Lesung Stefan Heyms in der Kirche von Berlin-Bohnsdorf (1)
11. Juli 1977
Information über die von Stefan Heym durchgeführte Lesung am 7.7.1977 in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf [Bericht K 3/14]
Wie in der Information des MfS Nr. 444/77 vom 1.7.1977 bereits erwähnt wurde, erfolgte durch Stefan Heym am 7.7.1977 eine Lesung in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf.
Die Lesung, die in der Zeit von 20.00 bis 22.30 Uhr durchgeführt wurde, war durch den Gemeindepfarrer von Berlin-Bohnsdorf, Dr. Wolfgang Schulze, in Zusammenarbeit mit dem Jungmännerwerk des Stephanus-Stiftes Berlin-Weißensee organisatorisch vorbereitet worden. Ebenso wie die Lesung am 16.6.1977 von Jurek Becker in der Kirche in Berlin-Bohnsdorf wurde auch die Lesung von Stefan Heym durch Dr. Schulze ordnungsgemäß bei der VP-Inspektion Berlin-Treptow angemeldet. Gleichzeitig wurde die Lesung in den Anschlagkästen der Dorfkirche durch handgeschriebene Zettel offiziell angekündigt.
Zur Lesung von Heym waren ca. 300 Personen anwesend. Der Besucherkreis setzte sich in der Mehrzahl aus Personen im Alter von 25 bis 35 Jahren zusammen, wobei Angehörige der Intelligenz und Studenten überwogen. Nur ca. 10 % der Besucher kamen aus Berlin-Bohnsdorf; die übrigen waren aus anderen Stadtbezirken der Hauptstadt. Weitere Besucher waren aus den Bezirken Potsdam und Frankfurt/O. erschienen. Einige Anwesende benutzten zwei Pkw mit westlichem Kennzeichen.
Zu Beginn der Lesung wurde Heym von Dr. Schulze vorgestellt. Dabei betonte Schulze, bei dieser Veranstaltung handele es sich um einen außerordentlichen Gottesdienst, der unter dem Motto stehe: »Wer die Wahrheit Gottes hört, wird in seinen Armen aufgenommen und findet dort Erfüllung. Da Gott aber durch den Menschen spricht, kann auch Stefan Heym zu uns sprechen, da er die Wahrheit sagt.«
Nach dieser Eröffnung las Stefan Heym ca. eine Stunde aus seiner Erzählung »Mein Richard«, die in der DDR bisher nicht veröffentlicht wurde und Anfang 1977 in dem Erzählungsband »Die richtige Einstellung« im Bertelsmann-Verlag München erschien.1 (Die Erzählung »Mein Richard« hatte dem Verlag »Der Morgen« vorgelegen und war durch die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur zur Veröffentlichung abgelehnt worden. In dieser Erzählung wird insbesondere eine solche These suggeriert, Staat und Staatsapparat – Justiz, Sicherheitsorgane – der DDR würden von dogmatischer, herzloser Enge geleitet. Eine durchlässige Staatsgrenze wäre der beste Prüfstein für wirkliche oder erzwungene Treue zum Sozialismus. Die Grundfabel der Geschichte erzählt über zwei Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren, welche die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin 14-mal ungesetzlich überschritten, um in Westberlin ins Kino gehen zu können. Erst als in der Westpresse eine Notiz über diese beiden Jugendlichen erscheint, werden sie in der DDR inhaftiert und abgeurteilt. Dabei wird in der Erzählung die sozialistische Rechtsprechung in der DDR verleumdet; die notwendige Aufklärung des Tatbestandes stellt Heym als skrupellosen Gebrauch der Macht dar.)
Heym erhielt für die Erzählung starken Beifall. In der Diskussion, die offensichtlich vom Veranstalter durch bestimmte gezielte Fragen vorbereitet war, wurden weitere Fragen zum Inhalt der Erzählung, aber auch andere, die kulturpolitische Situation der DDR betreffende, gestellt. Auf die Frage an Heym, inwieweit seine Geschichte auf Tatsachen beruhe, antwortete er, die Story sei aus dem Leben gegriffen, und jeder Schriftsteller müsse die Wahrheit darstellen. Er hoffe, dass seine Geschichte später auch in der DDR erscheinen könne, wofür er sich seit Jahren einsetze. Zielgerichtet wurde die Frage nach dem tieferen Hintergrund der Geschichte gestellt, in welcher sowohl die Helden als auch der Staat Recht hätten, aber der Staat die Macht ausübe.2 Heym antwortete mit einem Gleichnis, wonach er eine Katze, die eine Maus fraß, beobachtet habe, wobei ihm die Maus furchtbar leid getan hätte. Aber die Katze habe eben die Macht. Auf dieses Gleichnis antworteten die Anwesenden mit Beifall und Gelächter.
Befragt nach den Ursachen der Opposition seiner jugendlichen Helden, die eine sozialistische Erziehung erhalten hätten, erklärte Heym, in der DDR gebe es keine perfekte sozialistische Erziehung, sondern man müsse viele andere Umwelteinflüsse einbeziehen. In diesem Zusammenhang erklärte sich Heym bereit, die Lesung vor weiteren Jugendlichen im Oberschulalter zu halten.
Für alle Anwesenden sichtbar ließ Heym während der gesamten Zeit der Diskussion ein Tonband mitlaufen. Während der Diskussion über die Gründe befragt, betonte Heym, dafür gäbe es zwei: Erstens brauche er das gesprochene Wort für seine Memoiren, und zweitens – und das sei noch viel wichtiger – benötige er einen Nachweis, damit man ihm nicht das Wort im Munde umdrehen könne. Dabei verwies er auf die am 16.6.1977 durchgeführte Lesung von Becker, dem der Vorwurf gemacht geworden sei, er habe sich staatsfeindlich geäußert.
Für diese Erläuterung erhielt Heym starken Beifall.
Es ist festzustellen, dass bei der Lesung von Jurek Becker am 16.6.1977 und jetzt erneut bei der Lesung von Stefan Heym nur solche Personen in der Diskussion auftraten, die die sozialistische Entwicklung negierende Fragen stellten und insbesondere solche Passagen der gelesenen Werke unterstützten, die sich im Wesentlichen gegen die sozialistische Ordnung richteten. Nach dem Auftreten von Jurek Becker, auch im Hinblick auf die angekündigte Lesung von Heym, der SED-Bezirksleitung Berlin unterbreitete Vorschläge, die Teilnahme und das offensive Auftreten von politisch zuverlässigen und geeigneten Personen zu organisieren, wurden bisher nicht realisiert. Es wird vorgeschlagen zu prüfen, ob auch zukünftig bei offiziell genehmigten Lesungen dieser und anderer als politisch negativ bekannter Schriftsteller die Diskussion ausschließlich Personen überlassen werden soll, die mit gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Auffassungen auftreten.