Lesung Stefan Heyms in der Kirche von Berlin-Bohnsdorf (2)
20. Juli 1977
Information Nr. 480/77 über die von Stefan Heym durchgeführte Lesung am 7.7.1977 in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf aus seiner in der DDR bisher nicht veröffentlichten Erzählung »Mein Richard«
Von Stefan Heym wurde am 7.7.1977 in der Zeit von 20.00 bis 22.30 Uhr eine Lesung in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf durchgeführt.
Das Zustandekommen dieser Lesung ist nach bisherigen Erkenntnissen zurückzuführen sowohl auf das Bestreben von kirchlichen Kräften als auch von Stefan Heym, Jurek Becker und anderen derartigen Personen, unter Nutzung der Möglichkeiten der Kirche öffentliche Auftritte von Kunst- und Kulturschaffenden mit gegen die DDR gerichteten politischen Grundpositionen zu organisieren. Damit wird offenkundig das Ziel verfolgt, die feindlichen Bestrebungen unter Kultur- und Kunstschaffenden und kirchlichen Kräften zu vereinen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Überlegung, dass sich zur Durchsetzung der feindlichen Pläne und Absichten dieser Kräfte unter Nutzung kirchlicher Veranstaltungen, kircheneigener Räume günstige Möglichkeiten bieten würden. Außerdem versuchen sie damit ihrem Vorgehen einen legalen Anstrich zu geben, wobei sie sich auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften der DDR berufen, die eine ungehinderte Durchführung derartiger Veranstaltungen ermöglichen.
Feststellungen des MfS zufolge werden solche Veranstaltungen in gegenseitigem Einvernehmen durchgeführt, wobei es sich auch bei den betreffenden kirchlichen Amtsträgern um solche Personen handelt, die eine oppositionelle Haltung gegen unseren Staat einnehmen.
Die Lesung war durch den Gemeindepfarrer von Berlin-Bohnsdorf, Dr. Wolfgang Schulze, in Zusammenarbeit mit dem Jungmännerwerk des Stephanus-Stiftes Berlin-Weißensee organisatorisch vorbereitet worden. Ebenso wie die Lesung am 16.6.1977 von Jurek Becker in der Kirche in Berlin-Bohnsdorf wurde auch die Lesung von Stefan Heym durch Dr. Schulze ordnungsgemäß bei der VP-Inspektion Berlin-Treptow angemeldet. Gleichzeitig wurde die Lesung in den Anschlagkästen der Dorfkirche durch handgeschriebene Zettel offiziell angekündigt.
Zur Lesung von Heym waren ca. 300 Personen anwesend. Der Besucherkreis setzte sich in der Mehrzahl aus Personen im Alter von 25 bis 35 Jahren zusammen, wobei Angehörige der Intelligenz und Studenten überwogen. Nur ca. 10 % der Besucher kamen aus Berlin-Bohnsdorf; die übrigen waren aus anderen Stadtbezirken der Hauptstadt. Weitere Besucher waren aus den Bezirken Potsdam und Frankfurt/O. erschienen.
Zu Beginn der Lesung wurde Heym von Dr. Schulze vorgestellt. Dabei betonte Schulze, bei dieser Veranstaltung handele es sich um einen außerordentlichen Gottesdienst, der unter dem Motto stehe: »Wer die Wahrheit Gottes hört, wird in seinen Armen aufgenommen und findet dort Erfüllung. Da Gott aber durch den Menschen spricht, kann auch Stefan Heym zu uns sprechen, da er die Wahrheit sagt.«
Nach dieser Eröffnung las Stefan Heym ca. eine Stunde aus seiner 1973/1974 geschriebenen Erzählung »Mein Richard«, die in der DDR bisher nicht veröffentlicht wurde und Anfang 1977 in dem Erzählungsband »Die richtige Einstellung« im Bertelsmann-Verlag München erschien.1 Stefan Heym hatte diese und andere Erzählungen 1975 dem Buchverlag »Der Morgen« zur Veröffentlichung vorgelegt. In Abstimmung mit der HV Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur wurde diese Erzählung für eine Veröffentlichung abgelehnt. (Die Grundfabel der Geschichte erzählt über zwei Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren, welche die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin 14mal ungesetzlich überschritten, um in Westberlin ins Kino gehen zu können. Erst als in der Westpresse eine Notiz über diese beiden Jugendlichen erscheint, werden sie in der DDR inhaftiert und abgeurteilt. Heym beendet seine Erzählung mit der Feststellung, dass diese Jugendlichen anstelle einer Strafe einen Orden verdient hätten, »weil sie, wie jetzt gerichtsnotorisch, 14-mal hintereinander ihre absolute Treue zu unserer Republik unter Beweis gestellt haben«.)
