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Mediale Auswertung der Rückkehr von Übersiedlern in die DDR

29. Juni 1977
Information Nr. 423/77 über Originaldokumente von in die DDR zurückgekehrten Personen, die für eine Auswertung in der Öffentlichkeit geeignet sind

1. Originaldokument (Brief an den Bürgermeister der Gemeinde [Ort 1 (DDR)] vom 15.1.1976 und Klarstellungen über Arbeits- und Lebensbedingungen in der BRD vom 25.6.1977) der DDR-Bürgerin [Name der Rückkehrerin 1, Vorname, Geburtsname], in denen sie vor allem das im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Lagerarbeiterin in einer Metallwarenfabrik in [Ort 2 (Bundesrepublik)] Erlebte, insbesondere die Arbeits- und Lebensbedingungen in einem Ausbeuterstaat, schildert. (siehe Anlagen 1 und 2)

Die [Name der Rückkehrerin 1], geb. am [Tag] 1929, wohnhaft: [PLZ Ort 1 (DDR)], Kreis Nordhausen, [Adresse], geschieden, tätig als Sachbearbeiterin in der PGH [Name], ist nach Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR am 26.9.1974 zwecks Eheschließung nach der BRD übergesiedelt und am 28.3.1977 in die DDR zurückgekehrt.

Frau [Name der Rückkehrerin 1] war seit erfolgter Ehescheidung im Jahr 1949 bis zur Übersiedlung nach der BRD als Sachbearbeiterin im VEB [Name] tätig. Sie leistete dort eine gute fachliche Arbeit, beteiligte sich entsprechend ihren Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben im Betrieb und Wohngebiet und hatte einen guten Leumund.

Ihre in der BRD geplante Eheschließung kam aufgrund persönlicher Differenzen nicht zustande und sie zog im April 1975 nach siebenmonatiger Arbeitslosigkeit zu Verwandten nach [Ort 3] (Württemberg), wo sie bis zu ihrer Rückkehr in die DDR wohnhaft war.

Aufgrund ihrer fast 30-jährigen Tätigkeit in der DDR kam sie mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der BRD nicht zurecht, erkannte sehr schnell die dortigen Methoden der Ausbeutung und fand nur wenig Kontakt zu anderen Personen.

In der DDR hat sie sich wieder gut eingelebt und zeigt auch gute Arbeitsleistungen.

2. Original einer Erklärung vom 3.5.1976 zur Rückkehr in die DDR sowie Original eines Briefes der [Name der Rückkehrerin 2)] vom 8.4.1976 aus der BRD an ihren Ehegatten in der DDR.

In beiden Dokumenten bringt die [Name der Rückkehrerin 2] zum Ausdruck, dass sie sich während eines besuchsweisen Aufenthaltes in der BRD in Erwartung materieller Vorteile sowie unter dem Einfluss ihrer in der BRD lebenden Verwandten zum Verbleib in der BRD entschloss.

Bereits nach kurzer Zeit, insbesondere aufgrund dreimonatiger Arbeitslosigkeit, der erkannten Widersprüche zwischen dem äußeren Schein westlicher Lebensverhältnisse und der gesellschaftlichen Realität in der BRD sowie der daraus resultierenden sozialen Unsicherheit, Existenzangst und persönlichen Belastungen, entschloss sich Frau [Name der Rückkehrerin 2] am 2.5.1976 zur Rückkehr in die DDR. (siehe Anlagen 3 und 4)

[Name der Rückkehrerin 2, Vorname], geb. am [Tag] 1927, wohnhaft: [Ort 4 (DDR), Adresse], Sekretärin im VEB [Name], ging 1949 mit dem Schlosser [Vorname Name] die Ehe ein. Durch beiderseitiges Verschulden wurde die Ehe 1957 geschieden. 1961 haben sich beide Ehepartner wieder geheiratet.

Von 1951 bis 1974 war die [Name der Rückkehrerin 2] bei der Staatsanwaltschaft [Ort 4 (DDR)] tätig, wo sie sich von der Stenotypistin zur Sachbearbeiterin und zuletzt zum Leiter der Informationsstelle beim Staatsanwalt des Kreises […] entwickelte. In ihrer Tätigkeit zeichnete sie sich durch Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Einsatzbereitschaft aus. Auch ihre aktive Tätigkeit als Hauptkassiererin der DSF fand wiederholt Anerkennung.

Am 30.9.1974 wurde mit der [Name der Rückkehrerin 2] ein Aufhebungsvertrag geschlossen, weil ihre 1956 illegal nach der BRD verzogene Mutter Anfang September 1974 versucht hatte, einen größeren Betrag an Mark der DDR illegal in die DDR einzuführen und Angehörige der Zollorgane zu bestechen. Die [Name der Rückkehrerin 2] hatte hierüber keine Meldung an ihre Dienstvorgesetzten erstattet und war auch nicht bereit, ihre aktiven Verbindungen nach der BRD abzubrechen.

Am 20.12.1975 wurde der [Name der Rückkehrerin 2] aufgrund der Eheschließung ihres Bruders eine Reise in dringenden Familienangelegenheiten nach der BRD genehmigt, von welcher sie wegen ihrer schlechten Eheverhältnisse und des Aufhebungsvertrages nicht wieder in die DDR zurückkehrte.

Nachdem sich ihre Erwartungen in der BRD nicht erfüllt hatten, kehrte die [Name der Rückkehrerin 2], bestärkt von ihrem in der DDR verbliebenen Ehemann und ihrer jüngsten Tochter, am 2.5.1976 in die DDR zurück.

Durch die Bezirksstaatsanwaltschaft Schwerin wurde verfügt, von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abzusehen.

Die [Name der Rückkehrerin 2] nahm am 1.6.1976 eine Tätigkeit als Sekretärin im VEB [Name] auf. Die ihr übertragenen Aufgaben erfüllt sie verantwortungsvoll, gewissenhaft und mit hoher Einsatzbereitschaft. Sie hat eine positive Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR und beteiligt sich aktiv am gesellschaftlichen Leben.

3. Kopie von neun Originalbriefen der [Name der Rückkehrerin 3, Vorname] an ihre Mutter und Geschwister, in denen sie mehrfach ihre bittere Enttäuschung über die kapitalistischen Verhältnisse in der BRD, schlecht bezahlte Arbeit, soziale Unsicherheit und Existenzangst zum Ausdruck bringt und nach relativ kurzer Aufenthaltsdauer sich entschließt, unverzüglich wieder in die DDR zurückzukehren. (siehe Anlagen 5–13)

Die [Name der Rückkehrerin 3, Vorname] wurde am [Tag] 1953 geboren, war als technische Mitarbeiterin im VEB [Name], Sitz [Ort 5], beschäftigt und hat am 4.8.1976 mit Zustimmung der zuständigen staatlichen Organe zwecks Familienzusammenführung die DDR verlassen.

Am 28.12.1976 kehrte sie wieder in die DDR zurück, ist in [Ort 5, Adresse] wohnhaft und im gleichen Betrieb als BfN-Sachbearbeiterin tätig. Sie leistet eine gute fachliche Arbeit und beteiligt sich aktiv am Brigadeleben.

Vor ihrer Übersiedlung in die BRD war sie innerhalb der FDJ gesellschaftlich aktiv tätig und gehörte der Partei der Arbeiterklasse als Kandidat an.

Im Jahre 1975 lernte die [Name der Rückkehrerin 3] einen zur Montage in der DDR (Glaswerk [Name]) weilenden BRD-Bürger kennen, mit dem sie ein intimes Verhältnis einging und der ihr die Ehe versprach. Die Tatsache, dass dieser BRD-Bürger verheiratet und Familienvater von drei Kindern ist, war der [Name der Rückkehrerin 3] anfangs nicht bekannt. Daraufhin zur Rede gestellt, äußerte der BRD-Bürger, in Scheidung zu leben. Nach der Ankunft der [Name der Rückkehrerin 3] in der BRD stellte sich dieses als unwahr heraus.

Ausschließlich beeinflusst durch diesen BRD-Bürger ersuchte die [Name der Rückkehrerin 3] im Mai 1976 bei den zuständigen staatlichen Organen um Übersiedlung in die BRD mit der »Begründung« der »Familienzusammenführung« zu ihrem in der BRD (München) lebenden Vater, wobei sie bei Nichtgenehmigung ihres Übersiedlungsersuchens Selbsttötungsabsichten äußerte.

Aufgrund der persönlichen Enttäuschung und des Nichteinlebens in die gesellschaftlichen Verhältnisse der BRD ersuchte sie um Wiederaufnahme in der DDR. (Die Originalbriefe wurden vom Empfänger vernichtet. Es besteht Einverständnis zur Verwendung der Kopien der Originalbriefe.)

4. Originalschriftstück der [Name der Rückkehrerin 4, Vorname], das sie während ihres Aufnahmeverfahrens in der DDR verfasste und in dem sie ihrer Enttäuschung über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD, Missachtung der Würde des Menschen, zunehmende Kriminalität, Arbeitslosigkeit, hohe Preise für Grundnahrungsmittel Ausdruck gibt und damit ihre Rückkehr in die DDR motiviert. (siehe Anlage 14)

Die [Name der Rückkehrerin 4, Vorname] wurde am [Tag] 1940 geboren, war als Sachbearbeiterin im staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb [Name] tätig und siedelte am 16.5.1975 mit ihren drei Kindern mit Zustimmung der zuständigen staatlichen Organe zu ihrem in der BRD in Stuttgart wohnhaften Ehemann mit der Begründung der »Familienzusammenführung« über. Der Ehemann der [Name der Rückkehrerin 4] hatte die DDR im Jahr 1972 ungesetzlich verlassen und seine in der DDR verbliebene Ehefrau intensiv beeinflusst, ihm in die BRD zu folgen.

