Festnahme eines wesdeutschen Grenzverletzers
24. Juni 1977
Information Nr. 422/77 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zu dem am 22.6.1977 von der BRD aus in das Staatsgebiet der DDR eingedrungenen [Name 1, Vorname 1]
Am 22.6.1977, gegen 14.35 Uhr, wurde der im Raum Probstzella, Bezirk Gera, auf der ehemaligen F 85 in das Gebiet der DDR eingedrungene, seit 30.3.1976 in der BRD aufenthältliche Bürger der DDR, [Name 1, Vorname 1] (20), geb. am: [Tag] 1957, Beruf: Koch, zuletzt: angelernter Elektromonteur bei der Fa. [Name] in Dillingen, wohnhaft: 888 Dillingen/Donau, [Adresse], ledig, keine Kinder, von Angehörigen der Grenztruppen der DDR festgenommen, nachdem er zuvor der Aufforderung zum Verlassen des Territoriums der DDR nicht nachgekommen war.
[Name 1] schwenkte beim ungesetzlichen Grenzübertritt ein an einem Stock befestigtes Taschentuch mit der Aufschrift: »Ich bin unbewaffnet! Nicht schießen!«
Bei der Festnahme führte [Name 1] ein vom »Notaufnahmelager« Gießen1 ausgestelltes Schreiben, in dem ihm nach dem ungesetzlichen Verlassen der DDR (30.3.1976) die Aufenthaltserlaubnis für die BRD erteilt wurde und ein weiteres Schriftstück bei sich, welches ultimative Forderungen gegenüber staatlichen Organen der DDR enthält. Dieses als »Eröffnung« bezeichnete Schriftstück beinhaltet einen Erpressungsversuch im Zusammenhang mit seiner in der DDR lebenden Schwester und beweist, dass [Name 1] den Grenzübertritt in eindeutig provokatorischer Absicht beging.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:
[Name 1] wuchs in der DDR in geordneten familiären Verhältnissen auf. Nach dem Abschluss der zehnklassigen Oberschule nahm [Name 1] eine Lehre als Koch auf und wurde als Kandidat der SED aufgenommen.
Am 30.3.1976 verließ [Name 1] vor Beendigung seiner Lehrausbildung gemeinsam mit seiner damaligen Verlobten [Name 2], geb. am: [Tag] 1959 in Dresden (18), zzt. Lehrling, wohnhaft: 888 Dillingen, [Adresse], im Raum Blankenstein, Kreis Lobenstein, ungesetzlich die DDR nach der BRD.
Den ungesetzlichen Grenzübertritt beging [Name 1] aufgrund seiner ablehnenden Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR sowie wegen Schwierigkeiten im Elternhaus.
Über seinen Aufenthalt in der BRD sagt [Name 1] bisher Folgendes aus: In der BRD seien er und die [Name 2] Dienststellen der Bayerischen Grenzpolizei in Kronach und Ludwigsstadt, das Notaufnahmelager Gießen sowie Dienststellen des Bundesverfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes durchlaufen. Danach sei ihre Einweisung nach Dillingen erfolgt, wo [Name 1] zunächst in einer Gaststätte als Koch tätig wurde. Seit 3.3.1977 arbeite er bei der Firma [Name] in Dillingen als angelernter Elektromonteur.
Im Januar 1977 habe [Name 1] in einer Gaststätte in Dillingen einen Philosophie-Studenten mit Vornamen »Leo« (25 Jahre), der Mitglied der CDU sein soll, kennengelernt, dem er in der Folgezeit die Absicht anvertraute, die Ausreise seiner in der DDR wohnhaften Schwester [Name 1, Vorname 2] (16), geb. am [Tag] 1960, wohnhaft: 8291 Steina, [Adresse], Kreis Kamenz, nach Vollendung ihres 18. Lebensjahres im Rahmen einer sogenannten Familienzusammenführung in die BRD zu fordern.
