EDV-Probleme im Fleischkombinat Eberswalde
18. August 1977
Information Nr. 557/77 über einige Probleme der Prozesssteuerung und Organisation im VEB Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O., mittels EDVA
Dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge schätzen Experten im Zusammenhang mit der Errichtung des VEB Schlacht- und Verarbeitungskombinates Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O., (SVKE), ein, dass gegenwärtig noch solche Mängel, Missstände und ungelöste Probleme im Zusammenhang mit der Prozesssteuerung und Organisation durch vorhandene EDVA bestehen, dass selbst der mit der Berlin-Consult (BC) protokollarisch vereinbarte neue Termin für die Aufnahme des Dauerbetriebes im SVKE (1.9.1977) ernsthaft infrage gestellt sei.
Von den Fachexperten wird besonders auf folgende Probleme aufmerksam gemacht:
Im Vertrag zwischen dem VE AHB Industrieanlagen-Import (IAI) und Berlin Consult über die Lieferung eines Schlacht- und Verarbeitungskombinates ist festgelegt, den Produktionsprozess (Schlachtung, Verarbeitung, innerbetrieblicher Transport – einschließlich dem [sic!] Informationssystem der Leitung, Planung, Abrechnung und Kontrolle des Produktionsprozesses sowie der Kundenauftragsbearbeitung) der Anlage mittels EDVA zu steuern.
In Realisierung dieser auf einer Forderung der DDR basierenden Festlegung wurde die Fa. Digitron/Schweiz von BC als Subunternehmer für die Lieferung der Prozesssteuerungsanlage (3 Rechner vom Typ PDP-11/70-System) in Verbindung mit der Computer-Firma DEC/USA verpflichtet.1
Das Gesamtvorhaben der Prozesssteuerung im SVKE stellt nach Einschätzung von Experten von der Problematik und vom Umfang her ein Spitzenvorhaben auf dem Gebiet der Prozessrechentechnik in der DDR dar. Die Prozesssteuerung ist im Projekt so konzipiert, dass der gesamte Materialfluss (technologischer Ablauf) über die EDVA gesteuert wird. Die Nichtrealisierung des EDVA-Projektes hätte einen Produktionsausfall von ca. 60–80 % der projektierten Leistung des Kombinates (im 2-Schichtbetrieb jährlich ca. 1 Mrd. M Warenproduktion) zur Folge.
Die Anforderungen zur Prozesssteuerung wurden durch die DDR-Seite in einer Beilage zum Import-Vertrag unter alleiniger Verantwortung des VEB Datenverarbeitung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft (MLFN) erarbeitet und in den Vertrag aufgenommen. Experten schätzen ein, dass der in dieser Beilage formulierte Liefer- und Leistungsumfang zu global gestaltet worden sei und daher eine unterschiedliche Interpretation seitens des Verkäufers und des Käufers zulasse.
Die Vorprojektbestätigung des vom Verkäufer BC vorgelegten EDVA-Projektes erfolgte Ende 1975 in Verbindung mit der Erteilung von zahlreichen Auflagen unter maßgeblicher Mitwirkung des VEB Datenverarbeitung des MLFN. Der Verkäufer BC sicherte seinerseits wiederholt bis November 1976 zu, dass das EDVA-Projekt termin- und qualitätsgerecht fertiggestellt wird.
Internen Feststellungen zufolge hat sich die DDR-Seite (GAN, IAG/Kombinatsleitung des SVKE, MLFN) von Ende 1975 bis November 1976 offensichtlich auf die durch BC gegebenen Zusicherungen verlassen. Darüber hinaus wurde die zentrale Bedeutung der Prozesssteuerung und Organisation des SVKE mittels EDVA generell unterschätzt.
Diese Tatsache ist besonders daraus ersichtlich, dass durch die genannten staatlichen Organe und Betriebe bisher keine wesentlichen Schritte unternommen wurden, um die Realisierung der gegenüber BC erteilten Auflagen zu kontrollieren, um die weitere Präzisierung des EDVA-Projektes zu erwirken und die durchgängige Mitwirkung des VEB Datenverarbeitung des MLFN bei der Kontrolle der Realisierung des EDVA-Projektes durch die Firma Digitron zu gewährleisten. Es wurde auch nicht Sorge dafür getragen, dass die noch im Herbst 1976 vertraglich vereinbarten Schulungen für EDVA-Spezialisten der DDR beschickt wurden.
Offensichtlich erst im Zusammenhang mit einer Information der BC vom November 1976 über bestehende Embargobestimmungen der USA für den Rechner-Typ PDP 11/70-System der Firma DEC, einschließlich bestehender Exportbeschränkungen für das sozialistische Wirtschaftsgebiet, und die sich daraus ergebenden nachteiligen Folgen für die Montage und Testung durch die Schweizer Firma Digitron – Beginn des Probebetriebes musste auf den 1.4.1977 verlegt werden – wurde den Verantwortlichen in zunehmendem Maße die Tragweite der Prozesssteuerung für den störungsfreien und parametergerechten Betrieb des SVKE deutlich.
Aufgrund vorgenannter Probleme konnten die ursprünglich für Ende 1976 vereinbarten Funktionstests der Rechner erst in der Zeit vom 27.3.1977 bis 19.4.1977 im Rahmen von zwölf Funktionstests und eines integrierten Tests von BC und Digitron gefahren werden. Danach hat der Käufer, das SVKE, die Funktionstüchtigkeit der Rechner protokollarisch bestätigt und damit die formellen Voraussetzungen für den Beginn des Probebetriebes geschaffen.
Dem MfS vorliegenden internen Hinweisen zufolge sind bereits in der Phase der Funktionstests der Rechner zahlreiche Mängel aufgetreten, die die Bestätigung des Funktionsnachweises als verfrüht erscheinen lassen.
Derartige Mängel bestanden im Wesentlichen darin:
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Die Anzahl der manuellen Eingriffe zur Ergebniskorrektur durch Bedienungskräfte der Fa. Digitron lagen über dem üblichen Maß beim Einfahren ähnlicher Anlagen.
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Die vereinbarte Fehlerquote wurde in der Regel überschritten.
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Die Funktionstests mussten in der Mehrzahl mehrfach abgearbeitet werden, da sowohl Programmfehler als auch Ausfälle des Rechners auftraten.
Während der Testung der konkreten Steuerungsfunktionen der EDVA unter Produktionsbedingungen kamen die Steuerungsfunktionen der Rechner wiederholt völlig zum Erliegen, sodass der Probebetrieb häufig unterbrochen werden musste. Dieser Zustand konnte bisher nicht behoben werden, d. h., es treten pro Tag zwei bis drei Systemzusammenbrüche und ca. 20 bis 30 Ausfälle von Teilprogrammen sowie Fehler an diesen auf.
Gegenwärtig gibt es darüber hinaus eine Reihe von weiteren Mängeln in der EDVA, die sich hinderlich auf die planmäßige Fortsetzung des Probebetriebes der Gesamttechnologie des SVKE auswirken und in Folgendem bestehen:
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Die Speicherkapazitäten der Rechner sind zu gering ausgelegt, um die anfallenden Informationen abzuarbeiten.
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Die Firma Digitron hat daraufhin das alte Betriebssystem gegen ein neues vom Typ RX 11 D ausgetauscht, um die Kapazität zu erhöhen und die anfallenden Operationen zeitlich aufeinander abgestimmt verarbeiten zu können. Diese Maßnahme zeigte nicht den erhofften Erfolg, sodass gegenwärtig durch die Firma Digitron laufend eingespeicherte Programme aus dem Rechnerprozess herausgenommen oder andere Programme reduziert werden.
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Es treten Fehler in der Abstimmung des technologischen Ablaufs und der Erfassung und Verarbeitung der Operationen durch den Rechner auf. Die Rückmeldung, Erfassung und Korrektur solcher Störgrößen ist nicht gegeben. Insbesondere bei der Ein- und Auslagerung im dynamischen Lager, den Kühlräumen usw. treten Störungen der Transporttechnologie (Regalförderzeuge) auf, die dazu führen, dass die Chargen vom Rechner angesteuerte Zielstellen nicht erreichen. Da der Rechner diese Fehler nicht erfasst, kommt es zu falschen Ein- und Auslagerungen. Dieses Problem hat die Firma Digitron ebenfalls bereits erkannt, weshalb sie zwischenzeitlich zusätzlich Signaleinrichtungen und Motoren in Übergabestellen installiert, ohne jedoch den Käufer dabei hinzuzuziehen bzw. über die getroffenen Veränderungen hinreichend zu informieren.