In dieser Erzählung wird insbesondere eine solche These suggeriert, Staat und Staatsapparat – Justiz, Sicherheitsorgane – der DDR würden von dogmatischer, herzloser Enge geleitet. Eine durchlässige Staatsgrenze wäre der beste Prüfstein für wirkliche oder erzwungene Treue zum Sozialismus. In psychologisch geschickter und emotional wirkender Form wird die Handlungsweise der Sicherheits- und Justizorgane sowie das Verhalten einzelner Funktionäre als unpersönlich dargestellt sowie als skrupelloser Gebrauch der Macht geschildert.
Stefan Heym hatte aus dieser Erzählung bereits am 12.9.1974 im »Joliot-Curie«-Klub2 in Kleinmachnow gelesen. In der Diskussion hatte er betont, die Fabel sei von ihm frei erfunden; er ließ jedoch durchblicken, den Anstoß dafür habe er durch eine ihm zugänglich gewesene Notiz der Westpresse erhalten.
Eine Anfrage eines Studenten während dieser Diskussion in Kleinmachnow, es handele sich bei den beiden Jugendlichen doch offensichtlich um Hans-Joachim Mückenberger (Sohn des Generaldirektors der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci und Neffe des Genossen Erich Mückenberger) und Sturmo Wulf (Sohn des ehemaligen Dozenten an der Akademie für Staat und Recht Potsdam-Babelsberg, jetzt Invalidenrentner, und der ehemaligen Kaderleiterin bei der DEFA Potsdam-Babelsberg) wurde von Heym ausweichend beantwortet, jedoch insofern bestätigt, indem er bemerkte, er könne die Identität nicht leugnen.3 Heym hat dieses Vorkommnis – das ohne gerichtliche Hauptverhandlung abgeschlossen wurde – von seiner feindlichen politischen Grundhaltung ausgehend zielgerichtet und demagogisch ausgestaltet, sodass im Ergebnis dessen eine die DDR diskriminierende im Sinne der Ideologie des Gegners liegende Aussage entstand.
Nach seiner Lesung am 7.7.1977 in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf erhielt Heym starken Beifall. In der Diskussion, die offensichtlich vom Veranstalter durch bestimmte gezielte Fragen vorbereitet war, wurden weitere Fragen zum Inhalt der Erzählung, aber auch andere, die kulturpolitische Situation der DDR betreffende, gestellt.
Auf die Frage an Heym, inwieweit seine Geschichte auf Tatsachen beruhe, antwortete er, die Story sei aus dem Leben gegriffen, und jeder Schriftsteller müsse die Wahrheit darstellen. Er hoffe, dass seine Geschichte später auch in der DDR erscheinen könne, wofür er sich seit Jahren einsetze.
Zielgerichtet wurde die Frage nach dem tieferen Hintergrund der Geschichte gestellt, in welcher sowohl die Helden als auch der Staat Recht hätten, aber der Staat die Macht ausübe. Heym antwortete mit einem Gleichnis, wonach er eine Katze, die eine Maus fraß, beobachtet habe, wobei ihm die Maus furchtbar leid getan hätte. Aber die Katze habe eben die Macht. Auf dieses Gleichnis antworteten die Anwesenden mit Beifall und Gelächter.
Befragt nach den Ursachen der Opposition seiner jugendlichen Helden, die eine sozialistische Erziehung erhalten hätten, erklärte Heym, in der DDR gebe es keine perfekte sozialistische Erziehung, sondern man müsse viele andere Umwelteinflüsse einbeziehen. In diesem Zusammenhang erklärte sich Heym bereit, die Lesung vor weiteren Jugendlichen im Oberschulalter zu halten.
Dem MfS ist weiter bekannt, dass Heym – bezogen auf das letzte halbe Jahr – folgende Lesungen in kircheneigenen Einrichtungen innerhalb der DDR durchführte:
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5.11.1976: Evangelischer Kindergarten der evangelischen Kirchengemeinde in Finsterwalde; organisiert von Pfarrer Radke; etwa 150 Teilnehmer (Pfarrer, Ärzte, selbstständige Handwerker, weitere Angehörige der Intelligenz); gelesen aus »Märchen« (4 Märchen von Heym, herausgegeben bei Bertelsmann 19764), in der DDR bisher nicht veröffentlicht, liegen seit 1976 dem Kinderbuchverlag der DDR, Berlin, vor.
