Geheimnisverrat durch einen stellvertretenden VEB-Direktor
6. April 1977
Information Nr. 210/77 über die Aufklärung von Straftaten gegen die Volkswirtschaft durch einen leitenden Mitarbeiter des VEB Chemiefaserkombinat »Wilhelm Pieck«, Schwarza
Am 31.3.1977 wurde gegen den Brauns, Hans-Georg, geb. am [Tag] 1930, wohnhaft: Rudolstadt, [Adresse], beschäftigt gewesen als Direktor für Beschaffung und Absatz und 1. Stellvertreter des Generaldirektors im VEB CFK »Wilhelm Pieck«, Schwarza, Mitglied der SED seit 1952, aus der BRD in die DDR übergesiedelt im Jahre 1951, durch das MfS wegen dringenden Verdachts der unbefugten Offenbarung wirtschaftlicher Geheimnisse ein Ermittlungsverfahren gemäß § 172 StGB1 eingeleitet und auf gleicher Rechtsgrundlage Haftbefehl erlassen.
Brauns hat eigenen Angaben zufolge seit dem Jahre 1972 aus einer labilen ideologischen Einstellung zur Arbeiter-und-Bauern-Macht sowie aus Gründen persönlicher Bereicherung unter Missbrauch der ihm übertragenen verantwortlichen Funktion auf dem Gebiet der Chemiefaserproduktion die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR geschädigt, indem er im Auftrag und gegen Bezahlung durch das BRD-Unternehmen Amöko/Hamburg2 an diese Firma geheim zu haltende Informationen über die planmäßige Tätigkeit der Chemiefaser- und Textilindustrie der DDR, ihre perspektivische Entwicklung und die geplante Struktur der Ex- und Importbeziehungen dieses Industriezweiges übergab. (Die Fa. Amöko/Hamburg ist eine Handelsfirma, die enge kommerzielle Beziehungen zu den bedeutendsten Chemiefaserproduzenten und Textilbetrieben Westeuropas sowie zu den Außenhandelsbetrieben der sozialistischen Staaten – u. a. zum AHB Textilcommerz der DDR – unterhält.)
Brauns hat nachweislich und auftragsgemäß in zahlreichen, zum Teil unter konspirativen Bedingungen durchgeführten Zusammentreffen mit führenden Vertretern der Fa. Amöko sowie unter Verletzung der ihm obliegenden Geheimhaltungspflicht an diese vor allem Informationen über
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die Ex- und Importkonzeptionen der DDR auf dem Sektor der verschiedenartigen Chemiefasern für das jeweilige Planjahr und den Perspektivplanzeitraum bis 1980,
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den Bedarf der sozialistischen Volkswirtschaft an diesen Erzeugnissen und die in Aussicht genommenen Lieferländer und -firmen,
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bestehende und zu erwartende Produktionsschwierigkeiten, Engpässe und Fertigungsumstellungen in der chemiefaserherstellenden Industrie der DDR,
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das geplante Exportvolumen der DDR – aufgeschlüsselt nach Sortimenten, Abnehmern und Jahren sowie
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die Export-Importpreispolitik
preisgegeben.
Brauns nutzte dazu neben umfangreichen Kenntnissen, die ihm aufgrund seiner verantwortlichen Funktion zugänglich waren, insbesondere auch seine Mitgliedschaft im Präsidium der Kammer für Außenhandel sowie seine Tätigkeit als Vorsitzender des Warenzeichenverbandes für Kunststofferzeugnisse e. V. der DDR.
Der durch den Verrat der im wirtschaftlichen Interesse der DDR geheim zu haltenden Tatsachen für die Volkswirtschaft der DDR entstandene Schaden lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Untersuchungen noch nicht quantifizieren, er besteht jedoch insbesondere
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in einer bedeutenden Schwächung der Positionen des entsprechenden Außenhandelsbetriebes der DDR bei Ex- und Importverhandlungen mit Firmen nichtsozialistischer Staaten,
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daraus resultierenden finanziellen Verlusten und
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in der Schaffung einer bestimmten Abhängigkeit des AHB Textilcommerz von Zulieferungen der Fa. Amöko sowie bei der Erfüllung der Exportplanaufgaben in das NSW.
Für seine Straftaten gegen die Volkswirtschaft der DDR erhielt Brauns neben wertvollen Sachwerten, Konsumgütern und zahlreichen Lebensmitteln nachweislich mindestens Bargeldbeträge in Höhe von 15 000 M DBB sowie 20 000 Mark der DDR. Die an ihn gezahlten Abfindungen kamen weitgehend seinen Bestrebungen entgegen, unter den Bedingungen der DDR die westliche Lebensweise zu pflegen.
Während seiner langjährigen Tätigkeit im Bereich der Chemiefaserindustrie hat sich Brauns ein umfangreiches Wissen angeeignet, ist dadurch in eine Schlüsselposition beim Ex- und Import von Chemiefasern aufgerückt. Er hat das Vertrauen leitender Mitarbeiter des Industriezweiges, des zuständigen Außenhandelsbetriebes und anderer Industriebetriebe im Zusammenhang mit der Begehung der Straftaten gröblichst missbraucht.
Darüber hinaus hat es Brauns verstanden, durch sein äußerlich progressives Auftreten insbesondere den dienstlichen Umgangskreis über seine wirklichen Haltungs- und Handlungsweisen über Jahre hinweg zu täuschen.
Die Untersuchungen werden durch das MfS insbesondere mit dem Ziel fortgesetzt, die Hintergründe und mögliche, bisher unbekannte Auftraggeber für das systematische Sammeln wirtschaftlicher Informationen und die damit angestrebten Absichten zur Störung der Außenwirtschaftsbeziehungen der DDR und zur Desorganisierung des Bereiches Chemiefaserindustrie durch BRD-Firmen oder -Dienststellen aufzuklären.