Festnahme eines Ostdeutschen wegen »Staatsfeindlicher Hetze«
18. Juli 1977
Information Nr. 481/77 über die Festnahme des DDR-Bürgers Fechner, Stefan, wegen des dringenden Verdachtes der staatsfeindlichen Hetze
Am 16. Juli 1977, 4.00 Uhr, wurde der DDR-Bürger Fechner, Stefan, Joachim, geb. am [Tag] 1953, Beruf: Buchverkäufer in der Phillipp-Müller-Buchhandlung, 1136 Berlin, Straße der Befreiung 20, wohnhaft: 1058 Berlin, [Adresse], Familienstand: ledig, bei der Ausreise in die ČSSR an der Grenzübergangsstelle Bad Schandau festgenommen, nachdem bei der Zollkontrolle festgestellt worden war, dass er eine Druckschrift »Charta 77«1 in tschechischer Sprache, drei verschiedene maschinenschriftliche Materialien und eine handschriftliche Ausarbeitung hetzerischen Inhalts mit sich führte.
In einer bei Fechner sichergestellten, mit »Thesen zum Programm« überschriebenen, zehn Punkte umfassenden Ausarbeitung wird behauptet, dass die politische Macht in der DDR, der Sowjetunion und allen anderen sozialistischen Staaten nicht von der Arbeiterklasse, sondern von einer »Schicht der Bürokratie« ausgeübt werde. Es wird die Forderung erhoben, »… sich außerhalb der bürokratischen Apparate zu organisieren und die politische Herrschaft der Bürokratie zu stürzen …« und dass »sich die Arbeiterklasse für den Sturz des Kapitalismus und der Bürokratie in ihren Aktionen im Rahmen des jeweiligen Staates und auf Weltebene vereinheitlichen müsse«.
Gleichartige Diskriminierungen und konterrevolutionäres Gedankengut enthält die von Fechner ebenfalls mitgeführte Durchschrift eines Aufrufs vom 25.9.1976, der »An die Genossen der internationalen Arbeiterkorrespondenz« gerichtet ist, mit der Aufforderung an die internationale Arbeiterklasse »zur Solidarität mit den in Berlin verhafteten und wegen ihres konsequenten Vertretens ihrer politischen Auffassung inhaftierten Genossen: Rupert Schröter, Rudolf Molt, Reinhard Langenau«.2
In einer weiteren bei Fechner sichergestellten Abhandlung wird beschrieben, wie eine negative Gruppierung in den musikalisch-literarischen Veranstaltungsreihen »Eintopp« und »Kramladen« konterrevolutionäres Gedankengut zu verbreiten versuchte,3 dieser, über 20 Personen umfassende Kreis sich eine Vereinsgründung zum Ziel gesetzt hatte und die Selbsttötung des Pfarrers Brüsewitz4 zum Anlass nahm, einen offenen Brief an den Generalsekretär der SED zu verfassen, der durch die Verhaftung der Mitorganisatoren Schröter, Molt und Langenau nicht zum Versand kam.
Des Weiteren führte Fechner handschriftliche Aufzeichnungen mit sich, die thesenhaft seine linksrevisionistischen Auffassungen zur Bildung einer »autonomen Gewerkschaft« enthalten.
Gegen Fechner wurde wegen des dringenden Verdachts der staatsfeindlichen Hetze gemäß § 106 StGB in Verbindung mit § 108 StGB (Staatsverbrechen, die gegen ein anderes sozialistisches Land gerichtet sind)5 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erwirkt.
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben:
Fechner, Stefan, ist der Sohn des ehem. Oberbürgermeisters von Groß-Berlin und jetzigen Vorsitzenden der Interparlamentarischen Gruppe der Volkskammer, Genossen Herbert Fechner.
Er nahm nach Abschluss der Oberschule 1973 ein Psychologie-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin auf und wurde Anfang 1976 wegen ungenügender Studienleistungen exmatrikuliert. Danach arbeitete er im VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik, Berlin-Marzahn. Seit 1.3.1977 ist er als Buchhändler in der Berliner Buchhandelsgesellschaft tätig.
Während seines Studiums war er Mitglied einer negativen Gruppierung, zu der u. a. die Personen Kahl, Wilfried, Schröter, Rupert, Molt, Rudolf, Langenau, Reinhard, gehörten.
Gegen Kahl, Schröter, Molt und Langenau werden Ermittlungsverfahren mit Haft wegen staatsfeindlicher Hetze durchgeführt, da sie Hetzschriften hergestellt und verbreitet haben, in denen die Partei- und Staatsführung und die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR als unfrei und undemokratisch diskriminiert werden.
In dem Ermittlungsverfahren gegen Kahl wurde Fechner zeugenschaftlich vernommen. In der Zeugenvernehmung identifizierte er sich mit den Auffassungen des Kahl und bestätigte, dass er bis zu seiner Exmatrikulation Kenntnis von Inhalt und Verbreitung der Hetzschriften hatte.
In den bisherigen Vernehmungen behauptete Fechner, dass er alle mitgeführten Machwerke selbst verfasst, niemanden gezeigt und »zufällig« bei seiner Ausreise in die ČSSR mit sich geführt habe. Über die konkrete Herkunft und den tatsächlichen Verwendungszweck dieser Hetzmaterialien macht Fechner bisher widersprüchliche Angaben.
Bei der durchgeführten Wohnungsdurchsuchung wurden u. a. eine Schrift von Solschenizyn6 sowie eine Flugschrift, die von der »Gruppe Internationaler Marxisten« (IV. Internationale)7 anlässlich der Bundestagwahlen 1976 verbreitet wurde, sichergestellt.
Die Untersuchungen werden durch das MfS fortgesetzt.