Lesung des Schriftstellers Klaus Schlesinger in der ESG Berlin (2)
10. Oktober 1977
Information Nr. 621/77 über die Verhinderung einer nicht genehmigten Lesung des Schriftstellers Klaus Schlesinger vor der evangelischen Studentengemeinde (ESG) Berlin und das öffentliche Auftreten von Bettina Wegner-Schlesinger in Eisenach
Die vorgesehene Lesung des Schriftstellers Klaus Schlesinger aus seinem in der DDR zur Veröffentlichung abgelehnten »Werk« »Berliner Traum«1 am 6.10.1977, 19.30 Uhr, vor der ESG im kircheneigenen Gebäude der Elias-Gemeinde, Berlin-Mitte, Invalidenstraße 4 – siehe Information Nr. 619/77 vom 5.10.1977 –, wurde nicht genehmigt und durch entsprechende Maßnahmen verhindert.
Klaus Schlesinger war seitens verantwortlicher Mitarbeiter des Staatsapparates am 6.10.1977 mitgeteilt worden, dass die geplante Veranstaltung nicht polizeilich gemeldet sei und es als Verstoß gegen die »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen«2 gewertet werden müsse, wenn die Lesung stattfindet. Schlesinger reagierte auf die staatliche Entscheidung einsichtig, betonte jedoch, dass er mit dem verantwortlichen Studentenpfarrer Schreiber einen Vertrag abgeschlossen habe und er den vereinbarten finanziellen Betrag dringend benötige.
Er machte seine Anwesenheit in den Räumen der ESG davon abhängig, ob er von Pfarrer Schreiber eine Absage erhält oder nicht. Er betonte, er sehe die Angelegenheit so, dass ein Verschulden des Veranstalters (Nichtanmeldung der Lesung) vorliege, und er verlange 50 % des Honorars von Pfarrer Schreiber.
Am 6.10.1977, gegen 19.00 Uhr, wurde auch Studentenpfarrer Schreiber unterrichtet, dass die Lesung aus oben genannten Gründen nicht stattfinden kann. Schreiber versuchte auszuweichen, indem er vorgab, dass keine Lesung, sondern nur eine nicht anmeldepflichtige Aussprache mit Schlesinger stattfinden sollte. Er erklärte sich nicht bereit, Schlesinger von der Nichtgenehmigung zu verständigen und verwies darauf, in einem solchen Falle müsse er sich erst mit der ESG verständigen. Pfarrer Schreiber informierte jedoch nicht zu Beginn der Veranstaltung die ca. 80 anwesenden Mitglieder der ESG, sondern erwartete mit mehreren »Vertrauensstudenten«3 vor dem Gebäude Schlesinger. Schlesinger fuhr ca. eine Stunde nach dem angegebenen Veranstaltungsbeginn (in der Zwischenzeit waren im Veranstaltungsraum Gesänge organisiert worden) mit einem Taxi vor. Als er von eingesetzten Sicherungskräften gehindert wurde, das Gebäude zu betreten, bestand er darauf, die Absage persönlich von Studentenpfarrer Schreiber zu erhalten.
Schreiber, der mit fünf »Vertrauensstudenten« diesem Gespräch gefolgt war, betonte daraufhin, er habe bereits gegenüber den Mitarbeitern der staatlichen Organe zum Ausdruck gebracht, es sei lediglich mit Schlesinger ein Gespräch »über die Beziehungen zu Gott« geplant. Er forderte, Schlesinger persönlich solle den Versammelten mitteilen, dass die Veranstaltung polizeilich verboten worden sei.
Dieses Ansinnen wurde von den Sicherungskräften zurückgewiesen, worauf Schlesinger von Schreiber mit Nachdruck die Bezahlung von 50 % Honorar forderte, da er – Schreiber – seinen Pflichten zur polizeilichen Anmeldung der Veranstaltung nicht nachgekommen sei. Anschließend entfernte er sich.
Nach Abweisung des Schlesinger durch die Sicherungskräfte informierte Pfarrer Schreiber die Teilnehmer der Veranstaltung vom Verbot der Lesung und forderte diejenigen, die nur wegen Schlesinger erschienen seien, zum Verlassen des Raumes auf. Daraufhin verließen ca. 50 % der Anwesenden das Gebäude.
Intern ist bekannt, dass Schlesinger äußerte, sich nach diesem Vorfall demnächst mit dem ZDF-Korrespondenten Dirk Sager zu treffen. (Dieses Treffen fand bisher nicht statt.)
Dem MfS wurde bekannt, dass am 6.10.1977 die Sängerin Wegner-Schlesinger, Bettina, (Ehefrau des Klaus Schlesinger) im Rahmen einer Veranstaltung, organisiert vom Klubhaus der Gewerkschaften des VEB Automobilwerk Eisenach, im Hotel »Stadt Eisenach« in Eisenach, in der Zeit von 19.00 Uhr bis 22.45 Uhr, öffentlich vor ca. 600 Teilnehmern auftrat. Die Wegner trug im Verlaufe der Veranstaltung, begleitet von der Jazz-Band »Pape Binnes«,4 mehrere Chansons vor. Zum Schluss der Veranstaltung brachte sie als sogenannte Zugabe ein fünfstrophiges Lied zu Gehör, in dem deutliche Sympathien für ehemalige Künstler der DDR zu erkennen waren. (Der Text des Liedes befindet sich in der Anlage.) Vom Publikum war keine Reaktion auf diesen Vortrag, bis auf den üblichen Applaus, festzustellen.
Anlage zur Information Nr. 621/77
Vortrag der Bettina Wegner
[Orthografie wie im Original]
wenn ich nach einer angstdurchträumten nacht erwache, | da kommt es manchmal, dass ich weinend lache, | weil ich vermisse, was ich einmal hatte – | die schutzhaut, meine harte, meine glatte, | die ist zerrissen und blieb irgendwo.
es sind so viele von uns weggegangen! | ach! hätte niemals niemand damit angefangen! | trauer und wut, das hat euch weggetrieben! | mensch, wär das schön, ihr wäret alle hiergeblieben – | bei euch, bei uns und auch bei mir.
stille statistik wird sich jetzt mit euch befassen. | und doch habt ihr ein bisschen mehr verlassen | als euren zorn und eure bitterkeit, | an viel unrecht und verlogenheit. | da wär noch anderes. das lohnte, hierzubleiben! | ich meine alle, die euch wirklich brauchen
und jetzt in ihrer trauer untertauchen | die euch noch folgen werden auf die gleiche reise | und die hier bleiben, sterben still und leise – | an euch, an uns und, an sich selber auch.
ich werde dieses lied vielleicht nur summen | und eines tages vielleicht ganz verstummen. | schweigend und klein verbucht man diese verluste! | ich weiß nur sicher, dass ich bleiben musste, | dass unsere ohnmacht nicht noch größer wird!5