Festnahme eines NVA-Hauptmanns wegen Fluchtvorbereitungen
16. Mai 1977
Information Nr. 330/77 über die beabsichtigte Fahnenflucht eines Offiziers der Nationalen Volksarmee
Dem MfS wurde bekannt, dass der Offizier der Nationalen Volksarmee, Hauptmann [Name 1, Vorname 1] (29), geb. [Tag] 1948, wohnhaft: [PLZ, Ort, Adresse], zuletzt tätig als Oberoffizier für Agitation des Motorisierten Schützenregiments [Ort] (MSR-[Nr.]), intensive Vorbereitungen für seine Fahnenflucht und das gleichzeitige ungesetzliche Verlassen der DDR durch seine Ehefrau, die Staatsbürgerin der Ungarischen Volksrepublik, [Name 1, Vorname 2, Geburtsname] (34), geb. [Tag] 1942, wohnhaft: [PLZ, Ort, Adresse], getroffen hat.
Gegen Hauptmann [Name 1] wurde am 14.5.1977 gemäß § 254 StGB – Fahnenflucht – ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und auf gleicher Rechtsgrundlage Haftbefehl erlassen.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:
[Name 1] entstammt einer Angestelltenfamilie. Gemeinsam mit seinem Stiefbruder, [Vorname Name 2], der bis 1976 2. Sekretär der SED-Kreisleitung [Ort] war und gegenwärtig an der Parteihochschule »Karl Marx« studiert, wuchs er im Haushalt seiner seit 1955 geschiedenen Mutter, der ehemaligen Kaderleiterin im VEB Kammgarnwerk [Ort], [Vorname 3 Name 1], auf, die ihn im fortschrittlichen Sinne erzog.
Nach Abschluss der 10. Klasse und der Berufsausbildung als Betriebsschlosser absolvierte er von 1967 bis 1970 die Offiziershochschule der Landstreitkräfte in Löbau.
Danach erfolgte sein Einsatz als Granatwerferzugführer sowie später als FDJ-Sekretär eines Bataillons im MSR-[Nr.] [Ort]. Im Jahre 1972 wurde er zur Militärpolitischen Hochschule der NVA in Berlin-Grünau delegiert.
Während dieses Studiums lernte er 1973 die ungarische Staatsbürgerin [Vorname 2 Geburtsname] kennen, die damals als Sekretärin bei der Botschaft der UVR in der DDR und ab Januar 1976 in der gleichen Funktion im Außenministerium ihres Landes tätig war.
Am 15.8.1976 beendete sie ihre berufliche Tätigkeit und begab sich anschließend in die DDR, wo sie am 3.9.1976 mit [Name 1] die Ehe einging und in der Folgezeit mit Aufenthaltsgenehmigung bei diesem in [Ort] verblieb.
Nach der 1973 erfolgten Rückversetzung des [Name 1] zum MSR-[Nr.] war er als Politoffizier und zuletzt als Oberoffizier für Agitation des Truppenteils eingesetzt. Er ist seit 1967 Mitglied der SED und gehörte zeitweilig der Parteileitung des Regimentes an.
Seit etwa 1973 entwickelten sich bei [Name 1] zunehmend negative Verhaltensweisen, die sich u. a. in wachsender Unlust zum Dienst und Entlassungsbestrebungen widerspiegelten. Die seit dieser Zeit mit ihm geführten erzieherischen Auseinandersetzungen zeigten keinen Erfolg. Entsprechend den bisherigen Untersuchungen hat sich [Name 1] nach einem am 1.3.1977 von ihm begangenen Disziplinarverstoß (beleidigendes Auftreten gegenüber seinem Vorgesetzten in einer öffentlichen Gaststätte) entschlossen, mithilfe der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR fahnenflüchtig zu werden. Von diesem Vorhaben will er seine Ehefrau in Kenntnis gesetzt haben, die sich nach anfänglichen Bedenken bereiterklärt haben soll, gemeinsam mit ihm die DDR ungesetzlich zu verlassen.
In der Zeit seit dem 21.4.1977 hielt sich [Name 1] gemeinsam mit seiner Ehefrau zum Urlaub in Mende/UVR auf. Ende April 1977 suchte er in Budapest die Botschaft der BRD auf und bat um Hilfe bei der Realisierung seines verbrecherischen Vorhabens. Durch einen Mitarbeiter der Botschaft der BRD in der UVR wurde ihm diesbezüglich die Möglichkeit einer Ausschleusung mittels gefälschter BRD-Reisepässe in Aussicht gestellt.
In Abhängigkeit von weiteren Untersuchungsergebnissen wird bezüglich des konkreten Anteils an der Straftat des [Name 1] entschieden, inwieweit strafrechtliche oder andere Maßnahmen gegen die Ehefrau eingeleitet werden.
Die Untersuchungen des MfS werden fortgesetzt.