Am 10.4.1976 stellte sie während eines besuchsweisen Aufenthaltes bei ihrer Schwester in Leipzig beim Rat des Kreises Hettstedt den Antrag auf Wiederaufnahme in die DDR.

Sie ist wieder im gleichen Betrieb als Sachbearbeiterin tätig und erhielt mit ihren drei Kindern eine Neubauwohnung. Von ihrem Ehemann ist die [Name der Rückkehrerin 4] zwischenzeitlich geschieden.

Die [Name der Rückkehrerin 4] leistet eine zufriedenstellende fachliche Arbeit. Sie ist Mitglied des FDGB, ohne gesellschaftlich besonders in Erscheinung zu treten. Ihre Kinder nehmen in der Schule und in der Pionierorganisation eine gute Entwicklung.

5. Original einer Erklärung der [Name der Rückkehrerin 5, Vorname] vom 25.6.1977, in welcher sie zum Ausdruck bringt, dass sich die aufgrund von Versprechungen und Verlockungen mit ihrem legalen Verzug nach der BRD verbundenen Erwartungen nicht erfüllten. Insbesondere aus Gründen sozialer Unsicherheit, fehlenden Geborgenseins und menschlichem Verständnis kehrte Frau [Name der Rückkehrerin 5] reumütig wieder in die DDR zurück. (siehe Anlage 15 – der Inhalt der Erklärung wird – trotz der enthaltenen orthografischen und grammatikalischen Fehler in einzelnen Passagen – für auswertungswürdig erachtet.)

[Name der Rückkehrerin 5, Vorname], geb. am [Tag] 1910 in Berlin-Neukölln, Rentnerin, wohnhaft gewesen vom 4.3.77 bis 22.6.77 in Aachen, [Adresse], zzt. Aufnahmeheim Barby, ist Mutter von fünf erwachsenen Kindern. Sie war als Arbeiterin bzw. Reinigungskraft bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt, wo sie dreimal als Aktivist ausgezeichnet wurde. Von 1954 bis 1977 war sie Mitglied der SED.

Die [Name der Rückkehrerin 5] bewohnte mit ihrer verheirateten Tochter in [Ort 6 (DDR)] eine Zweizimmerwohnung. Die beengten Wohnverhältnisse waren häufig Anlass zu Streitigkeiten. Aus diesem Grund und insbesondere durch Versprechungen und verlockende Aufforderungen ihres in der BRD lebenden Sohnes, der u. a. vorgab, in guten finanziellen Verhältnissen zu leben und sich ein Haus kaufen zu wollen, entschloss sich die [Name der Rückkehrerin 5], einen Antrag auf legalen Verzug nach der BRD zu stellen und verzog nach dessen Genehmigung am 4.3.1977 nach Aachen.

In der BRD erlebte die [Name der Rückkehrerin 5] herbe Enttäuschungen, ihr Sohn lebt in finanziellen Schwierigkeiten und ist verschuldet und sie selbst erhielt bis Juni 1977 keine Altersrente.

Bedingt durch diese soziale Unsicherheit sowie der wegen beengter Wohnverhältnisse (6 Personen in einer Dreizimmer-Wohnung) häufigen Auseinandersetzungen mit ihrer Schwiegertochter, von welcher sie am 22.6.1977 aus der Wohnung verstoßen wurde, kehrte die [Name der Rückkehrerin 5] wieder in die DDR zurück.

6. Erklärung des 19-jährigen [Name des Rückkehrers 6, Vorname] zu seinem Aufenthalt in der BRD und seiner Ablehnung der dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse besonders im schulischen Bereich. (siehe Anlage 16)

[Vorname Name des Rückkehrers 6], geb. am [Tag] 1958, wohnte mit seiner Mutter und zwei weiteren Geschwistern bis zur gemeinsamen legalen Übersiedlung in die BRD im Dezember 1975 in [Ort 7], [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Er hatte kein gutes Verhältnis zum Elternhaus. Sein Vater, ein selbstständiger Schneidermeister und strenggläubiger Katholik, hielt die Familie von jeglicher gesellschaftlicher Arbeit zurück. Seine Mutter ist gelernte Krankenschwester und stammt ebenfalls aus einer Handwerkerfamilie.

[Vorname Name des Rückkehrers 6] war ein intelligenter und guter Schüler. Als sein Vater 1972 starb, holte er die Jugendweihe nach, wurde sofort Mitglied der FDJ, später der GST und DSF und leistete eine aktive gesellschaftliche Arbeit (stellvertretender FDJ-Sekretär der Klasse, GST, Sport, Laienspiel u. a.). 1973 wurde er zur EOS delegiert.

Der Antrag auf Übersiedlung in die BRD wurde ausschließlich von seiner Mutter betrieben und fand von Anfang an keinerlei Unterstützung durch den [Vorname Name des Rückkehrers 6]. Er erklärte im Gegenteil schriftlich gegenüber dem Rat des Kreises Schwarzenberg, dass er es mit seiner politischen Einstellung unserem Staat gegenüber nicht vereinbaren könne, in die BRD umzusiedeln und – falls dies eintritt – er unbedingt mit Erreichung des 18. Lebensjahres wieder um die erneute Staatsbürgerschaft der DDR bemüht sein wird. Unter dieser Voraussetzung stimmte er dann schließlich auf Drängen seiner Mutter dem Übersiedlungsantrag zu, um ihr nichts in den Weg zu legen.

Am 16.7.1976 ersuchte er dann bei den Grenzsicherungsorganen der DDR auch wieder um Aufnahme in die DDR.

Zzt. besucht [Vorname Name des Rückkehrers 6] die EOS in [Ort 8], [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, und wohnt dort im Internat. Er wurde wieder Mitglied der FDJ und leistet eine gute schulische und gesellschaftliche Arbeit.

Seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister befinden sich noch in der BRD in [Ort 9, Ortsteil].

Die in den Originaldokumenten dargelegten Meinungen und Einschätzungen sind nach allen bisherigen Überprüfungen glaubhaft und die ehrlichen Auffassungen der betreffenden Personen.

Alle Personen sind mit einer Auswertung ihrer Schriftstücke in der Öffentlichkeit einverstanden. Es wird gebeten, das sich in der Anlage befindliche Originalmaterial nach Auswertung zurückzusenden.

Anlage 1 zur Information. Nr. 423/77

[Original-Brief von [Vorname Name der Rückkehrerin 1] an den Bürgermeister der Gemeinde [Ort 1 (DDR)]]

[Vorname Name der Rückkehrerin 1] | [PLZ Ort 3 (Bundesrepublik)] | [Adresse]

An den | Rat der Gemeinde | z. Hd. d. Bürgerm. [Name] | [PLZ Ort 1 (DDR)]

[PLZ Ort 3 (Bundesrepublik)], 15.1.76

Werter Herr [Name des Bürgermeisters]!

Es fällt mir bestimmt nicht leicht, diese Zeilen zu schreiben, denn ich muss hiermit die größte Fehlentscheidung meines Lebens zugeben. Nämlich die Entscheidung, dass ich meine Heimat verlassen habe in der Annahme, dass in dem anderen Deutschland auch Deutsche wohnen und somit für mich keine großen Probleme entstehen.

Wie Sie ja wissen, bekam ich meine Ausreise zwecks Heirat. Aus dieser Heirat ist jedoch nichts geworden. So bin ich von [Ort 10] (Nordrhein Westf.) zu entfernten Verwandten nach Süddeutschland (Nähe Stuttgart) gekommen.

Es war eine schwere Zeit für mich. Von Verwandten in meiner hilflosen Lage ausgenutzt und als ehemaliger DDR-Bürger abgewertet zu werden, war schon die schlimmste Erniedrigung meines Lebens. In der Zwischenzeit habe ich ja nun eine kleine Wohnung gemietet. Ich habe Arbeit in der [Name] Metallwarenfabr. in [Ort 11] gefunden (6 000 Beschäftigte).

Zunächst war ich ganz schockiert von den unzureichenden bzw. gar nicht vorhandenen sozialen Einrichtungen eines so großen Betriebes. Ich habe immer wieder Gespräche mit Kollegen gesucht (was hier nicht einfach ist, weil man einen Fremden kaum anerkennt) und ihnen klarzumachen versucht, wie es in meiner Heimat ist. Aber hier hat man völlig falsche Vorstellungen vom Leben in der DDR. Die Arbeiter und Angestellten hier in den Betrieben sind so eingeschüchtert, weil sie die Sorge um den Arbeitsplatz in ständiger Angst leben lässt.

Ich will mich nun nicht mehr in Einzelheiten verlieren, obwohl ich ein ganzes Buch über meine Erkenntnisse, die ich hier gewonnen habe, füllen könnte. Es ging soweit, dass sie in mir sogar eine »Ostagentin« sahen. Mit meinen kurzen Andeutungen wollte ich Ihnen nur zu verstehen geben, dass man mit dem Grenzübertritt nicht so einfach seine Gewohnheiten, seine Gesinnung und Lebenseinstellung über Bord werfen kann. Ich bin 1929 geboren und daher nicht unter kapitalistischen Verhältnissen berufstätig gewesen. So war dies hier für mich eine völlig fremde Welt. Ich weiß in der Zwischenzeit, dass die meisten Arbeiter unzufrieden sind, weil der Leistungsdruck der Unternehmer immer mehr zunimmt, doch die Existenzangst verschließt fast allen den Mund.

Nun komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen. Wie Sie, Herr [Name des Bürgermeisters], wissen, habe ich meine Mutter, meinen Sohn, Schwiegert[ochter] u. Enkelkind in [Ort 1 (DDR)] wohnen. Ich möchte so gern wieder in meine Heimat und in meine alten Verhältnisse zurück. Ich war 25 Jahre in der DDR berufstätig. Das prägt einen Menschen. Nie würde ich mich in einem kapitalistischen Staat wohlfühlen.

Sie werden jetzt sagen: Warum ist sie denn gegangen? Dies ist der Punkt, der mich lange zögern ließ, diesen Brief zu schreiben. Ich habe mir selbst schon so viele Vorwürfe gemacht, dass ich mich von diesem Mann so beeinflussen ließ, hierher zu kommen. Daran ist ja aber nun nichts mehr zu ändern.

Werter Herr [Name des Bürgermeisters]! Da Sie nun meine Familie und auch mich kennen, bitte ich Sie herzlich, meine Rückkehr in die DDR zu befürworten. Da ich den Werdegang und die dazu notwendigen Formalitäten nicht kenne, erteile ich Ihnen sowie meinem Sohn Vollmacht alles für mich zu erledigen. Sollten sich Rückfragen ergeben, steht Ihnen mein Sohn gern zur Verfügung.

Ich würde mich sehr freuen, bald eine positive Nachricht zu erhalten und danke Ihnen schon im Voraus herzlich für Ihre Bemühungen.

Mit frdl. Grüßen | [Vorname Name der Rückkehrerin 1]

Anlage 2 zur Information Nr. 423/77

[Original-Bericht von [Vorname Name der Rückkehrerin 1] über die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Bundesrepublik vom 25.6.1977]

[Briefumschlag Vorderseite:] Rat der Gemeinde | z. Hd. d. Bürgerm. [Name] | [PLZ Ort 1 (DDR)]

[Briefumschlag Rückseite:] [Vorname Name der Rückkehrerin 1] | [PLZ Ort 3] | [Adresse]

Anlässlich eines Besuches lernte ich den Onkel meiner Schwiegertochter aus [Ort 10] (Nordrh.-Westf.) kennen. Es entwickelte sich ein reger Briefwechsel, der schließlich dazu führte, dass er für mich zwecks Heirat die Übersiedlung in die BRD beantragte. Diesem Antrag wurde am 26.9.1974 stattgegeben. Somit begann für mich ein neuer Lebensabschnitt, dessen Tragweite ich zu der Zeit nicht übersehen konnte. Voller Optimismus setzte ich mich in den Zug nach [Ort 10].

Nachdem die Anmeldeformalitäten erledigt waren, begab ich mich auf das dortige Arbeitsamt, um mir eine Stellung zu suchen. Als ich das Arbeitsamt [Ort 10] betrat und die langen Menschenschlangen sah, habe ich meinen ersten Schock bekommen. Mir konnte natürlich keine Arbeit vermittelt werden. Auch meine pers. Bemühungen hatten keinen Erfolg.

Inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen uns (meinem damaligen Verlobten u. mir) merklich abgekühlt. Ich hatte erfahren, dass er ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte. Als ich ihn zur Rede stellte, hat er mich aus seiner Wohnung gewiesen. So bin ich mit Reisekoffer und Tasche, die meinen gesamten Besitz beinhalteten, nach [Ort 3] (Württ.) zu entfernten Verwandten gefahren.

Bei meiner Ausreise aus der DDR habe ich nur meine pers. Kleidungsstücke mitgenommen, weil er [der Onkel der Schwiegertochter] mir versichert hatte, dass alles andere vorhanden sei. Ja, so stand ich nun da, arm wie Hiob und zunächst erstmal auf Verwandte angewiesen. Ich habe mich sofort um Arbeit bemüht und bin in der [Name] Metallwarenfabrik in [Ort 2] (6 000 Beschäftigte) als Lagerarbeiterin im Versand angenommen worden. So konnte ich Kostgeld bei meinen Verwandten zahlen.

Dort wurde ich fast jeden Abend im Garten beschäftigt u. das Haus putzen war fortan auch nur meine Angelegenheit. Ich wurde also in meiner abhängigen Lage bis zum Äußersten ausgenutzt. Eine eigene Meinung hätte ich gar nicht laut werden lassen. Doch dann ergab es sich, dass ich meine Meinung über Franz Josef Strauß äußerte und von diesem Zeitpunkt an zeigte sie ihr wahres Gesicht. Meine entfernte Verwandte ist nämlich eine fanatische Strauß-Anhängerin. Sie redete sich so in Wut über die DDR und deren Bewohner, sodass ich doch meine bis dahin geübte Zurückhaltung aus Höflichkeit aufgab und auch meine Meinung über den westdeutschen Staat äußerte. Ich habe immer wieder betont, und das nicht nur bei meinen Verwandten, dass ich die DDR nicht verlassen habe, weil es mir da nicht gefällt, oder weil es mir schlecht ergangen wäre, sondern es war einzig wegen der nicht zustande gekommenen Heirat.

Von diesem Zeitpunkt an wurde mir klar, dass man aus lauter Höflichkeit nicht alles hinnehmen darf, sondern dass man Stellung beziehen muss, selbst auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen. Ich suchte mir eine kleine möbl. Wohnung im gleichen Ort. So war ich wenigstens unabhängig.

Zu den Verhältnissen in der [Name der Fabrik, Ort 2] hätte ich auch noch einiges zu sagen.

Der Betrieb beschäftigt etwa 6 000 Arbeiter und Angestellte. Also ein ziemlich großer Betrieb. Ich war schockiert, dass in einem so großen Betrieb keine sozialen Einrichtungen für die Arbeiter vorhanden waren. Selbst die sanitären Anlagen waren in einem Zustand, der ekelerregend war. Die letzte Farbe ist wahrscheinlich um die Jahrhundertwende draufgekommen. Das Verwaltungsgebäude für höhere Angestellte und Besucher ist natürlich protzig.

Eine kleine Sanitätsstelle ist vorhanden mit einem Betriebsarzt, der nur 2× in der Woche ein paar Stunden kommt u. hauptsächlich die Aufgabe hat, Einstellungsuntersuchungen vorzunehmen. Er ist nicht befugt, einen Kollegen krankzuschreiben. Auf das Wort »Kollege« möchte ich ebenfalls noch zu sprechen kommen. Dort gilt das Wort Kollege als Schimpfwort bzw. als Herabsetzung der Person.

Nun hätte ich noch etwas zum Arbeitsablauf zu sagen. Die Tätigkeit im Versand, die hauptsächlich von Frauen ausgeführt wird (weil Frauen billiger sind), ist eine körperl. schwere Arbeit. Tonnenschwere Gitterpaletten mit Bleikristallware müssen über den Hof von einer zur anderen Halle gezogen werden u. volle Kisten, die ebenfalls meistens das für Frauen zulässige Gewicht überschreiten, gehoben werden. Die ganze Zusammenstellung der Ware muss zu einem vom Meister bestimmten Zeitpunkt fertig werden. Da werden die Menschen wie das liebe Vieh angetrieben. In entsprechender Lautstärke und in abfälligen Redensarten.

Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas im 20. Jahrhundert noch gibt. Ich war vor allem verwundert, dass die Menschen das alles so widerspruchslos hinnehmen. Ich habe daraufhin auch die Kolleginnen angesprochen. Doch die kennen nichts anderes und schimpfen nur hinter vorgehaltener Hand.

Nun wäre es ja die Angelegenheit der Gewerkschaft, hier Abhilfe zu schaffen. Doch ich habe nie zuvor eine ohnmächtigere Organisation gesehen, wie die Gewerkschaft der [Name der Fabrik]. Dort bestimmen einzig und allein die Direktoren und Vorstandsmitglieder. Die Gewerkschaft hat sich immer ihren Wünschen untergeordnet. Ich habe keinen Fall erlebt, in dem die Gewerkschaft zum Ziele kam.

Ich habe mich mit einem Betriebsratsvorsitzenden unterhalten und ihm die Rolle der Gewerkschaft in der DDR erklärt, weil ich ja auch jahrelang in der BGL war. Er hat mir daraufhin erklärt, dass es vor einigen Jahren für die Gewerkschaften günstiger gewesen sei. Durch die vielen Arbeitslosen haben die Unternehmer große Auswahl an Menschenmaterial und da wären auch ihnen die Hände gebunden.

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass jede Maschine besser behandelt wird wie ein Arbeiter. Wenn einer nicht mehr die geforderte Leistung bringt, stehen ja so viele andere vorm Tor, die Arbeit suchen.

Fast alle Frauen im Versand haben durch die schwere Arbeit erhebliche Bandscheibenschäden und ein hoher Prozentsatz hat schon Unterleibs-Totaloperationen hinter sich. Ich habe mich mit vielen Frauen unterhalten und sie gefragt, ob sie unbedingt arbeiten müssten. Ja, da sind noch viele, die Kredite abzahlen müssen und viele wollen eben ihren Lebensstandard halten, denn bei einem Verdienst ist der auch nicht sehr hoch. Die Lebenshaltungskosten steigen ständig, sodass die Lohnerhöhungen das nicht auffangen.

Ich habe mich mal mit dem Meister über die Arbeitsbedingungen unterhalten und ihm erklärt, dass man doch die Frauen alle kaputtmacht und diese Arbeitsweise doch einer Strafarbeit gleichkommt. Da hat er mir geantwortet: Ach Mädle, was soll ich machen. Ich werde ja auch gedrückt und wenn ich mich nicht durchsetze, muss es ein anderer machen.

Bei der kleinsten Gelegenheit schreit man die Arbeiter an: »Wenn es Ihnen nicht passt, dann holen Sie Ihre Papiere.«

So ist im Augenblick die Situation der Arbeiter und auch Angestellten, nicht nur in der [Name der Fabrik], sondern in ganz Westdeutschland. Ich möchte sagen in ganz Westeuropa. Die Kapitalisten nutzen jetzt die Gelegenheit, mit weniger Menschen mehr zu produzieren und dadurch hohe Gewinne zu erreichen. Aus dem Grund wird die Zahl der Arbeitslosen vorerst nicht geringer. Aus Angst um den Arbeitsplatz gehen viele nicht zum Arzt und schuften bis zum Umfallen. Auch das habe ich erlebt. Dort gilt nicht die Parole: Sorge um den Menschen sondern: Sorge um die Gewinne.

Hat sich ein Arbeiter völlig verausgabt und kann nicht mehr, wird er entlassen. Schonplätze oder dgl. gibt es nicht. So ein Kollege wird in der jetzigen Situation kaum wieder Arbeit finden. Wenn dann nach einem Jahr seine Arbeitslosenunterstützung abgelaufen ist, muss er praktisch von Fürsorge leben.

Bedauerlich ist nur, dass ein Großteil der westdeutschen Bevölkerung sehr voreingenommen gegen die DDR ist. Zu begründen ist das wahrscheinlich, weil die Presse oft sehr negativ über die DDR schreibt. Allen voran die »Bild«-Zeitung. Da die breite Masse »Bild«-gebildet ist, ist es also nicht verwunderlich, dass ein völlig falsches Bild in der BRD über die DDR entsteht.

Da nun die Bayern und Schwaben sowieso sehr von sich eingenommen sind und nur ihre Traditionen als das einzig Wahre anerkennen, ist es natürlich sehr schwer, gegen solche Vorurteile anzukämpfen. Ich selbst bin der Meinung, dass sich Westdeutschland, die westdeutsche Regierung und ich möchte sagen, die gesamte kapitalistische Welt in einer außerordentlichen Krise befinden. So wie der Feudalismus, so wird auch der Kapitalismus untergehen. Ich selbst glaube und hoffe, dass diese Krise der Anfang vom Ende ist.

Selbst werde ich jede Gelegenheit nutzen, die Menschen in der DDR über die wahren Verhältnisse im Kapitalismus aufzuklären. Ich möchte so gern anderen das ersparen, was ich dort erlebt habe.

Die von der Westpresse vielgerühmte und zitierte Freiheit habe ich vergeblich gesucht. Was mit Andersdenkenden geschieht (siehe Berufsverbot) habe ich aufmerksam verfolgt. Trotzdem gibt es unter den Oberschülern und Studenten viele, die meinen Auffassungen zustimmten und die die Verhältnisse in Westdeutschland anprangern. Ich habe Jugendliche kennengelernt, die für einige Wochen vom Arbeitsamt im Betrieb eingesetzt waren, weil sie keine Lehre oder keinen Studienplatz bekommen hatten. Diese Jugendlichen bekommen auch keine Arbeitslosenunterstützung, weil sie ja noch keinen Arbeitsplatz hatten. Sie waren froh, ein bisschen Geld verdienen zu können.

Ich habe da viele Schicksale kennengelernt, die mich sehr bewegt haben.

24.6.1977 [Vorname Name der Rückkehrerin 1]

Anlage 3 zur Information Nr. 423/77

[Original-Erklärung zur Rückkehr in die DDR]

[Ort 4 (DDR)], d. 3.5.1976

Erklärung zu meiner Rückkehr in die DDR am 2.5.1976

Am 20.12.1975 trat ich eine von der Volkspolizei genehmigte Besuchsreise zur Hochzeit meines Bruders in Köln an und kehrte von dort im vorgegebenen Zeitraum nicht wieder in die DDR zurück. Durch die Beeinflussung meiner Mutter und meines Bruders, die beide in Köln wohnhaft sind, entschloss ich mich ebenfalls für ständig in der BRD zu leben. In erster Linie waren es materielle Vorteile, die dabei eine Rolle spielten und ich selbst ließ mich durch die Auslagen in den Kaufhäusern, durch die Reklame und die Verhältnisse im Allgemeinen verblenden und diesen Entschluss festigen.

Von meinen Verwandten wurde mir dieser Entschluss noch dahingehend bekräftigt, dass ich angeblich in der DDR gemeinsam mit meinem Mann noch zu keinem Besitz, wie Haus und Auto usw., gekommen wäre, was mir alles angeblich in der BRD möglich sei. Ich war dem unterlegen und glaubte sowohl den Ausführungen meiner Verwandten als auch dem, was ich dort in der Presse las, im Fernsehen sah usw.

Schon in der 1. Januarhälfte, als ich anfing etwas nüchterner zu denken, sah ich ein, was für einen großen Fehler ich gemacht hatte. Dieses quälte mich dann von Tag zu Tag mehr und ich begann, diesen Schritt zu bereuen. Verstärkt wurde das in der Folgezeit noch durch andere Einflüsse. Ich begann die Widersprüche in der BRD zu erkennen. Auf der einen Seite gab es überfüllte, mit allen Dingen ausgestattete Geschäfte, auf der anderen Arbeitslose und Bettler.

Unmittelbar nach meiner Ankunft bemühte ich mich um eine Arbeit als Stenotypistin. Trotz persönlicher Vorstellungen und Vorsprachen und schriftlich abgegebener Bewerbungen bei verschiedenen Firmen und Institutionen, u. a. auch bei einer Versicherungsgesellschaft, dauerte es drei Monate, bis ich durch die Vermittlung des Arbeitsamtes in Köln, Haselbergstraße, eine Anstellung als Anwaltsgehilfin bei dem Rechtsanwaltsbüro [Namen der Rechtsanwälte] eine Anstellung finden konnte. Dort begann ich am 1.4.1976 zu arbeiten.

Ein Arbeitsvertrag wurde mit mir weder abgesprochen und auch in sonstiger Richtung gab es keine arbeitsrechtliche Regelung. Es wurde lediglich über mein Gehalt gesprochen und eingeleitet, dass ich die Sozialversicherung in Anspruch nehmen konnte. Urlaubsfragen wurden nicht aufgeworfen und ich selbst getraute mich aufgrund meiner eingetretenen Lage auch nicht, irgendwelche Forderungen zu stellen. Fürs Erste war ich froh, dass ich überhaupt Arbeit erhalten hatte.

Bereits vordem hatte ich schon einmal für 2 × 7 Tage aushilfsweise als Büfettkraft auf dem Messegelände in Köln-Deutz gearbeitet. Dieses war mir auch nur möglich gewesen, weil zu dieser Zeit Messen stattfanden.

Schon nach kurzer Zeit stieß mich das Verhalten meiner Arbeitgeber im Rechtsanwaltsbüro ab, weil ich eine solche Atmosphäre aus meiner früheren Tätigkeit in der DDR einfach nicht kannte. Während in der DDR ein gutes kollegiales Verhalten zu verzeichnen war und man sich auch seitens der Vorgesetzten und Leiter um persönliche Belange der einzelnen Mitarbeiter bemühte und eine allgemein offene und freundliche Atmosphäre herrschte, wurde einem in diesem RA-Büro nur die zu erledigende Arbeit aufgetragen und persönliche Probleme interessierten überhaupt nicht. Außer dem allgemeinen Tagesgruß wurden keinerlei persönliche Worte gewechselt. Die Arbeitsatmosphäre war kühl, es interessierte nur, was man am Tag geleistet hatte. Mir fiel auf, dass außer zwei älteren weiblichen Angestellten nur noch drei Lehrmädchen in diesem Büro angestellt waren, woraus ich schlussfolgerte, dass hierbei die Frage der Entlohnung eine Rolle spielte. D. h., dass man Lehrmädchen ja nicht so viel zahlen brauchte als [sic!] ausgebildeten Kräften.

Alle diese Umstände haben mich nervlich stark belastet und der Gedanke wurde immer stärker in mir, in die DDR zurückzukehren. Ich stellte ständig Vergleiche zwischen den Verhältnissen in der DDR und in der BRD an und erkannte immer besser, dass ich in der DDR ein ruhigeres und gesichertes Leben führen könnte. Vor allem sah ich auch meine weitere Existenz in der BRD mit zunehmendem Alter gefährdet und war mir im Klaren darüber, dass ich mir solche Gedanken in der DDR nicht hätte zu machen brauchen. Anfangs hielt mich eine gewisse Scham zurück, diese Erkenntnisse meinen in der DDR zurückgebliebenen Angehörigen gegenüber einzugestehen.

Als ich mich schließlich meinen Verwandten in der BRD gegenüber äußerte, mich mit dem Gedanken einer Rückkehr zu tragen, wurde das Verhältnis zwischen ihnen und mir sehr gespannt und es kam zu Auseinandersetzungen und Streit. Ich habe immer zu unserem Staat gestanden und Vergleiche angestellt, die zugunsten der DDR ausfielen. Bei meinen Verwandten fand das kein Verständnis, sie wurden sogar [unleserliches Wort] und ausfällig.

Als ich auch auf meine durch das Arbeitsamt mir vermittelte Arbeitsstelle keinerlei persönliche Kontakte fand, verstärkte sich zusehends meine Absicht zur Rückkehr in die DDR.

Nachdem ich meinen in der DDR verbliebenen Angehörigen diese Gedanken darlegte und sie mir meinen Schritt verziehen und mir mitteilten, dass ich das Vertrauen zu den staatlichen Organen der DDR haben könne, entschloss ich mich endgültig zur Rückkehr und kehrte am 2.5.1976 wieder in die DDR zurück. Eigentlich hatte ich schon einige Tage früher den Versuch unternommen, der jedoch durch meine Verwandten insofern verhindert werden sollte, dass sie mich in die Wohnung einschlossen.

Am 2.5.1976 habe ich dann in den frühen Morgenstunden schon das Haus verlassen und habe die Rückfahrt in die DDR ohne Wissen meiner Verwandten angetreten.

[Vorname Name der Rückkehrerin 2]

Anlage 4 zur Information Nr. 423/77

[Original-Brief der Rückkehrerin 2 von Köln an ihren Ehemann in der DDR]

8.4.1976 | Lieber [Vorname des Ehemanns]

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Ich habe nie gewusst, dass man sich so furchtbar sehnen kann. Auch diesen Staat hier musste ich bald verachten lernen, die vielen Arbeitslosen, Mord und Totschlag jeden Tag in den Zeitungen, alles so sehr teuer. Oma hat mir ein vollkommen falsches Bild geschildert. Ich habe Arbeit bei Rechtsanwälten, Wohnung soll ich auch bald kriegen.

Du hast in allem recht behalten. Ich war hier noch nicht einen Tag froh. Mir graut vor jedem Wochenende, vielleicht kann ich Ostern schon bei Dir sein.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Aber ich werde hier, glaube ich, keinen Tag froh. […] Diese schreckliche große Stadt, nur Reklame, Betrug und Gejage.

Ich habe nicht gewusst, wie schön ich es in [Ort 4 (DDR)] hatte.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Ich schreibe hier im Büro, daher dass Papier.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Wenn ich im Zug nach [Ort 4] sitzen würde, wäre ich der glücklichste Mensch, auch wenn sie mich einsperren.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Gehst Du zur Polizei oder Gericht und fragst, was mich erwartet, wenn ich zurückkomme? Ich habe unseren Staat nicht verraten, habe nur Gutes von dort erzählt und mit den schlechten Sachen hier verglichen.

Ich wurde zu einem Informationsgespräch über die DDR nach Düsseldorf eingeladen. Das habe ich abgelehnt und bin nicht gefahren. Das wäre das Letzte, mich dazu ausquetschen zu lassen. […] Hier wird nur dummes Zeug geredet, z. B. über die Morde und Skandale in den Zeitungen, was manchmal auch grässlich übertrieben oder erlogen ist. Aber es passieren auch schreckliche Sachen, die Arbeitslosen lungern auf den Straßen herum, fiedeln auf der Geige und betteln. […] Schreibe mir sofort, jeder Tag ist eine Qual für mich oder wirst Du mir einen bösen Brief schreiben oder gar nicht, dann muss ich es hinnehmen mein Unglück, dass ich selbst verschuldet habe.

Dann fahre ich in eine andere Stadt der DDR, damit ich Euch wenigstens besuchen kann. Mein geliebter [Vorname des Ehemanns], hilf mir hier raus. Du hast mir schon so oft geholfen, lass mich nicht im Stich, ich werde es Dir immer danken. Deine unglückl. [Vorname der Rückkehrerin 2].

Anlage 5 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 24.8.1976]

24.8.[1976] | Liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester von Rückkehrerin 3] + [Vorname des Bruders von Rückkehrerin 3]!

Ich habe Deine beiden Briefe erhalten, recht herzlichen Dank. Ich freue mich immer sehr darüber. Zurzeit habe ich leider keine Zeit um zu schreiben. Ich arbeite aushilfsweise als Bürohilfe. Schreibt bitte nicht mehr zur [Adresse]. Ab 1. Sept. habe ich ein möbliertes Zimmer, ich schreibe Euch noch die Adresse, dann schreibe ich auch mehr, denn dann bin ich alleine. Ab 1. Sept. habe ich auch eine Arbeit als Verkäuferin beim Bücherbund, zwar sehr schlecht bezahlt, aber ich bin auf niemanden angewiesen.

Meine Sachen muss ich mir alle alleine kaufen. Wenn ich Euch meine Adresse geschrieben habe, schickt mir bitte meine Sachen, auch einiges zum Anziehen, z. B. meine Winterjacke. Ich kann mir nämlich immer noch keine leisten. Ich schreibe auch dann alles ausführlich, wo ich dann wohne, was ich mache. Ich bin ja dann alleine. […] Ende September, wenn ich mein erstes Gehalt habe, werde ich Euch etwas schicken.

[…]

Entschuldigt bitte meine Schrift, ich schreibe vom Betrieb aus. | Ich habe Euch sehr lieb | Eure [Vorname der Rückkehrerin 3] | viele liebe Grüße

Anlage 6 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 25.8.1976]

25.8.1976 | Liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester]!

Gestern habe ich Euch schon ein paar Zeilen geschrieben, hoffentlich könnt Ihr meine Schrift lesen.

Ich schreibe jetzt in der Mittagspause. Schreibt bitte erst wieder, wenn ich Euch die Adresse meines möblierten Zimmers, das ich ab 1.9. beziehe, mitteile. Dann habe ich auch mehr Zeit. Unterstützung bekomme ich keine, ich muss mir alles alleine mühsam erarbeiten. Und komme immer erst gegen 18.00 Uhr nach Hause. Und wenn ich da bin, wird nur geschimpft. Ich habe das alles so satt und würde sonst was dafür geben, wenn ich das letzte Jahr noch einmal zurückdrehen könnte und ich nie hierhergekommen wäre.

[…] Vielleicht wird alles ein wenig anders, wenn ich eine neue Stelle ab 1.9. und das möblierte Zimmer habe. Ich habe nichts für eine Wohnung, kein Geschirr gar nichts, wenn ich mein Zimmer in [Ort 5 (DDR)] mit dem möblierten Zimmer vergleiche, könnte ich heulen. In einem Gefängnis kann es auch nicht schlimmer sein.

[…]

Die Kassetten und das Buch könnt ihr behalten, und mir später vielleicht die Zeichensachen schicken. Gebt den Westdeutschen nichts von mir mit. Und schickt mir bitte die anderen Sachen, wenn Ihr meine Adresse habt (es ist ja nur noch 1 Woche bis dahin). Übrigens darf ich jetzt weder Rauchen noch mir die Haare färben. Nächstes Jahr komme ich aber trotzdem zu Besuch, eventl. für immer, wenn ich darf.

Macht Euch um mich keine Sorgen, ich bin selbst an allem Schuld.

Viele liebe Grüße von Eurer [Vorname der Rückkehrerin 3]

Anlage 7 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 6.8.1976]

6.8.1976 | Meine liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester] und [Vorname des Bruders]!

Ich kann Euch nur kurz einiges mitteilen. […] Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie es mir geht, ich könnte mich am liebsten hinlegen und für immer einschlafen. Ich habe keinen Pfennig Geld, bekomme auch in der BRD keine Unterstützung. […] Heute muss ich erstmal sehen, dass ich eine Aushilfsarbeit irgendwo bekomme.

[…]1

Anlage 8 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 5.9.1976]

München, den 5.9.1976 | Liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester] und [Vorname des Bruders],

endlich habe ich Zeit, Euch zu schreiben. Es tut mir leid, dass ich nicht öfters geschrieben habe, aber ich komme immer sehr spät nach Hause.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]

Liebe Mutti, Ihr könnt froh sein, dass Ihr eine schöne Wohnung habt, Euer Auskommen und vor allem Ihr kennt Menschen, kommt nie auf den Gedanken, auch [Vorname der Schwester] nicht, in der BRD leben zu wollen. Vielleicht schaffe ich es eines Tages auch vorwärtszukommen, aber im Augenblick weiß ich was es bedeutet arm zu sein. Am 1.9. habe ich als Mitarbeiterin beim Bücherbund angefangen, es ist ähnlich wie ein Büchergeschäft nur Schallplatten und Phonogeräte kommen noch dazu. Ich bin Verkäuferin mit einem geringen Gehalt. Auch habe ich jetzt ein spärlich möbliertes Zimmer. Ich muss von 9.00 bis 18.00 Uhr arbeiten, auch Sonnabend, habe aber dafür einen freien Tag in der Woche. Jeden Tag muss ich mit der S-Bahn bis Marienplatz-Stachus fahren, ich muss deshalb immer 6.30 Uhr aufstehen und komme gegen 19.00 Uhr in meinem Zimmer an. [Vorname der Schwester], Du schreibst, dass es hier schöne Geschäfte gibt. Ja, hier gibt es alles, was ein Mensch sich wünschen kann, aber ich schaue mir fast nie Geschäfte an, weil ich mich dann nur ärgere, denn Geld regiert die Welt. Und das habe ich nicht. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was es für Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt.

Ich komme mir vor wie in einem Film, ein armes Mädchen in der großen fremden Welt.

Aber ich habe mir alles selbst eingebrockt.

[…]

Liebe Mutti, könnt Ihr mir bitte jetzt die Sachen schicken, wenn möglich auch die rosa Kerze und vielleicht ein paar schmückende Kleinigkeiten aus dem Kinderzimmer, denn hier ist alles so kahl und leer, ich darf gar nicht daran denken.

Für heute viele liebe Grüße auch an [Vorname des Bruders] | von | Eurer [Vorname von Rückkehrerin 3] | Verzeiht mir

Anlage 9 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 16.9.1976]

München, den 16.9.1976 | Meine liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester],

ich habe mich fest entschlossen zurückzukommen, ich habe solche Sehnsucht nach Euch. Schickt bitte nichts von meinen Sachen, räumt auch meinen Schrank nicht aus. […] Schreibt mir bitte deshalb sofort, ob Ihr alle, auch [Vorname des Bruders], damit einverstanden seid, dass ich wiederkomme und dass wir uns vertragen werden. Wenn wir ein wenig umräumen, kommen wir auch mit dem Platz hin, wenn [Vorname des Bruders] von der Armee wiederkommt, wenn wir alle noch zu Hause sind in den nächsten Jahren, könnten wir vielleicht auch einmal eine größere Wohnung bekommen. Und die Leute in [Ort 5 (DDR)] werden sich inzwischen beruhigt haben. Schreibt mir bitte recht bald, ob das möglich ist und ob es Euch vielleicht auch lieber ist, wenn wir wieder alle zusammen sind. […]

Meine liebe Mutti, es tut mir so leid, dass ich von Dir weg bin und von meiner lieben [Vorname der Schwester]. Fragt bitte, sobald Ihr diesen Brief habt, nach, ob ich jederzeit wieder in die DDR zurück kann und auch wieder die Genehmigung bekomme als DDR-Bürger zu leben und zu arbeiten. […] Erkundige dich auch bitte, ob ich Anfang des nächsten Jahres eine Arbeit als Sachbearbeiterin (außer LBK) bekommen kann. Wenn möglich schriftlich geben lassen. [Vorname der Schwester], schreibe bitte an das Ministerium des Innern in Berlin, ob ich, wenn ich legal in die BRD übergesiedelt bin, wieder die Möglichkeit habe in die DDR zu ziehen, weil es mir dort [in der BRD] in keiner Weise gefällt, schreibe im Auftrag von mir. Adresse ist in [Ort 5 (DDR)], bei meinen Papieren. Macht es bitte sobald wie möglich. Wenn es der Fall ist, dass ich wieder in die DDR ziehen kann, dann fragt, ob es ausreicht, wenn ich ein Besuchervisum nach [Ort 5 (DDR)] beantrage und dann dort bleibe, meine Papiere abgebe und einen DDR-Personalausweis beantrage. Erkundigt Euch auch bitte, wie das mit dem Visum vor sich geht und was ich eventl. hier tun muss. Ich muss das sehr genau wissen. Ich möchte versuchen, dass ich um Weihnachten Neujahr herum wieder zu Hause bin. […]2

Anlage 10 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 15.10.1976]

München, den 14.10.1976 | Meine liebe Mutti, liebe Mama!

Habe recht vielen Dank für Deine lieben Briefe.

Ich habe mich sehr gefreut. Ich habe dich sehr lieb, und werde alles versuchen, dass wir wieder zusammen sind, liebe Mama, das sind keine leeren Versprechungen. Du weißt selbst, wie sehr ich an Euch hänge. Weine bitte bitte nicht mehr so viel und mache Dir um mich keine Sorgen, Du hast mich gut erzogen und ich weiß immer, wo ich zu Hause bin. Das Bild in der Zeitung habe ich erhalten, vielen herzlichen Dank. Es freut mich auch, dass Du eine Prämie bekommen hast. In der Zwischenzeit werdet Ihr hoffentlich die beiden Pakete erhalten haben, sicherlich werdet Ihr ein wenig Freude daran haben. Im Augenblick bin ich immer sehr sehr müde, weil ich so viel arbeiten muss und dauernd gibt es Streit wegen der Überstunden, die nicht bezahlt werden. Jetzt muss ich auch immer zu irgendwelchen Behörden, [Vorname der Schwester] habe ich es schon geschrieben. Von München kenne ich bisher nur den Weg zur Arbeit per S-Bahn und nach Hause. Ich möchte auch von dieser verkommenen Stadt nicht mehr kennenlernen.

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]3

Anlage 11 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 15.10.1976]

München, den 15.10.1976 | Meine liebe kleine [Vorname der Schwester],

entschuldige bitte, dass ich bisher noch nicht zum Schreiben gekommen bin, ich bin immer sehr müde, wenn ich von Arbeit komme, trotzdem denke ich aber immer an Euch. Und wenn ich abends nach Hause komme, dann weine ich immer, vor allem, wenn von Euch Post da ist. Auch heute, ich bin erst 19.30 Uhr von Arbeit gekommen, weil ich im Lager Bücher rausräumen musste (übrigens ist erst der 14.), habe ich Deine beiden Briefe erhalten, meine liebe [Vorname der Schwester]. Ich habe mich sehr gefreut. Vor allem freut es mich, dass Du mir immer alles schreibst. [Vorname der Schwester], weißt Du, wie ich darunter leide, dass wir nicht zusammen sind und wie bitterlich ich deswegen schon geweint habe. […]

Meine liebe [Vorname der Schwester], wir sehen uns wieder, entweder in der BRD oder in der DDR, das verspreche ich Dir, denn ich kann so nicht leben. Wenn Du wüsstest wie alt ich schon aussehe. Liebe [Vorname der Schwester], mache unserer Mama bitte Mut. Sie soll bitte bitte nicht mehr weinen. Das Leben hat auch noch schöne Seiten. Und dass ich sie sehr sehr lieb habe, weiß sie auch.

Auch ich habe sehr sehr viel durchzustehen, laufend habe ich Schwierigkeiten mit Behörden, wegen der Krankenkasse usw. Heute wurde ich 4½ Stunden befragt, beim Amt für Befragungswesen (ähnlich wie Staatssicherheit), dort haben sie schon alles über mich gewusst, aber ich bin ja nicht dumm, du verstehst […]

Für heute viele liebe Grüße und Küsse von Deiner [Vorname der Rückkehrerin 3]. | Schreibe bald!

Anlage 12 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 22.10.1976]

München, den 22.10.1976 | Meine liebe [Vorname der Schwester], liebe Mutti,

ich habe heute Deinen lieben Brief bekommen, liebe [Vorname der Schwester], recht herzlichen Dank. Ich freue mich immer sehr, wenn ich von Euch Post bekomme, ich habe schon die ganze Woche darauf gewartet. Zurzeit bin ich mit meinen Nerven ziemlich am Ende, ich muss noch zu allen möglichen Behörden, bis jetzt wurde ich noch nicht in Ruhe gelassen. Gestern waren hier zwei Leute von irgendeiner Betreuungsstelle für Flüchtlinge, vorige Woche war ich einige Stunden beim Amt für Befragungswesen. Bis jetzt habe ich die Erfahrung gemacht, dass es hier in solchen Dingen viel schlimmer zugeht als in der DDR.

[…]

Morgen Abend fahre ich wieder nach [Ort 8 (Bundesrepublik)], früher geht es nicht, da ich samstags immer arbeiten muss und wenn das Weihnachtsgeschäft losgeht, dann fällt auch der freie Tag weg und ich muss jeden Samstag bis 18.00 arbeiten. Am liebsten würde ich manche Kunden erschlagen, so gemein können die sein. Aber das darf man leider nicht, denn dann wird man fristlos entlassen. Mich nimmt das alles sehr mit, die ewige Angst um die Arbeit und dass die Firma nicht die freiwillige Zulage kündigt. Hier ist es sehr anstrengend. Lerne bitte recht fleißig liebe [Vorname der Schwester], versprich mir das bitte.

Liebe [Vorname der Schwester], Du hast von den Wahlen in der DDR geschrieben. Hier darf man zwar ankreuzen auf den Stimmzetteln, aber durch die Wahlpropaganda und den ganzen Versprechungen der Parteien werden die Wähler sehr beeinflusst. Ich habe das alles selbst erlebt. Denn als ich noch am Marienplatz war und in der anderen Filiale gearbeitet habe, konnte ich vom Fenster aus alles beobachten. Ich habe auch fast alle bekannten Persönlichkeiten gesehen, Schmidt (der Bundeskanzler), Brandt, Strauß usw. Ich habe aber auch andere Veranstaltungen gesehen, z. B. von der DKP, obwohl diese Partei hier erlaubt ist und in der BRD jeder in Freiheit leben kann und nach der Verfassung auch jeder in polit. Hinsicht tun und lassen kann, was er will, werden diese Leute auf das Übelste beschimpft, man braucht nur dort zuzuhören und schon wird man als Kommunistensau bezeichnet. Auch kommt es vor, dass solche Veranstaltungen von berittener Polizei niedergeknüppelt werden. Nun kannst du dir ein Bild machen. Mich würde es freuen, wenn Du mir dazu einmal schreiben würdest. Ich selbst, [Vorname der Schwester], habe einen großen Fehler gemacht […]4

Anlage 13 zur Information Nr. 423/77

[Kopie eines Briefs vom 8.12.1976]

München, den 8.12.1976 | Meine liebe Mutti, liebe [Vorname der Schwester],

ich möchte mich recht herzlich für die beiden einfachen und den Eilbrief von [Vorname der Schwester] und für Deinen lieben Brief, liebe Mutti, den ich heute erhalten habe, [bedanken]. Ich habe mich sehr gefreut, habt recht herzlichen Dank. Es ist zwar schon sehr spät, aber ich kann vor Sehnsucht nach Euch nicht schlafen. Meine liebe Mutti, was sollte ich hier, ich kann mich nicht an das alles hier gewöhnen. Ich habe mir alles sehr gut überlegt, und mache auch niemandem Vorwürfe und werde nie Euch Vorwürfe machen oder unzufrieden sein. Wenn Ihr wüsstet wie ich hier lebe, wenn Ihr das Zimmer sehen würdet, dazu der niedrige Verdienst, die hohe Miete und wie ich schuften muss, vor allen Leuten dienern.

