstehen. Statt Einübung in den Hass brauchen wir Tränen in Toleranz, statt Abgrenzung Brücken der Verständigung, statt geistiger und materieller Aufrüstung Bereitschaft, für einander Opfer zu bringen. Echtem Frieden dient es nicht:
- a)
wenn unter dem Stichwort der Verteidigungsbereitschaft eine umfassende Militarisierung des Denkens und Lebens aufkommt;
- b)
wenn im Andersdenkenden ein Feind gesehen wird, den es unter Umständen zu vernichten gilt;
- c)
wenn immer mehr Berufs- und Bildungswege nur noch über eine freiwillige Meldung zur Armee für drei Jahre zu erlangen sind;
- d)
wenn eine umfassende Umerziehung zum Freund-Feind-Denken erreicht werden soll. Wir sehen dadurch den Menschen in seinem Menschsein gefährdet. Friede, der die Versöhnung zur Voraussetzung hat, respektiert jeden Menschen in seiner Lebensgestalt, die er vor sich selbst und vor Gott zu verantworten hat.
- a)
- 2.
Der Mensch ist wichtiger als ein ideologisches System
Der gesellschaftlichen Vielfalt steht die Einheitsgesellschaft als erklärtes Ziel entgegen. Hieraus ergibt sich eine bleibende Spannung, die jedoch zugunsten der Würde und des Eigenwertes des Einzelnen gelockert werden muss. Nur wo die Pluralität beachtet wird, werden Menschen gern Bürger ihres Staates sein. Gesundes menschliches Zusammenleben ist nur dort möglich, wo die Freiheit des Einzelnen in einem ausgewogenen Verhältnis zur Bildung an das soziale Ganze steht. Unter den Sach- und Gemeinschaftszwängen darf nicht die Würde und Freiheit des Einzelnen verlorengehen. Der vor Gott freie Mensch soll auch vor den Menschen frei sein. Darauf ergeben sich folgende Notwendigkeiten:
- a)
Der Mensch ist von Gott zum Glauben gerufen. Wer diesem Ruf folgt, darf nicht Benachteiligungen ausgesetzt sein. Weiterhin indessen sind Christen, die der herrschenden Ideologie nicht zustimmen können, von der Mitverantwortung ausgeschaltet. Wird aber eine eigene Mitarbeit unmöglich gemacht, ist der Mensch seiner Entfaltungschance beraubt, die zu seiner Sinnerfüllung führt.
- b)
Der Mensch hat von Gott mit der Befreiung eine Aufgabe an den anderen bekommen. Er darf daher nicht Beschränkungen im Umgang mit Menschen seiner Wahl unterliegen. Viele leiden unter Ein- und Ausreisebeschränkungen, die ohne Begründung verhängt werden. Nur wer die Möglichkeit zu grenzenloser Liebe und Freundschaft hat, wird diese auch innerhalb der Grenze seines Landes gern verwirklichen. Nur wer frei ist zu gehen, wird freiwillig gern bleiben.
- c)
Der Mensch muss die ihn befreiende Geschichte Christi erzählen. Er darf nicht aus Furcht vor Konsequenzen schweigen. Bei unangenehmen Folgen braucht er aber auch die Unterstützung der Gemeinde. Kinder und im Glauben noch nicht Gefestigte vermögen diesen Glaubensmut weiterhin nicht zu bringen. Ein Übermaß an einseitiger Dauerbeeinflussung schafft Scheu, sich zu äußern und seine Überzeugung zu bekennen. Aus der Befreiung Gottes leitet sich daher für uns das Recht auf die Freiheit zum Wort ab. Will Kirche ihrem Auftrag treu bleiben, wird sie die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung für jedermann einzufordern haben. Die Gesellschaft nimmt Schaden, wo stattdessen Gleichgültigkeit und Apathie um sich greifen.
- d)
Der Mensch muss das Wort Gottes hören können. Auch in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Gefängnissen und Internaten müssen Möglichkeiten zur Kenntnisnahme offenstehen. Ein Klima der Differenzierung wirkt dem aber entgegen. Darüber hinaus wehren wir uns gegen Einengung der christlichen Literatur, insbesondere der theologischen Fachliteratur und gegen das Verbot ihres Austausches über Grenzen hinweg. Im Blick auf die anderen leitet sich auch für uns das allseitige Informationsrecht für jedermann ab. Je mehr Massenmedien und Druckerzeugnisse einer Richtung zugelassen sind, kann es zu keiner eigenverantwortlichen Meinungsbildung und Gewissensentscheidung kommen. Die Folge können Fanatismus und Opportunismus sein, in jedem Fall aber Mangel am Verstehen der anderen und Unversöhnlichkeit, die Sicherheit, Zusammenarbeit und Frieden verhindern.
- e)
Der Mensch muss Anspruch auf die Möglichkeit zur Kritik am Bestehenden haben. Wer kritisiert hat Hoffnung für die anderen. Nur wo offene Kritik keine Repressalien befürchten muss, wird gesellschaftliches Engagement sinnvoll. Das sind keine schrankenlosen Rechte, sie sind eingebaut in die Verantwortung des anderen, dessen Freiheit und Würde nur von der Liebe, die aus der Versöhnung kommt, gewahrt wird.
Wir sind dankbar, dass diese aus dem Einsatz Gottes für den Menschen kommenden Rechte auch so deutlich in der Schlussakte von Helsinki verankert worden sind.
Nur wenn sie an erster Stelle rangieren, wird eine geistige und gesellschaftliche Ordnung als Hilfe und nicht als Zwang empfunden werden.
- a)
- 3.
Die Menschheit hat nur Zukunft in universaler Zusammenarbeit
Die Erde hat nur begrenzte Lebensquellen. Der Mensch wird nur dann überleben können, wenn er mit Menschen jeder Richtung auszukommen bereit ist. Die Aufgaben des zukünftigen Überlebens verlangen, dass wir willig sind, schon morgen mit dem Gegner von heute zusammenzuarbeiten (Martin Luther King). Friede und Gerechtigkeit geben die Grundbedingungen für das Leben von morgen ab. Wir halten es darum für gefährlich
- a)
wenn einer dem anderen sein System aufzwingen will. Jeder muss an den anderen mitdenken und so die ganze Menschheit im Auge behalten;
- b)
wenn nur das partikulare Eigeninteresse hochgehalten und die Kleinheit des eigenen Lebensraumes übersehen wird; wer den eigenen Anspruch um die begrenzte Möglichkeit überschätzt, ist sich nicht der gegenseitigen Abhängigkeit und der Chancen einer echten Zusammenarbeit zum Wohle aller bewusst;
- c)
wenn wir als ein reiches Land nicht stärker die Verantwortung für die Not der dritten Welt erfassen; Rüstungsbeschränkungen und politisch uneigennützige Opfer materieller Art können alleine der sich steigenden Not wehren. Wir brauchen Einübung in unumgängliche Verzichte;
- d)
wenn das kleine Maß an praktizierter Verantwortung für die Not der Welt noch behindert wird. Die Aktion »Brot für die Welt« und »Not in der Welt« sind ein kleiner Einübungsversuch. Alle Spenden sollten endlich uneingeschränkt in ihren Bestimmungsgebieten wirksam werden.
- a)
Wir sehen keine Alternative für die aufgezeigten Schritte zu mehr Gerechtigkeit und Frieden nach innen und außen. Um diese zu fördern, gilt es, bequemen Konformismus aufzugeben und entschlossener Zeugnis von dem Angebot in Frieden Christi in dieser Umgebung abzulegen. Wer andere dazu ermutigen möchte, gebe dieses durch seine Unterschrift zu erkennen.