Lesung von Jurek Becker in der Kirche von Berlin-Bohnsdorf
1. Juli 1977
Information Nr. 444/77 über die von Jurek Becker, freischaffender Schriftsteller, durchgeführte Lesung am 16.6.1977 in der evangelischen Kirche in Berlin-Bohnsdorf
Dem MfS wurde intern bekannt, dass Jurek Becker auf Initiative des Gemeindepfarrers Schulz aus Bohnsdorf in der dortigen evangelischen Kirche am 16.6.1977 eine Lesung aus seinem noch unveröffentlichten Buch, Manuskripttitel »Keine Luft zum Atmen«,1 durchgeführt hat. An dieser Veranstaltung – für die Pfarrer Schulz eine Genehmigung beim Rat des Stadtbezirkes Treptow eingeholt hatte – nahmen ca. 100 Personen teil, darunter überwiegend Jugendliche bzw. solche Personen, die ansonsten keine kirchlichen Veranstaltungen besuchen.
Ursprünglich war für den 16.6.1977 an gleicher Stelle eine Lesung des Schriftstellers Stefan Heym vorgesehen, der jedoch aus terminlichen Gründen absagte. Daraufhin wandte sich Pfarrer Schulz an Jurek Becker, der diesen Termin bereitwilligst übernahm.
Jurek Becker las ca. 45 Minuten aus seinem Manuskript »Keine Luft zum Atmen«, das nach seinen Angaben dem Hinstorff-Verlag Rostock zur Beurteilung vorliegt. (Das Manuskript wird gegenwärtig im Hinstorff-Verlag von einer Kommission begutachtet.)
Wie intern bekannt wurde, beschäftigt sich Becker in seinem Buch mit Problemen der Volksbildung. Er stellt einen 36-jährigen Lehrer dar, welcher in einem »inneren Monolog« seine menschliche Situation reflektiert. Dabei unternimmt Beckers Hauptfigur den Versuch, sich gegen die dauernde Anpassung, die Zwänge von Gesetzen, die dogmatisch vorgegebenen Denk- und Verhaltensweisen zu wehren. Ihm bleibe kein Raum, als Lehrer und als Mensch zu wirken. Auf die Schüler, die durch die Stofffülle »erschlagen« bzw. überfordert werden, treffe das ebenfalls zu. Es sei alles vorgegeben, und damit bleibe kein Platz für das Wichtigste im Menschen – den Zweifel an allem Bestehenden. Der Lehrer stellt die Überlegung an, sich zu wehren und bei der Schulbehörde zu protestieren. Da er jedoch wisse, dass das nur mit einer Disziplinarmaßnahme ende, gibt er seinen Beruf auf und wird Bäcker.
Die Lesung Beckers wurde von den Anwesenden mit Interesse verfolgt. Er bekam starken Beifall, dem sich eine lebhafte Diskussion anschloss, in deren Verlauf an Becker eine Reihe Fragen gerichtet wurden.
So wurde u. a. die Frage gestellt, wann das Buch in der DDR erscheine. Becker antwortete, es würde jetzt beim Verlag liegen, das zu entscheiden; denn »dort und bei anderen würde festgelegt, was die Menschen in der DDR lesen dürften«.
Auf die Frage, was Becker von der DDR-Literatur halte, antwortete er, er sehe nur »Opportunismus und Langeweile«, außer einigen Ausnahmen, wie z. B. Arbeiten von Christa Wolf. Sonst »gäbe es aber nichts, was dem Wollen und Denken der Menschen hier entgegenkomme. Es bliebe nur die Hoffnung.«
Nach seinem Urteil über sein letztes Buch »Irreführung der Behörden«2 befragt, äußerte Becker, er habe zu dieser Arbeit heute bereits eine große Distanz, weil er in dieser Arbeit »nicht zum Kern vorgestoßen sei«. Ein Schriftsteller müsse aber »die Wahrheit sagen«; er könne dann nur hoffen, dass er einen großen Leserkreis findet. Es gäbe Schriftsteller, die würden mit »doppeltem Boden« schreiben, mit Raffinesse und mit Schläue, um das sagen zu können, was sie eigentlich sagen wollen. Das seien aber keine »wahren Schriftsteller«, sonst würden sie offen und ehrlich das schreiben, was sie auszudrücken beabsichtigten. Er – Becker – wolle ein solcher »wahrer Schriftsteller« sein.
Danach gefragt, ob er »Hoffnung« habe, dass sich in der DDR-Literatur »etwas ändern« werde, antwortete Becker, ihm läge das sehr am Herzen, weil er »hier lebe und deshalb gerade hier etwas verändert wissen möchte«. Die Rezensionen in den Zeitungen würden jedoch deutlich machen, welche Literatur in der DDR gefördert werde.
Im Zusammenhang mit anderen Diskussionen brachte Becker gegenüber den Zuhörern zum Ausdruck, es komme darauf an, »Grenzen zu überwinden, Grenzen, die viel mehr im Innern des Landes liegen als im Äußeren«. Becker betonte zwar, er wolle die Möglichkeit, in der Kirche zu sprechen, nicht missbrauchen, hob jedoch hervor, nur der Schriftsteller sei in der Lage, »die wahren Zusammenhänge in unserer Gesellschaft wahrheitsgemäß aufzudecken – alle anderen, besonders die, die das große Sagen haben, sind in ihren Dogmen und Gesetzen gefangen«. Außerdem brachte er zum Ausdruck, er lebe »in einer widerlichen Atmosphäre, die dem Dichter physisches Unbehagen bereitet und starke Gegenwehr provoziert«.
Becker machte zum Schluss der Veranstaltung darauf aufmerksam, dass Stefan Heym die versprochene Lesung am 7.7.1977 in der Kirche in Berlin-Bohnsdorf nachhole und aus einem seiner unveröffentlichten Manuskripte zu lesen beabsichtige.3
Internen Hinweisen zufolge äußerten sich einige jugendliche Zuhörer im Anschluss an die Lesung Beckers zustimmend zu seinen »Argumenten« und meinten, sie hätten »daraus gelernt«, in welcher Form Probleme, die Schriftsteller betreffend, zu betrachten seien. Andere meinten, es sei »anzuerkennen«, dass Becker die Probleme »so klar und deutlich« ausgesprochen habe. Sein Buch sei jedoch so angelegt, dass von vornherein keine Chance einer Veröffentlichung in der DDR bestehe.
Dem MfS wurde streng vertraulich bekannt, dass sich Becker im internen Kreis geäußert habe, er rechne überhaupt nicht damit, dass diese »Arbeit« im Hinstorff-Verlag oder in einem anderen Verlag in der DDR verlegt wird. Es sei jedoch »Vorsorge getroffen worden«, dass in einem solchen Falle sein Buch in der BRD erscheine. Außerdem wolle er im Falle einer Ablehnung der Veröffentlichung in der DDR in Erwägung ziehen, ein Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD zu stellen – praktisch als »Druckmittel«, die Veröffentlichung in der DDR doch noch zu »erzwingen«.
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