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Der Datenaustausch zwischen der Zentralen Elektronischen Datenverarbeitung (ZEDV) und Prozessrechner ist nicht gegeben. Da die ZEDV alle Vorgänge der Produktion und Organisation erfasst, auswertet und daraus das neue Programm der Prozessrechner für die nächste Schicht erarbeitet, ist ein planmäßiger technologischer Prozess ohne diesen Datenaustausch (Auslagerungsband) nicht möglich. Obwohl BC bereits am 5. Mai 1977 mitteilte, dass der Datenaustausch gewährleistet sei, existiert dieser immer noch nicht und hemmt damit die planmäßige Steuerung des gesamten technologischen Prozesses.
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Die Umschaltzeiten bei Ausfall eines Rechners sind zu hoch. Die ZEDV ist in der Lage, für zwei Tage die Funktion eines anderen Rechners zu übernehmen. Fällt einer dieser Rechner aus, wird eine Umschaltzeit auf die ZEDV von 30 bis 40 Minuten benötigt, um das Programm und somit den technologischen Ablauf weiterzuführen. Diese 30 bis 40 Minuten umfassende Umschaltzeit bedeuten Produktionsstillstand und sind nach Aussagen von Experten wesentlich zu hoch.
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Es liegen bisher keine konkreten Antihavarie- und Notprogramme für den Fall des Ausfalls eines Rechners vor. In diesem Zusammenhang sind die ersten Arbeitsergebnisse eines zwischenzeitlich aus mehreren Ministeriumsbereichen der Industrie gebildeten EDVA-Beratungskollektivs bedeutsam, die besagen, dass ein vierter Rechner notwendig sei, um die Verfügbarkeit der gesamten EDV-Anlage entsprechend den Erfordernissen (kontinuierliche Produktion, vorbeugende Wartung und Instandsetzung, Überwindung von Havarien) zu gewährleisten. Auch die Anzahl und Qualifikation der im SVKE zum Einsatz kommenden EDVA-Kader der DDR sei nicht ausreichend.
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Als unvertretbar erweise sich auch die Tatsache, dass der BC angezeigte Mängel trotz gegenüber dem Käufer gemachten Zusagen bisher nicht beseitigt wurden.
In Anbetracht der vorgenannten Umstände im Zusammenhang mit dem Einsatz der EDVA im SVKE und ausgehend davon, dass sich die Probleme der Funktionsfähigkeit der EDVA und ihre Beherrschung durch das DDR-Personal zum neuralgischen Punkt für den weiteren Probebetrieb und die Aufnahme des Dauerbetriebes herausgestellt haben, sollte zur kurzfristigen Veränderung der Situation und Wahrung der DDR-Interessen besonders auf die vorrangige Lösung nachfolgender Probleme Einfluss genommen werden:
Einer der Stellvertreter des Kombinatsdirektors im SVKE sollte kurzfristig mit der Leitung der Prozesssteuerung und Organisation beauftragt werden, um zu sichern, dass alle im SVKE eingesetzten EDVA-Kader der DDR, einschließlich des Beratungskollektivs der Ministerien, zentral angeleitet nach einer einheitlichen – noch zu erarbeitenden – Konzeption arbeiten.
Darüber hinaus sollte eine exakte Analyse des gegenwärtigen Standes der Sicherung der Funktionstüchtigkeit der EDV-Anlage sowie eine generelle Qualifizierung der analytischen Tätigkeit und Berichterstattung im weiteren Verlauf des Probebetriebes als wesentliche Voraussetzungen zur Verbesserung der Leitungstätigkeit erfolgen.
Es müsste außerdem von BC eine vollständige Dokumentation des EDVA-Projektes mit den bereits vorgenommenen Veränderungen einschließlich der Erfahrungen des bisherigen Probebetriebes gefordert werden. Weiterhin wäre die Schaffung von eindeutigen vertraglichen Regelungen als Basis zur Durchsetzung der sich als notwendig erweisenden berechtigten Forderungen der DDR gegenüber der Firma Digitron bzw. Berlin Consult und zur Überwindung der Verzögerungstaktik zu verlangen.
Berücksichtigt werden müsste desgleichen auch die Schaffung solcher kadermäßigen Voraussetzungen im SVKE, die die leitungsmäßige und fachliche Bewältigung der Prozesssteuerung und Organisation des SVKE bei Übernahme der Anlage gewährleisten.
Im Hinblick darauf müsste gegenüber der Firma Digitron kurzfristig erreicht werden, dass während des weiteren Probebetriebes unkontrollierte bzw. gegenüber der DDR nicht dokumentierte operative Veränderungen und manuelle Eingriffe in die Prozesssteuerung und ZEDV unterbleiben.