Nein, ich will so leben wie bisher, eine Arbeit haben, die mir gefällt, nebenbei weiterlernen und vor allem bei Euch sein, dann ist alles wieder gut. Das Leben hier würde niemandem von Euch gefallen. Was hat man davon, wenn es alles zu kaufen gibt, aber doch nicht kaufen kann. Wir haben nicht schlecht gelebt und wir werden auch nicht schlecht leben. Wir haben eine schöne Wohnung, jeder hat zum Anziehen und vor allem eine Arbeit, um die man nicht bangen braucht.

Auf alle Fälle und das ist jetzt 100%ig, ich komme noch diesen Monat zurück, im Dezember. Weihnachten wird es noch nicht sein, aber kurz nach Weihnachten, sobald ich mein Gehalt habe. Vielleicht ist [Vorname des Bruders] Silvester auch da, ich bin auf alle Fälle Silvester bei Euch. Ich freue mich schon so sehr, auch auf den Tannenbaum. Mir ist es doch vollkommen gleich, was ich noch zum Anziehen habe, das nötigste auf alle Fälle, auch Ihr. Und in der DDR kann man auch alles kaufen. Ich gebe dann gleich, wenn ich das Gehalt habe, Tante [Vorname], das was sie noch bekommt, weil ich einiges bei Ihr im Geschäft für Euch gekauft habe, das ich noch teilweise bezahlen muss. Aber natürlich weiß Tante [Vorname] nicht, was ich Euch in Wirklichkeit alles geschickt habe, denn sie gibt nur jede Woche Brot und für Montag Schnitten mit, sonst würde sie das vielleicht nicht mehr machen. Aber ich bin darauf angewiesen, weil ich wollte, dass ihr etwas Vernünftiges zum Anziehen habt. Ihr verratet es ja bestimmt nicht. Heute habe ich Weihnachtsgeld bekommen 300 DM.

Ich hätte gar nicht gedacht, dass es soviel ist. Ich habe gleich das Radio abgezahlt und für [Vorname des Bruders] etwas zu Weihnachten gekauft. Natürlich bin ich schon wieder bis auf 7 Mark pro Woche bis Weihnachten pleite. Aber [Vorname des Bruders] braucht schließlich auch etwas Vernünftiges. Das Paket nehme ich morgen früh mit auf die Post. Ihr werdet sicherlich schon Eure Pakete haben.

Inhaltsverzeichnis:

1 braune Kordjeans, 1 Nickypullover, 1 Jacke beige-braun, 1 Cocktailgebäck, 1 Schokozigaretten, 1 Großpackg. Erdnüsse, 1 Päck. Teefix, 1 Knorr klare Brühe, 1 Kakao, […]5

Anlage 14 zur Information Nr. 423/77

[Original-Schriftstück Rückkehrerin 4]

Am 16.5.1975 reiste ich mit meinen Kindern [Vorname 1], [Vorname 2] und [Vorname 3] zu meinem Mann [Vorname 4 Name 1 des Ehemanns] in die BRD nach 7000 Stuttgart 1, [Adresse], aus. Mein Mann hatte die Wohnung von seiner Arbeitsstelle, [Name], bekommen. Auf Antrag beim Amt für öffentliche Ordnung bekamen meine Tochter [Vorname 1] und ich den Personalausweis der BRD.

Eine finanzielle Unterstützung erhielten ich und die Kinder in Form einer Zuwendung von 375 DM (150 für mich und je 75 für die Kinder). Diese bekam ich per Postanweisung. Ein Aufnahmeverfahren erfolgte schriftlich von Gießen. Dazu bekamen wir einen Brief von dort und haben dann den mitgeschickten Vordruck wieder dorthin geschickt. Dieses erledigte mein Mann.

Mein Mann ist im Rechenzentrum/Poststelle als Fahrer und [zur] Erledigung von Postaufgaben des Rechenzentrums beschäftigt. Er verdient im Monat ca. 1500 [DM] netto mit Kindergeld. Wir zahlten anfangs eine Miete von ca. 210 [DM] und später 250 [DM].

Mein Mann erhielt für den Bauernhof in [Ort 12], Kreis Halberstadt, in Erbgemeinschaft mit seinem Bruder [Vorname 5 Name 1], [PLZ Ort 13, Adresse] einen Lastenausgleich von rd. 10 000 [DM]. Im Herbst des Jahres 1975 verkauften mein Mann und sein Bruder das in der BRD gelegene Ackerland für ca. 140 000 [DM], wovon jeder dann die Hälfte bekam.

Wir waren mit der Erwartung in die BRD gekommen, wieder ein geschlossenes Familienleben zu haben. Durch die Schilderungen meines Mannes, wie er 1972 über die Staatsgrenze der DDR in die BRD gekommen ist, wie er »es geschafft« habe, stellte er sich als Held uns gegenüber hin. Beim gemeinsamen Einkauf von Mobiliar bemerkte mein Mann gegenüber den Verkäufern, »meine Familie ist jetzt aus der DDR gekommen« und »ich habe drei Jahre dafür gekämpft«. In Diskussionen mit den Kindern und mir ließ mein Mann unsere Meinung nicht gelten. Wenn wir für die DDR eintraten, die uns ja die Ausreise sogar mit den gesamten Möbeln und allen anderen Haushaltsgegenständen gewährte, gab uns mein Mann keine Zustimmung.

Dies spitzte sich so zu, dass in der Familie immer weniger gesprochen wurde. Alles sollte so gemacht werden, wie mein Mann es sagte. In der Schule fanden die Kinder sehr schwer Kontakt. Sie wurden beleidigt von ihren Mitschülern und anfangs gar nicht beachtet. Verbindung hatten wir mit meinem Schwager [Vorname 5 Name 1] aus [Ort 13], welchen wir im Sommer des vorigen Jahres acht Tage besuchten. Meines Mannes Onkel [Vorname Name 2], [Ort 14] im Schwarzwald, besuchten wir einige Male. Mein Mann hatte einen Arbeitskollegen, den wir mal besucht haben. ([Vorname Name 3], Stuttgart-[Ortsteil], Straße?).6 Unsere Wohnung liegt in einem 6-Familienhaus. Der Kontakt beschränkte sich auf häusliche Dinge.

Ich hatte insgesamt gesehen den Eindruck von den Menschen und dem Leben in der BRD über uns »jetzt sind sie hier und können endlich leben so wie sie es wollen und in Freiheit!« Dieses wurde von mir und den Kindern aber nicht akzeptiert, und dadurch kam es auch nun sehr oft zu Reibereien mit meinem Mann, welche darin endeten, dass wir uns Letzteres nichts mehr zu sagen hatten und unser Leben in der BRD nicht mehr auszuhalten war. In einer Diskussion auf dem Marktplatz in Stuttgart vor den Landtagswahlen Anfang April 1976 hörte ich die Meinung über die DDR, »ja, Kühlschrank, Fernseher und andere Luxusartikel können die Leute sich kaufen, aber denen fehlt die Freiheit«. Meine Meinung dazu war, der Preis der »Freiheit« in der BRD sind Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Rauschgift.

Wir waren kaum 14 Tage in der BRD, als in unserer Wohnnähe ein Mann hinterrücks erschossen worden ist. In der Zeitung »Stuttgarter Zeitung« stehen täglich Berichte über grausige Verbrechen, die dort ständig passieren. Auch erlebten wir Männer auf der Straße die bettelten, einer hatte ein selbstgeschriebenes Schild umgehängt: »Bin aus der Haft entlassen, bitte um eine Spende«! (sinngemäß) An der Wohnungstür klingelte es einige Male »Bin aus der Haft entlassen, habe keine Arbeit, bitte kaufen sie mir was ab«! (Zeitung, Wäscheklammern, Seife)

Das Angebot in den Geschäften ist groß – Preise:

  • 2 Pf. Roggenbrot 2,00 bis 2,40

  • 1 Ltr. Vollmilch 0,99 bis 1,08

  • 1 kg Schwein 18,00 bis 20,00

  • 1 kg Rind 18,00 bis 20,00

  • 1 kg Kalb 28,00 bis 30,00

  • 100 g Bratwurst 2,00 bis 3,00

  • 1 kg Kartoffeln 1,59 bis 1,90

  • 1 Brötchen 0,15

  • 1 P. Kinderschuhe 45,00 bis 50,00

  • 0,2 Limonade am Stand 1,00

  • 1 Bockwurst 1,50 bis 1,90

  • 1 Glas Wasser 1,75

Zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg habe ich SPD gewählt. Mein Mann sagte nur, wir wählen FDP. Ich habe deshalb SPD gewählt, weil es die Partei war, die die Verträge mit der DDR abgeschlossen hat und die DDR anerkennt.

