Hungerstreik eines Westberliners am »Checkpoint Charlie«
13. Juli 1977
Information Nr. 468/77 über provokatorische Handlungen eines Westberliner Einwohners am Grenzkontrollpunkt »Checkpoint Charlie« (gegenüber der Grenzübergangsstelle Friedrich-/Zimmerstraße) am 13.7.1977
Am 13.7.1977, gegen 11.20 Uhr, erschien der ständige Einwohner von Berlin (West), Gustoniak, Norbert, geb. am [Tag] 1954, wohnhaft: Berlin (West) 33, [Adresse], tätig als Schweißer bei einer Westberliner Montagefirma, im Vorfeld des Westberliner Grenzkontrollpunktes »Checkpoint Charlie« und führte ein aus Sperrholz bestehendes, ca. 1,50 × 1,00 m großes Transparent mit, dessen Text in deutscher und englischer Schrift lautet: »Ich bin so lange im Hungerstreik, bis meine Braut und mein einjähriger Sohn ausreisen dürfen.« Gegen 11.35 Uhr begann er, unmittelbar neben der am Westberliner Kontrollpunkt vorhandenen Tribüne, mit dem Aufbau eines Zeltes. Das Transparent wurde von ihm so aufgestellt, dass der Text nur für Personen, die sich im Westberliner Hinterland aufhalten, lesbar ist.1
Wie dem MfS in diesem Zusammenhang bekannt wurde, beabsichtigt Gustoniak, einen Hungerstreik und andere damit verbundene demonstrative Handlungen durchzuführen. Diese Provokation erfolgt auf Initiative des »Leiters« der »Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V.«,2 Hildebrandt, Rainer, der, seinen eigenen Angaben entsprechend, folgende Maßnahmen zur Unterstützung des Gustoniak vorgesehen hat:
- –
Erarbeitung von Handzetteln, in denen auf das Anliegen des Gustoniak hingewiesen wird und die er selbst verteilen soll;
- –
Bereitstellung eines Zeltes für Gustoniak als Unterkunft für die nächsten Tage;
- –
Einsatz eines Arztes zur regelmäßigen Kontrolle des Gesundheitszustandes des Gustoniak.
(Über diese provokatorischen Absichten war in den vergangenen Tagen auch in mehreren Westberliner Zeitungen berichtet worden.)3
Das Ziel dieser provokatorischen Handlungen besteht darin, durch »öffentlichkeitswirksame Maßnahmen« Druck auf die staatlichen Organe der DDR auszuüben, um die Ausreise der angeblichen Verlobten des Gustoniak, [Name, Vorname 1], geb. am [Tag] 1958, wohnhaft: 1125 Berlin, [Adresse], tätig als pflegetechnische Hilfskraft beim Rat des Stadtbezirks Berlin-Weißensee, Abt. Gesundheitswesen, und ihres gemeinsamen Kindes, [Name, Vorname 2], geb. am [Tag] 1976, nach Westberlin zu erzwingen.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS zum Persönlichkeitsbild des Gustoniak ergaben:
Gustoniak entstammt einer fortschrittlich eingestellten kinderreichen Familie. Sein Vater ist als Kraftfahrer beim Bundesvorstand des FDGB beschäftigt und Mitglied der SED. Die Mutter ist Hausfrau. Er entzog sich bereits im Kindesalter dem Einfluss des Elternhauses und schloss sich negativen jugendlichen Kreisen an. Gustoniak ist wegen staatsfeindlicher Hetze, versuchten ungesetzlichen Grenzübertrittes und asozialen Verhaltens mit insgesamt drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug vorbestraft. Während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Jahre 1973 stellte er mehrere Ersuchen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, denen im Mai 1975 stattgegeben wurde. Es erfolgte seine Ausweisung nach Westberlin.
Am 14.12.1976 verließ Gustoniak mit einer weiteren Person die Transitstrecke BRD–Westberlin und reiste rechtswidrig in die Hauptstadt der DDR ein. Am gleichen Tag wurde Gustoniak durch die Sicherheitsorgane der DDR festgenommen.
In der gerichtlichen Hauptverhandlung am 16.12. und 17.12.1976 wurde Gustoniak wegen gemeinschaftlich begangenen ungesetzlichen Grenzübertrittes (gemäß § 213 StGB)4 zu sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Zusätzlich wurde eine Ausweisung aus dem Staatsgebiet der DDR verfügt, die nach Entlassung aus dem Strafvollzug am 14.6.1977 nach Westberlin erfolgte.
Der [Name, Vorname 1] ist der Gustoniak seit ihrer Kindheit aus dem gemeinsamen Wohngebiet bekannt. Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich ein freundschaftlich-intimes Verhältnis, aus welchem das Kind [Vorname 2] hervorging.
Inspiriert durch Gustoniak und auf sein ständiges Drängen hin ersuchte die [Name] im März und Mai 1976 beim Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte, Abteilung Innere Angelegenheiten, um ihre Übersiedlung nach Westberlin und stellte gleichzeitig einen Antrag auf Eheschließung. Darüber hinaus suchte sie – ebenfalls auf Betreiben des Gustoniak – im August 1976 die Ständige Vertretung der BRD in der DDR auf, um sich bezüglich ihrer Übersiedlungsabsicht »beraten« zu lassen. Seit diesem Zeitpunkt unternahm sie jedoch keinerlei derartige Aktivitäten mehr.
Wie die weiteren Untersuchungen ergaben, hat die [Name] ihre Bindungen zu Gustoniak vollständig gelöst, da sie einen DDR-Bürger kennenlernte, der derzeitig seinen Ehrendienst in der NVA ableistet und den sie zu heiraten beabsichtigt. Am 12.7.1977 gab die [Name] beim Rat des Stadtbezirks Weißensee, Abteilung Innere Angelegenheiten, eine schriftliche Erklärung ab, in der sie ihre Ersuchen auf Eheschließung mit Gustoniak und die damit verbundene Übersiedlung nach Westberlin zurückzieht und sich von der ihr zur Kenntnis gelangten geplanten Provokation des Gustoniak distanziert.
Es wird empfohlen, in Abhängigkeit von der Intensität der provokatorischen Handlungen des Gustoniak, in geeigneter Form publizistisch zu reagieren.