Illegaler Straßenhandel polnischer Bürger in der DDR
1. August 1977
Information über den von Bürgern der VR Polen betriebenen illegalen Straßenhandel in verschiedenen Bezirken der DDR [Bericht O/42]
Dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge betreiben Bürger der VR Polen, die im Rahmen des pass- und visafreien Reiseverkehrs in die DDR1 einreisen, in zunehmendem Maße – insbesondere jedoch seit Beginn des Jahres 1977 – auf dem Territorium der DDR einen umfangreichen illegalen Straßenhandel. Besondere Konzentrationspunkte stellen die Hauptstadt, die Bezirke Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt sowie die an die VR Polen grenzenden Bezirke dar, wo dieser »Handel« in der Regel schon straff organisierten Charakter angenommen hat.
Diese Erscheinungen stoßen unter der DDR-Bevölkerung immer mehr auf Ablehnung und es wurden bereits einzelne Forderungen bekannt, dass die zuständigen staatlichen Organe der DDR gegen diese missbräuchliche Ausnutzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs geeignete und wirksame Maßnahmen einleiten sollten. Ähnliche Forderungen wurden auch aus Kreisen polnischer Bürger bekannt, die in der DDR arbeiten bzw. studieren, z. B. Angehörige des Generalkonsulats der VR Polen in Leipzig, des Informations- und Kulturzentrums, und das Auftreten ihrer Landsleute als eine Diskriminierung ihres Heimatlandes betrachten.
Ganz offensichtlich nutzen viele Bürger der VR Polen ihre Einreisen in die DDR dazu aus, mittels der von ihnen illegal mitgeführten und zum Verkauf angebotenen Waren spekulative Geldgewinne in Mark der DDR zu erzielen. Mit den in der DDR erzielten Geldeinnahmen und Spekulationsgewinnen werden in der VR Polen günstig absetzbare DDR-Erzeugnisse (vorwiegend Schuh- und Lederwaren, Haushaltsartikel, Spielzeug, Miederwaren, Babybekleidung, Fleisch und Fleischerzeugnisse) in größeren Mengen erworben und unter Verletzung der Zollbestimmungen der DDR illegal ausgeführt. Vorzugsweise setzt sich das von polnischen Bürgern in der DDR angebotene Warensortiment aus solchen Artikeln zusammen, die von vielen DDR-Bürgern besonders gefragt bzw. im DDR-Einzelhandel kaum oder nur schwer zu erhalten sind. Es handelt sich dabei z. B. um
- –
verschiedene modische Textilien (seidene Tücher, Damenpullover, Jacken, Blusen und Jeansbekleidung),
- –
Thermoventilatoren und Warmluftheizer,
- –
Modeschmuck und diverse Kosmetikerzeugnisse (insbesondere Lizenzerzeugnisse kapitalistischer Firmen),
- –
Petroleumlampen,
- –
Süßwaren (Kakaoerzeugnisse, Lutscher), Kaugummi und Zigaretten,
- –
Lederwaren und Wildlederbekleidung sowie
- –
kunstgewerbliche Gegenstände, Schallplatten u. a.
Teilweise werden in diesen Handel auch Intershop-Waren einbezogen. Zu diesem Zweck werden die von polnischen Bürgern erzielten Geldeinnahmen z. B. zum Kurs von 1: 4 oder 1: 5 gegen D-Mark eingetauscht.
Bevorzugt erfolgt das Anbieten der Waren in belebten Hauptgeschäftsstraßen (z. B. Alexanderplatz – Fußgängertunnel Karl-Liebknecht-Straße, Rathauspassagen, vor und in Warenhäusern, in Gaststätten und Geschäften, auf Straßen und Plätzen, in Einrichtungen mit hohem Besucherverkehr, z. B. Wochenmarkt Pankow, Tierpark Berlin) sowie in Dienstleistungseinrichtungen.
Außerdem werden zielgerichtet Wohngebiete aufgesucht, um bei den Einwohnern persönlich Waren zu verkaufen. In diesem Zusammenhang hat sich teilweise bereits ein regelrechtes »Bestellsystem« mit einem festen Abnehmerkreis entwickelt, der nach Abnahme größerer »Posten« wiederum selbst weiterverkauft.
Neben sogenannten Einzelgängern im illegalen Straßenhandel haben sich in zunehmendem Maße bestimmte Gruppen gebildet, die arbeitsteilig vorgehen, indem Angehörige dieser Gruppen z. B. als Sicherungsposten, Verkäufer, Warenzubringer, Kassierer, Geldboten usw. tätig werden. Auf diese Weise soll offensichtlich gesichert werden, dass das Eingreifen der Organe der Deutschen Volkspolizei bzw. der Zollverwaltung rechtzeitig erkannt wird und die Beschlagnahme der Waren sowie der Bargeldeinnahmen verhindert bzw. auf ein Minimum beschränkt werden kann. Das erklärt z. T. auch die Tatsache, dass es sich bei 90 % der durch die zuständigen Organe zugeführten polnischen Bürger um sogenannte Einzelgänger handelt.
