Flucht eines Grenzsoldaten nach Bayern
19. April 1977
Information Nr. 244/77 über die Fahnenflucht eines Unteroffiziers der Grenztruppen der DDR im Bereich des Grenzregiments 10 Plauen, Bezirk Karl-Marx-Stadt, am 17.4.1977 in die BRD
Am 17.4.1977 wurde dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt, dass der Unteroffizier [Name, Vorname], geb. am [Tag] 1957, wohnhaft: Meerane, Kreis Glauchau, Bez. Karl-Marx-Stadt, [Adresse], Angehöriger der Grenztruppen der DDR seit 4.5.1976, Nachrichtenunteroffizier (Unteroffizier auf Zeit), [Nr.] Grenzkompanie [Ort], Grenzregiment 10 Plauen, parteilos, ledig, keine Kinder, nicht vorbestraft, am 17.4.1977, in der Zeit von 9.30 Uhr bis 13.40 Uhr, in Dienstuniform und unter Mitnahme des Wehrdienstausweises im Sicherungsabschnitt der [Nr.] Grenzkompanie [Ort], Grenzregiment 10, nach der BRD fahnenflüchtig wurde.
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS im Zusammenwirken mit den Grenztruppen der DDR und dem zuständigen Militärstaatsanwalt ergaben:
Am 17.4.1977 war die [Nr.] Grenzkompanie des Grenzregiments 10 in der Zeit von 5.00 Uhr bis 13.00 Uhr zur Sicherung der Staatsgrenze eingesetzt. [Name] hatte während dieser Zeit seinen Dienst im Objekt der Grenzkompanie zur Pflege und Wartung der ihm anvertrauten Nachrichtentechnik zu versehen. Nach Beendigung des Grenzdienstes wurde um 13.40 Uhr ein Appell für die Grenzkompanie befohlen und dabei festgestellt, dass [Name] fehlte und auch im Objekt der Grenzkompanie nicht auffindbar war. Erste Befragungen von Angehörigen der Grenzkompanie ergaben, dass [Name] letztmalig um 9.30 Uhr bei der Einnahme des Frühstücks gesehen wurde.
Im Ergebnis der 13.50 Uhr eingeleiteten Suchmaßnahmen erfolgte gleichzeitig die Abriegelung der Staatsgrenze. Dabei wurde gegen 14.25 Uhr ca. 1 000 m südöstlich von [Ort] eine Spur über den 6 m-Kontrollstreifen und vor dem Grenzzaun I eine Uniformmütze aufgefunden, die zweifelsfrei als zu [Name] gehörend identifiziert wurden. Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass [Name] am hinteren Teil des Objektes, an dem keine Sicherungsposten eingesetzt waren, den Objektzaun überwand und sich auf geradem Wege durch das angrenzende Waldgebiet bis zur in ca. 500 m Entfernung befindlichen Staatsgrenze bewegte. Den Grenzzaun überwand er mithilfe angelehnter Wurzeln und Äste. (Der Grenzabschnitt ist nicht vermint.)
Die in diesem Abschnitt eingesetzten Grenzposten waren in einer Entfernung von 600 bzw. 800 Metern rechts und links vom Ereignisort eingesetzt und konnten die Durchbruchstelle nicht einsehen.
Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurde im Wertfach seines Spindes ein Briefumschlag mit folgender Aufschrift gefunden: »Ich haue ab, habe die Schnauze voll.«
Die Untersuchungen zum Persönlichkeitsbild des [Name] ergaben:
[Name] entstammt einer Arbeiterfamilie und wurde im fortschrittlichen Sinne erzogen. Seine Eltern sind als Produktionsarbeiter im VEB Textilfertigung Meerane beschäftigt. Er hat weitere vier Geschwister, die sämtlich in Meerane wohnhaft sind. Die Familienverhältnisse sind geordnet. Nach Abschluss der 10. Klasse der POS erlernte er im VEB Spinnstoffwerk »Otto Buchwitz« in Glauchau den Beruf eines Facharbeiters für chemische Produktion, den er mit guten Ergebnissen abschloss. Er trat stets kameradschaftlich und hilfsbereit auf und war im Kollektiv geachtet. Im Rahmen der FDJ leistete er eine aktive gesellschaftliche Arbeit. Bei seiner Einberufung verpflichtete sich [Name] als Soldat auf Zeit. Nach Beendigung des Wehrdienstes beabsichtigte [Name], ein Chemiestudium aufzunehmen.
Nach dem Besuch der Unteroffiziersschule VI Perleberg, die er mit guten Ergebnissen absolvierte, wurde er im Oktober 1976 als Nachrichtenunteroffizier zur [Nr.] Grenzkompanie [Ort] versetzt. Im Gegensatz zu seiner guten Dienstdurchführung vertrat er selbst mehrfach die Auffassung, die Fülle der ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben nicht erfüllen zu können. Er war deshalb zeitweilig mutlos und niedergeschlagen.
Bei einer im April im Bereich Nachrichtenwesen der Kompanie durchgeführten Kontrolle wurde festgestellt, dass bei [Name] kleinere Fehlbestände bei Werkzeugen vorhanden waren. Durch den Bataillonskommandeur war am 14.4.1977 entschieden worden, [Name] zur Wiedergutmachung des Schadens mit 100 M in Regress zu nehmen. Im Ergebnis einer Nachkontrolle am 15.4.1977 traten wiederum kleine Fehlbestände auf, worauf ihm erneute Regressmaßnahmen angedroht wurden.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen ist zu schlussfolgern, dass die vorgenannten Umstände in Verbindung mit der festgestellten psychischen Labilität den Anlass für die Fahnenflucht des [Name] bildeten.
Die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Fahnenflucht sowie Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgesetzt.