Nichtrückkehr eines Parteisekretärs von Dienstreise nach Oldenburg (2)
11. November 1977
Information Nr. 707/77 über die bisherigen Ergebnisse der Überprüfung der zeitweiligen Nichtrückkehr des hauptamtlichen Parteisekretärs des VEB Kabelwerke Nord/Schwerin, Schulz, Joachim, von einer Dienstreise nach der BRD
Ergänzend zur Information Nr. 704/77 vom 9.11.1977 über die Nichtrückkehr des hauptamtlichen Parteisekretärs des VEB Kabelwerke Nord/Schwerin, Schulz, Joachim, von einer Dienstreise nach der BRD, wird im Ergebnis der bisher durch das MfS geführten Überprüfungen mitgeteilt:
Am 10.11.1977, um 9.51 Uhr, traf der Schulz, Joachim, mit dem Schnellzug D 437 Hamburg–Dresden an der Grenzübergangsstelle Schwanheide wieder in der DDR ein.
Schulz brachte zu Beginn der mit ihm nach seiner Rückkehr geführten Gespräche zum Ausdruck, dass er froh und glücklich sei, wieder in der DDR zu sein.
Über die Beweggründe seiner Verhaltensweise befragt, gab Schulz an, dass er von Anfang an Angst gehabt hätte, die Funktion des Parteisekretärs auszuüben. Er sei Hals über Kopf eingesetzt worden und habe bei der Bewältigung der Aufgaben gemerkt, dass er es nicht schaffe. Auch habe er wenig Kontakt zu den Werktätigen besessen. Als die Bedenken immer stärker wurden, habe er sich vertrauensvoll an den 2. Sekretär der Kreisleitung der SED gewandt. Er habe ihm zugesagt, seine Argumente prüfen zu wollen und einen geeigneten Kader zu suchen. Gleichzeitig aber habe man ihm zugeredet, seine Funktion durchzuführen und ihm mitgeteilt, dass die Partei erwarte, dass er als Parteisekretär weiterarbeite. Er sei nur widerwillig an die Arbeit gegangen. Vonseiten der Kreisleitung habe er bezüglich seiner Bedenken in der Folgezeit keine Hilfe erhalten und die erwarteten kadermäßigen Veränderungen seien auch nicht erfolgt. Das habe dazu geführt, dass bei ihm Zweifel und Angst wuchsen. Er habe nicht den Mut gehabt, mit weiteren über seine Konfliktsituation zu sprechen, außer mit der Ehefrau.
Seit einem halben Jahr bestanden bei ihm solche Gedanken, bei einem Einsatz in der BRD dort zu bleiben. Er war der Meinung, wenn er drüben ist, könne die Frau nachkommen. Einen festen Entschluss hatte er noch nicht gefasst, sondern war hin- und hergerissen von der Absicht, in der BRD zu bleiben und den Zweifeln an seinen Fähigkeiten. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
In dieser Konfliktsituation erhielt er den Auftrag, in die BRD zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt hätte er zwar immer noch keinen Entschluss gefasst, habe aber schon seine Personalunterlagen mitgenommen. Am 6.11.1977 hat er dann den Entschluss gefasst, in der BRD zu bleiben.
Am 8.11.1977 sei er dann von Bremen – seinem Aufenthalt – nach Hamburg gefahren, wo er um 11.25 Uhr eintraf. Er habe sich bei der Bahnpolizei gemeldet und mitgeteilt, dass er in der BRD bleiben wolle. Nachdem man ihn zur nächsten Polizeiwache verwiesen habe, sei er von dort zum Polizeipräsidium gebracht worden und von da aus zur Hauptbefragungsstelle Hamburg. Von den dort anwesenden Personen sei er ausführlich zu seiner Person gehört worden. Nachdem er um 16.30 Uhr in einer Pension untergebracht worden war, ist die Befragung am 9.11.1977 fortgesetzt worden. Er sei nach seinen Verwandten (Eltern, Schwiegereltern, Funktion, Tätigkeit usw.) befragt worden, über die er Angaben gemacht habe. Bei dieser Befragung habe er […] dem Befrager erklärt, dass er in die DDR zurück wolle und sich geweigert, weitere Aussagen zu machen. Der Befrager habe versucht, ihn zu überzeugen, in der BRD zu bleiben, unter dem Gesichtspunkt, dass sein Wunsch verständlich sei, aber er auch die Folgen überdenken möge.