In letzter Zeit reisen größere Gruppen polnischer Bürger gemeinsam in bestimmte Bezirke (zumeist größere Kreisstädte) ein, die offensichtlich unter Leitung einer im illegalen Straßenhandel »erfahrenen« Person stehen. Diese Person führt an den Reisezielen regelrechte »Einweisungen« über die für den illegalen Straßenhandel günstigen Örtlichkeiten durch und übergibt zugleich den anderen Gruppenmitgliedern bestimmte Mengen des für den Verkauf vorgesehenen Warensortiments.
Um die in diesem Zusammenband erfolgende Ermittlungs- und Kontrolltätigkeit der Deutschen Volkspolizei und des Zolls zu erschweren, benutzen die in den Straßenhandel einbezogenen polnischen Bürger oftmals in der VR Polen gemietete Kraftfahrzeuge. Verschiedentlich übertragen polnische Bürger den Verkauf illegal eingeführter Waren auch an DDR-Bürger, zu denen freundschaftliche Beziehungen hergestellt wurden und die wiederum einen größeren Bekanntenkreis haben (z. B. Mitarbeiter des Einzelhandels, Friseusen usw.).
Gegenwärtig können über den Umfang der täglich illegal eingeführten Warenmengen und über die Höhe der beim Verkauf der Waren erzielten spekulativen Gewinne keine verbindlichen Aussagen getroffen werden. Stichprobenartige Kontrollen bei Einzelpersonen erbrachten zwar Hinweise auf illegal eingeführte Warenmengen bzw. Bargeldmittel, jedoch stehen diese in keinem Verhältnis zu den tatsächlich zum Verkauf gelangenden Warenmengen.
Aufschlussreicher waren z. T. die im 1. Halbjahr 1977 durchgeführten Transportmittelkontrollen in Reisezügen. So wurden in verschiedenen Verstecken offensichtlich zum illegalen Verkauf bestimmte Waren im Wert von 134 000 Mark festgestellt und beschlagnahmt, für die sich keiner der einreisenden polnischen Bürger als Besitzer zu erkennen gab. (Es handelt sich u. a. um 2 000 Schmuck- und Kosmetikerzeugnisse, 700 Langspielplatten, 300 Geldbeutel, Brieftaschen u. a. Lederwaren, 80 Gasfeuerzeuge, 25 Thermoventilatoren, zehn Bohrmaschinen, diverse Kunst-, Wild- und Lederjacken, Porzellanartikel und Küchentabletts mit Volkskunstmotiven.)
Weiter wurde festgestellt, dass einreisende polnische Bürger bei von ihnen erkannten intensiven Zollkontrollen seitens der Angehörigen der Zollverwaltung der DDR die mitgeführte Handelsware sofort aus den Reisezügen werfen. (In der Nähe des Grenzbahnhofes Forst konnten an einem Tag beispielsweise drei Pakete mit 244 Strickjacken und 20 Damenpullovern – Gesamtwert 21 000 Mark – sichergestellt werden.)
Neben dem unmittelbaren illegalen Straßenhandel erfolgen gleichfalls Geldtauschgeschäfte – hauptsächlich von im Zentrum der Hauptstadt spekulierenden polnischen Bürgern – mit Wechselkursen im Verhältnis
- –
Zloty – Mark der DDR – 15: 1,
- –
D-Mark (DBB) – Mark der DDR – 1: 4,
- –
Zloty – D-Mark (DBB) 50: 1 bis 70: 1,
was diesen Personen beträchtliche finanzielle Gewinne einbringt. So werden durch diesen ungesetzlichen Tausch- und Devisenhandel, in den – wie eingangs erwähnt – auch ausgewählte Intershop-Waren einbezogen werden, Tagesgewinne bis zu 200 Mark erzielt. (Als besonders »günstig« gilt der Verkauf von Kaugummi, von dem sich innerhalb einer Stunde ca. 50 Stangen absetzen lassen.)