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6.11.1976: Gemeindesaal der evangelischen Kirchen Aken, [Bezirk] Halle; organisiert von Pfarrer Gallinat; etwa 105 Teilnehmer, die z. T. auch aus anderen Kreisen angereist waren; gelesen aus »König-David-Bericht«5.
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28.12.1976: Stephanus-Stift Berlin-Weißensee (anlässlich der Jahreskonferenz »Aktion Sühnezeichen«6); organisiert von leitenden Mitarbeitern des Stephanus-Stiftes; etwa 400 Teilnehmer; gelesen aus »König-David-Bericht«.
Nach allen Lesungen Heyms kam es zu lebhaften Diskussionen mit z. T. oppositionellen Fragestellungen im politisch negativ-feindlichen Sinne. Insbesondere auch im Anschluss an die in Finsterwalde erfolgte Lesung seiner bisher in der DDR unveröffentlichten »Märchen« wurden Fragen im provokatorisch feindlich-negativen Sinne gestellt. Es ist jedoch festzustellen, dass Heym generell in diesen Diskussionen vordergründig ausweichend reagiert und bestrebt ist, Äußerungen mit politisch negativ-feindlicher Aussage zu vermeiden und keine seiner eigentlichen negativen Grundpositionen entsprechende Antworten erteilt. Offensichtlich verfolgt Heym eine solche Linie, die Teilnehmer nach der Lesung diskutieren und politisch umsetzen zu lassen, was er in seinen »Werken« anregt und verbrämt darstellt, ohne selbst in der Diskussion mit Äußerungen im negativ-feindlichen Sinne in Erscheinung zu treten.
Ausgehend von den in der Information genannten Aktivitäten von Stefan Heym u. a. unter Nutzung der Möglichkeiten der Kirche wird empfohlen, dass der stellv. Minister für Kultur und Leiter der HV Verlage und Buchhandel, Genosse Klaus Höpcke, mit Stefan Heym ein Gespräch führt mit der Aufforderung, Lesungen aus Werken zu unterlassen, deren Veröffentlichung in der DDR abgelehnt wurde. Gleichzeitig sollte ihm erklärt werden, dass derartige Auftritte unter Nutzung kirchlicher Organisationen und Räumlichkeiten auch nicht mit dem religiösen Anliegen der Kirche in Übereinstimmung zu bringen wären und auf einen Missbrauch klerikaler Einrichtungen hinauslaufen würden.
Weiter wird vorgeschlagen, Bischof Schönherr durch den Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Seigewasser, in einem Gespräch darüber zu unterrichten, dass den zuständigen Organen der DDR Absichten und Aktivitäten außerkirchlicher Kräfte bekannt geworden sind, kirchliche Organisationen und kirchliche Räumlichkeiten für politisch-negative und feindliche Handlungen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR zu missbrauchen. Bischof Schönherr ist darauf hinzuweisen, dass dieser Missbrauch klerikaler Einrichtungen und die dabei von kirchlichen Amtsträgern gewährte Unterstützung für solche Handlungen dazu geeignet ist, eine Konfrontation zwischen Kirche und Staat herbeizuführen. Davon ausgehend sollte er aufgefordert werden, dafür Sorge zu tragen, dass derartige gegen die DDR gerichtete Handlungen unter Nutzung kirchlicher Organisationen und kirchlicher Räumlichkeiten zukünftig unterbleiben.
Im Zusammenhang mit den vorgenannten Vorschlägen werden vom MfS in Zusammenarbeit mit dem MdI entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um die mit der »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen« vom 26.11.19707 gegebenen Möglichkeiten gegen das von feindlich-negativen Kräften beabsichtigte Auftreten unter Ausnutzung kirchlicher Organisationen und kircheneigener Räume rechtzeitig und wirksam durchzusetzen.
Dabei geht es vor allem darum, bei Veranstaltungen, die den Grundsätzen und Zielen der Verfassung, den Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften widersprechen bzw. die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden oder stören, die Möglichkeiten der Untersagung derartiger Veranstaltungen bzw. der Erteilung entsprechender Auflagen und Forderungen wirksam zu nutzen.