Nach Aussagen des [Name 1] habe »Leo« aufgrund seiner Feindschaft zur DDR [Name 1] den Vorschlag unterbreitet, diese Sache für eine politische Provokation gegen die DDR zu nutzen, um deren Ansehen in der Weltöffentlichkeit zu schädigen. Dieser Vorschlag beinhaltete das illegale Eindringen des [Name 1] in die DDR und die Erpressung der DDR-Behörden durch Veröffentlichung des Vorhabens in westlichen Massenmedien. Mit dieser Provokation sollte das Ziel verfolgt werden, den BRD-Bürgern zu demonstrieren, dass die Bemühungen der BRD-Regierung hinsichtlich einer Normalisierung der Beziehungen zur DDR ständig auf Widerstand stoßen würden, weil die DDR nicht gewillt sei, menschliche Erleichterungen zu gewähren.
Da [Name 1] im Wesentlichen die politischen Anschauungen des »Leo« teilt und sich außerdem an der Ausreise seiner Schwester in die BRD interessiert zeigte, erklärte er sich mit dessen Vorschlag für eine Provokation gegen die DDR einverstanden.
Mitte Juni 1977 war von »Leo« die endgültige Fassung des »Ultimatums« fertiggestellt, in dem [Name 1] für sich und seine Schwester die Ausreise in die BRD fordert, anderenfalls mit der Veröffentlichung seiner Festnahme in der DDR in westlichen Massenmedien am 24.6.1977, gegen 12.00 Uhr, gedroht wurde.
In Vorbereitung dieser Provokation übergab [Name 1] am Morgen des 22.6.1977 einer mit »Leo« befreundeten Person auftragsgemäß das Original und zwei Durchschriften dieses »Ultimatums« zum Zwecke deren Übersendung an den Bayerischen Rundfunk, das Bayerische Fernsehen und an die »Bild«-Zeitung in München.
[Name 1] erhielt die Instruktion, in den zu erwartenden Vernehmungen in für ihn schwierigen Situationen die Aussage zu verweigern und dabei auf die ihm laut StPO der DDR zustehenden Rechte zu verweisen. Er war des Weiteren orientiert worden, dass er aufgrund der von den Massenmedien der BRD zu erwartenden Reaktion nur mit einer kurzzeitigen Inhaftierung in der DDR zu rechnen habe. [Name 1] war beauftragt, sich alle Einzelheiten seines Aufenthaltes in der DDR vom Zeitpunkt der Festnahme bis zur Rückkehr in die BRD zum Zwecke einer exakten Berichterstattung genau einzuprägen. Gleichzeitig wurde ihm Unterstützung im Falle des Eintretens von beruflichen oder finanziellen Schwierigkeiten nach seiner Rückkehr in die BRD zugesagt.
In Durchführung dieses Vorhabens verließ [Name 1] am 22.6.1977, gegen 7.17 Uhr, Dillingen mit der Bundesbahn und reiste nach Ludwigsstadt, von wo aus er sich zur Staatsgrenze der DDR begab und anschließend auftragsgemäß illegal in das Staatsgebiet der DDR eindrang.
Die bisherigen Überprüfungen haben ergeben, dass die in der DDR lebende 16-jährige Schwester des [Name 1] bisher weder rechtswidrig Ersuchen auf Übersiedlung nach der BRD stellte, noch Kenntnis hatte von den diesbezüglichen provokatorischen Aktivitäten des [Name 1].
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung des Umfangs, der Hintergründe, Inspiratoren und Zusammenhänge dieser Grenzprovokation werden fortgesetzt.
Ausgehend vom gegenwärtigen Stand der Untersuchungen wird um Entscheidung gebeten, ob auf der Grundlage der dafür geltenden Rechtsnormen die Untersuchung gegen [Name 1] mit Haft fortzuführen oder [Name 1] aus der DDR auszuweisen ist.