Im Zusammenhang mit vorgenannten Problemen ist weiterhin beachtenswert, dass in der Nähe verschiedener Objekte bzw. von Wohnsiedlungen der in der DDR stationierten Einheiten sowjetischer Streitkräfte (GSSD) – z. B. Kreis Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, Stadt Prenzlau, Rechlin, [Kreis] Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg – verschiedentlich Tauschgeschäfte zwischen Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte bzw. deren Ehefrauen und polnischen Bürgern festgestellt wurden. Dabei werden von polnischen Bürgern vornehmlich Textilien aus kapitalistischen Staaten, Handtaschen, Perücken und kosmetische Erzeugnisse angeboten, während sie besonders an sowjetischer Währung, Schmuckwaren aus Gold und Uhren interessiert sind. Dieser Tauschhandel erfolgt ebenfalls meist regelmäßig und wird auf der Grundlage eines »Bestellsystems« abgewickelt bzw. durch die Vermittlung von als Zwischenhändlern fungierenden DDR-Bürgern realisiert.2
Trotz der im Allgemeinen überwiegenden Abneigung und Verurteilung derartiger Praktiken polnischer Bürger in öffentlichkeitswirksamen Schwerpunkten werden solche illegalen Handelsgeschäfte vielfach durch ein bestehendes Kaufinteresse bestimmter Käuferschichten aus der DDR-Bevölkerung begünstigt und toleriert. Angeblich würden auf diese Weise die polnischen Straßenhändler mit ihrem »Warenangebot« in der DDR vorhandene »Marktlücken« schließen. Die Ablehnung und Verurteilung dieser Art von »Handelsgeschäften« durch die Mehrheit der DDR-Bevölkerung entstand zunächst in erster Linie infolge des als belästigend empfundenen Auftretens polnischer Straßenhändler und der oftmals unverhältnismäßig hohen Preisforderungen.
Zugleich werden die Missfallensäußerungen auch mit einigen Zweifeln an der Richtigkeit der Wirtschaftspolitik der VR Polen verbunden. Es wird immer wieder betont, dass der polnische Staat dafür sorgen solle, damit die betreffenden, meist jüngeren polnischen Bürger in ihrem Heimatland einer ordentlichen nutzbringenden Tätigkeit zugeführt werden, anstatt die freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Staaten durch ihr Verhalten zu belasten.
In den immer häufiger werdenden Meinungsäußerungen und Diskussionen kommt des Weiteren auch Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass die staatlichen Organe bisher diese Erscheinungsformen illegaler Handelstätigkeit nicht konsequent unterbinden, da es doch »ungesetzlich sei« und »polnische Bürger keine Sonderrechte bei uns genießen könnten«.
Vorliegenden internen Informationen zufolge ist auch dem Personal des Generalkonsulats der VR Polen in Leipzig sowie den Angestellten des Informations- und Kulturzentrums der VR Polen in Leipzig völlig unverständlich, weshalb die Staatsorgane der DDR den Schwarzhandel polnischer Händler nicht unterbinden. Sie befürchten u. a., dass das Ansehen der VR Polen unter den Bewohnern der Stadt Leipzig und ausländischer Gäste in Misskredit gebracht werde und westliche Journalisten diese Erscheinungen aufgreifen und zur Hetze gegen die sozialistischen Staaten ausnutzen könnten. In Leipzig arbeitende und studierende polnische Bürger wenden sich gleichfalls gegen diese Erscheinungen. So unterbreiteten der Parteiorganisation der PVAP des Generalkonsulats angehörende Studenten bereits den Vorschlag, selbst gegen die Schwarzhändler vorzugehen, falls die DVP nicht gegen diese polnischen Bürger stärker einschreite. Auch auf einer Versammlung der Parteiorganisation der PVAP forderten die Genossen der polnischen Firma KRAKBUD3 – Baustelle Messegelände –, den Bauarbeitern zu gestatten, selbst gegen die Spekulanten vorgehen zu können.
Unverständnis wird auch darüber geäußert, dass polnische Bürger Symbole verkaufen dürfen (Feststellungen in Leipzig), die von den amerikanischen Aggressionstruppen in Vietnam getragen wurden. Dabei wird darauf hingewiesen, dass besonders bei Jugendlichen, die überwiegend als Käufer derartiger Symbole in Erscheinung treten, die ideologische Einflussnahme und Erziehung erschwert wird. Staatlicherseits sollte deshalb die Verbreitung solcher Artikel durch polnische Bürger strikt unterbunden werden.
Es sollte erwogen werden, die zuständigen Organe der VR Polen über diese Erscheinungen und Tendenzen sowie deren mögliche Auswirkungen in geeigneter Form zu informieren und sie zu veranlassen, entsprechende Maßnahmen zur Unterbindung derartiger Praktiken in Erwägung zu ziehen. Es wäre dabei zweckmäßig, besonders die Reaktion in der DDR aus beruflichen Gründen aufhältlicher Bürger der VR Polen hervorzuheben. Weiter sollte geprüft werden, inwieweit auf der Grundlage entsprechender innerstaatlicher Rechtsvorschriften der DDR durch die zuständigen örtlichen Organe (Räte der Stadtbezirke und Kreise) differenzierte Maßnahmen eingeleitet werden könnten, ohne dass ein derartiges Vorgehen negative öffentlichkeitswirksame Auswirkungen hervorruft.