[Vorname Name der Rückkehrerin 4]

Anlage 15 zur Information Nr. 423/77

[Original-Erklärung der Rückkehrerin 5]

[Orthografie wie im Original]

Berlin, d. 25.6.1977 | Erklärung

Ich, Frau [Vorname Name der Rückkehrerin 5], stamme aus einer Arbeiterfamilie. Als Tochter des Arzthelfers [Vorname Name] am [Tag] 1910 in Berlin-Neukölln geboren. 1917–1925 habe ich die Volksschule besucht. 1925 bin ich dann als Kindermädchen gegangen. Danach in Stellung als Stubenmädchen in [Ort 15]. 1930 bin ich Freiarbeiterin in [Ort 16]. 1934 habe geheiratet. Aus der Ehe sind 5 Kinder hervorgegangen. Davon leben 1 Sohn BRD, der andere Sohn und 3 Töchter in der DDR. Bis nach meiner Bezug nach der BRD wohnte ich bei meiner Tochter [Vorname Name] in [Ort 6 (DDR), Adresse]. Auf Grund der persönlichen Auseinandersetzungen mit meiner Tochter stellte ich im Herbst 1976 einen Antrag auf legalen Verzug nach BRD. Zu meinen Sohn [Vorname Name] nach Aachen. Dieser hatte mich aufgefordert, zu ihm zu kommen. Er versprach mir das er wollte ein Haus kaufen. Wo ich mit wohnen konnte. Da meinen Sohn [unleserliches Wort] sein Versprechen; Nicht zweifelte reiste ich nach der BRD aus. Bei der Einreise in die BRD fand volgendes vor. Ich stellte fest, das mein Sohn, in finanziell schwierigkeit war. Von seinen kleinen Gehalt, konnte er sich kein Haus leisten. Er verdiente monatlich 1 400 M. Da er für Miete 400 M, Lichtgeld 200 M außerdem Nebenkosten hatte. Reichte der Rest seines verdienste nicht aus, um seine 5köpfige Familie zu ernähren. Es führte dazu, dass er Schulden machen mußte. Die finanzielle Schwierigkeiten waren die Ursachen meiner Auseinander Setzungen mit meinen Sohn. Da er nur über eine Dreizimmerwohnung verfügte, war ich gezwungen, in dieser Enge mit meinen Sohn zu Leben. Nach einem Monat fühlte, das ich dort nicht Leben konnte. Die Auseinandersetzung mit meiner Schwiegertochter spitzten sich zu. Dazu kam, das ich bis zum gegen den Zeitpunkt, keine Rente bekommen, erhielt lediglich 2 × 850 M Überbrückungsgeld. Damit konnte ich meinen Sohn nicht unterstützen. Da ich der Zeitung über Morde und Raubüberfälle gelesen hatte, da sagte ich zu mir, so was gibt es nicht bei uns in der DDR. Da Leben unsere Menschen ruhig und friedener in der DDR. Da bekam ich Angst auf der Straße zu gehen. Durch diese Umstände erkannte ich. Das ich in der BRD nicht leben konnte. Am 22.6.1977 verwies meine Schwiegertochter mich aus der Wohnung, und sagte auch noch ich brauche nicht mehr wieder zurück kommen. Heute weis ich das es ein großer Fehler war das ich aus der DDR ausgereist bin. Ein älterer Mensch kann in der BRD sich nicht wohl fühlen.

[Vorname Name der Rückkehrerin 5]

Anlage 16 zur Information Nr. 423/77

[Original-Erklärung des Rückkehrers 6]

[Ort 7], den 26.6.1977 | Gedanken zu meiner Rückkehr in die DDR

Als ich im Sommer des Jahres 1975 aus dem GST-Lager in [Ort 17] zurück nach Hause kam, erfuhr ich erstmalig von einer beabsichtigten Übersiedlung unserer Familie in die BRD. Da ich augenblicklich gegen dieses Vorhaben war, wurde ich damit auch völlig von den übrigen Familienmitgliedern isoliert, ausgeschlossen. Da es aber notwendig war, meine Meinung schriftlich zu fixieren und diese der Abteilung für innere Angelegenheiten des Rates des Kreises Schwarzenberg mitzuteilen, kam es zu einer Aussprache zwischen dieser Behörde und meiner Mutter und mir. Wochen darauf hielt ich dem psychologischen Druck der Familie nicht mehr stand und änderte meine Meinung dahingehend, dass ich der Behörde versicherte, [dass ich] nach Vollendung meines 18. Lebensjahres erneut die Staatsbürgerschaft der DDR beantragen werde, da sonst, bei einer Weigerung die Ausreiseanträge der Mutter abschlägig beantwortet würden.

Im Dezember des selbigen Jahres erfolgte dann auch wirklich unsere Ausreise in die BRD, nach [Ort 9].

Ab 12. Januar 1976 besuchte ich das Schiller-Gymnasium in [Ort 9], meiner damaligen »Heimatstadt«. Dabei hatte ich Gelegenheit einen Einblick in das bundesdeutsche, insbesondere bayerische Schulwesen zu bekommen. War ich zu Hause Schüler der 12. Klasse der [Ort 18] EOS [Name], so war ich dort gezwungen die 11. Klassenstufe nochmals zu beginnen. Die Gründe dafür lagen einerseits in dem »neuartigen« System in der Unterrichtsvermittlung, einem Kurssystem, in dem eine Punktesammlung anstelle der sonst üblichen Zensuren getreten ist und diese Punkte als Summe auf dem Abiturzeugnis ihren Niederschlag finden. Die andere Seite, die meine Aufnahme in die Stufe 12 verhinderte, bestand in den unterschiedlichen Lernfächern unseres Bildungssystems und das der BRD. Da Fächer wie Religion, Ethik und ähnliche Kurse nicht Bestandteil unseres Lehrplanes sind, da Latein anstelle vom Fach Russisch steht und auch Englisch bereits länger gelehrt wird als in unseren Schulen, konnte eine Anrechnung meiner bisherigen Leistungen nicht erfolgen. Weitere Hindernisse ergaben sich aus [der] Lehrmethode und dem Verhalten der Lehrkräfte den Schülern gegenüber, die ja insbesondere mir fremd und demütigend vorkommen musste. Kurz gesagt vom obligatorischen morgigen Frühgebet bis zur Interpretation literarischer Schriften war mir alles hoffnungslos fremd. Obwohl ich mir keinen Mangel an Versuchen zur gegenseitigen Verständigung vorzuwerfen habe, kam es hin und wieder zu harten Auseinandersetzungen mit einigen Lehrkräften, die glaubten mich fühlen lassen zu müssen, dass ich aus der ihnen »minderwertigen SBZ« übergesiedelt war.

Ein Klassenkollektiv in unserem Sinne gab es nicht. Nicht nur, dass jeder seiner eigenen Wege ging, half mir auch niemand bei fachlichen sowie familiären Problemen. Begriffe wie gute Lernhaltung, zügiges Arbeitstempo, Arbeitsdisziplin waren den Lernenden sowie den Lehrenden beinahe fremd. Ein Einfügen in diese Seite meines gewohnten Alltags war für mich unmöglich und auch nicht beabsichtigt.

So wie die Verhältnisse in dieser Schule waren und noch sind, so ist das alles auf das gesamte kapitalistische System zu beziehen. Bittere Erfahrungen im Umgang mit den Menschen, die dort leben müssen, haben es mir ermöglicht, als klaren Kontrast zu unserer sozialistischen Gesellschaft, wo ein ständiges Miteinander und Füreinander der Menschen erwünscht, erstrebt und schon weitestgehend realisiert ist, die gefühlskalten, geschäftsmäßigen und fast feindlichen Beziehungen der Menschen untereinander als Kriterium des Imperialismus zu werten.

Obwohl meine Mutter mit meiner Rückkehr in die DDR niemals einverstanden war und es auch nie sein wird, zeugt doch ein Brief, in dem sie schreibt: »Hier bist du so frei, dass es nicht mal jemand merkt, wenn du stirbst!« von der erschütternden Tatsache in einem Land, wo statt des Menschen der Profit im Mittelpunkt allen Bemühens steht.

Seit dem 16. Juli 1976 bin ich nun schon wieder in der DDR. Schon während der laufenden Untersuchungen wurde für mein Vorwärtskommen Sorge getragen. Der 28. Oktober dieses Jahres war für mich der erste Schultag in der [Ort 19] EOS [Name], wo ich jetzt mein Abitur mit sehr gutem Erfolg abschließen konnte. Ab 2. September 1977 werde ich mein Studium an der staatlichen Schauspielschule [Ort 20] aufnehmen. Ich fühle mich hier sehr wohl im Kreise meiner Familie [Name], bei der Oberschwester des Krankenhauses für Kinderneuropsychiatrie [Name], in der Gewissheit, dass mir niemals ein Stein in den Weg gelegt wird, sondern ich alle Vorrechte unseres sozialistischen Staates genießen darf.

[Name, Vorname von Rückkehrer 6]

  1. Zum nächsten Dokument Außerordentliche Sitzung der KKL am 18.6.1977

    29. Juni 1977
    Information Nr. 432/77 über die außerordentliche Sitzung der Konferenz der Kirchenleitungen der evangelischen Kirche der DDR am 18.6.1977

  2. Zum vorherigen Dokument Aktivitäten oppositioneller Künstler und Intellektueller (2)

    28. Juni 1977
    Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit feindlich-negativen Aktivitäten von Personenkreisen auf dem Gebiet Kunst und Kultur [Bericht K 3/13]