In der Folgezeit sei ein weiterer Befrager erschienen, der ebenfalls versuchte, ihn zum Verbleiben in der BRD zu bewegen. Dabei habe dieser geäußert, dass das »Frankeministerium«1 dafür sorgen werde, dass die Ehefrau nachkomme. Schulz habe sich jedoch davon nicht beeindrucken lassen, auch als die Beeinflussungsversuche durch weitere Angehörige der Befragungsstelle fortgesetzt worden seien.
Die Befragung sei dann zu solchen Themen fortgesetzt worden wie Kampfgruppen2, wo er Angaben zur Gliederung, Unterstellung, Ausbildung, Gewinnung der Kräfte machen sollte. Schulz will dazu nur das gesagt haben, was offiziell bekannt sei. Zu konkreten Dingen will er die Aussage verweigert haben.
Weiter habe man ihn gefragt, welchen Auftrag er hatte, zu wem er gefahren sei, wie die Kader ausgebildet und geschult werden, welche Einsatzkader er noch kenne, welche Haltung die SED und die DKP zu den Terroristen3 einnehmen würden. Schulz habe erklärt, dass er offiziell gereist sei, in der BRD öffentlich auftreten sollte, dass der zweite Mitarbeiter der Genosse Piske war, dass sie nicht ausgebildet werden, sondern sich das aus der Arbeit ergibt.
Im weiteren Verlauf der Befragung wollte man wissen, ob Schulz vom MfS geschickt worden sei, ob er verpflichtet wurde, ob er verpflichtete Mitarbeiter im Betrieb kenne. Diese Fragen habe Schulz verneint, jedoch erzählt, dass er drei- oder viermal Kontakt zu dem zuständigen Mitarbeiter des MfS hatte, wo über betriebliche Probleme gesprochen wurde. Zu Objekten des MfS in Schwerin, nach denen er gefragt worden sei, habe er keine Angaben gemacht.
Die weitere Befragung habe sich dann auf den Parteiaufbau der SED, von der Kreisleitung an abwärts, konzentriert, wobei er Angaben zur Struktur, Zusammensetzung, Bezeichnung der Sekretäre, Bezahlung der hauptamtlichen und nebenamtlichen Parteisekretäre usw. gemacht habe, ohne konkrete Namen zu nennen.
Auf Anraten des Befragers habe er dann einen Brief an seine Ehefrau, adressiert an den Cousin seines Vaters, [Name, Vorname], wohnhaft in [PLZ Ort], Kreis Pritzwalk, geschrieben. Dieser sollte den Brief über seine Eltern an seine Frau schicken. Inhalt: sein Motiv und die Frau soll nachkommen.
Die Befragung sei um 15.30 Uhr beendet worden. Anschließend ist er in einem Motel in Hamburg untergebracht worden.
Schulz habe sich danach erneut Gedanken über die Folgen seines Entschlusses und über den Beginn des Verrates sowie über die Familie gemacht und sich entschlossen, seine Ehefrau anzurufen. Nach diesem Gespräch habe er sich endgültig entschlossen, in die DDR zurückzukehren.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen handelt es sich bei der Befragungsstelle in Hamburg um ein dem Bundesinnenministerium der BRD unterstehendes Organ, in dem Personen aus sozialistischen Staaten, die nicht wieder in ihre Heimatländer zurückkehren wollen, ausführlich vernommen werden. Insbesondere der Bundesnachrichtendienst der BRD und der englische Geheimdienst sind an den Befragungsergebnissen interessiert, die dann für verschiedene subversive Aktivitäten gegen die sozialistischen Länder genutzt werden.