Programm des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik
11. April 1977
Information Nr. 225/77 über den Vorschlag Kompensationsvorhaben »Komplex von Fabrikationsanlagen für Bauelemente der Halbleitertechnik und Mikroelektronik« des Ministeriums für Elektrotechnik/Elektronik
Die Zielstellung des im MfS vorliegenden Mikroelektronik-Programms in Vorbereitung der 6. Tagung des ZK1 trägt nach Auffassung von Experten den perspektivischen Anforderungen an die Mikroelektronik Rechnung. Es entspricht der Notwendigkeit eines dynamischen Leistungsanstiegs der Volkswirtschaft durch Anwendung der Mikroelektronik, die sich aus der Grundstruktur unserer Volkswirtschaft, ihrem verarbeitenden und exportintensiven Charakter ergibt.
Der vorliegende Entwurf zum Kauf kompletter Fabrikationsanlagen bzw. Ausrüstungen zur Herstellung moderner elektronischer Bauelemente stellt – übereinstimmenden Meinungen von Fachleuten zufolge – ein Maximalprogramm dar.
Die Realisierung dieses Programms hat für die 80er Jahre grundsätzliche Bedeutung, da zunehmend alle Lebensbereiche durch den Entwicklungsstand und die Anwendung der Mikroelektronik maßgeblich beeinflusst werden.
Die Zielsetzung des Vorschlages entspricht den Beschlüssen der 2. und 4. Tagung des ZK der SED2 sowie den Dokumenten, die der 6. Tagung zur Entscheidung vorgelegt werden.
Bei der inhaltlichen Realisierung der Aufgabenstellung entsprechend der vorgegebenen Zielstellung ist jedoch zu beachten, dass diese in ihrer Gesamtheit durch die Stellung der Mikroelektronik als nationale und strategische Größe der führenden Industrieländer der Welt bestimmt wird und demzufolge erschwerenden [sic!] Bedingungen unterworfen ist.
So unterliegen in den führenden kapitalistischen Industrieländern der Verkauf und die Lizenzvergabe moderner elektronischer Bauelemente, hochproduktiver Ausrüstungen und Mess- bzw. Prüfeinrichtungen sowie die Fertigungstechnologien strengen Embargobestimmungen. Z. B. hat die USA-Regierung für die Mikroelektronik und einige angrenzende Gebiete die Embargobestimmungen extrem verschärft und kontrolliert über diesen Mechanismus die westeuropäischen und japanischen Konzerne. Der militärisch-industrielle Komplex der USA räumt der Mikroelektronik eine absolute Vorrangstellung ein und konzentriert darauf bedeutende Mittel und Kontrollmaßnahmen zur Verhinderung des Abfließens entsprechender ideeller und materieller Potenzen.
Obwohl bedeutende Aktivitäten vonseiten der staatlichen Organe der DDR in der Vertiefung der Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern unternommen wurden, kann der Entwicklungsstand der Zusammenarbeit nach Meinung von Fachleuten insgesamt noch nicht befriedigen.
Zur Veränderung dieser Situation bedarf es einer langfristigen, kontinuierlichen Erfüllung der dem Bereich insgesamt gestellten Aufgaben.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die UdSSR aus militär-strategischen Überlegungen ihr Entwicklungs- und Produktionspotenzial gegenwärtig nur in begrenztem Umfang für die Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern zur Verfügung stellt. (Spezielle Gebiete der Mikroelektronik der UdSSR sind Bestandteil des Verteidigungspotenzials und erfüllen somit wichtige Aufgaben beim Ausbau der militärischen Überlegenheit sowie bei der Durchsetzung der Abrüstungskonzeption gegenüber den USA.)
Weiter sei nach Expertenmeinungen zu beachten, dass der Kauf bzw. die Lizenznahme von Fabrikationsanlagen für moderne Bauelemente der Mikroelektronik bis auf einige Teilgebiete die Anwendung des Ministerratsbeschlusses vom 11.3.1977 über die Grundlinien zur weiteren Durchführung von Kompensationsgeschäften3 ausschließt, woraus sich objektiv die Notwendigkeit zur Bereitstellung entsprechender finanzieller Fonds ergibt, die wegen der von der DDR aufzubringenden, erfahrungsgemäß hohen Embargopreise über die in dem Vorschlag angegebenen Größen hinausgehen dürften.
Darüber hinaus besteht die übereinstimmende Auffassung, dass die gesamten Arbeiten in Vorbereitung der 6. Tagung des ZK der SED sowie die Arbeitsschritte zur Realisierung der strategischen Zielstellung der DDR im Bereich der Mikroelektronik stärker den Bedingungen des Geheimnisschutzes unterworfen werden müssen. Dem Gegner bekannt werdende Kenntnisse über den Entwicklungsstand bzw. Maßnahmen zur Realisierung der Vorhaben gefährden und erschweren die Erfüllung des Gesamtprogramms.
Ausgehend von den Zielstellungen des IX. Parteitages der SED,4 der Volkswirtschaft der DDR moderne Bauelemente zur Verfügung zu stellen, wird unter Beachtung vorgenannter Prämissen ein etappenweises Vorgehen vorgeschlagen.
Dabei sollte stärker von begründeten, volkswirtschaftlich notwendigen Anforderungen in Verbindung mit strategischen Erwägungen ausgegangen werden, um zu vermeiden, dass dem Gegner Rückschlüsse auf unsere Gesamtstrategie möglich werden.
Wie in der Vorlage richtig bewertet, kommen beim direkten Erwerb von Lizenzen und Ausrüstungen bzw. kompletter Fabrikationslinien nur wenige leistungsstarke elektronische Konzerne als mögliche Partner infrage.
Die großen amerikanischen Elektronik-Konzerne sind aufgrund der bestehenden Embargobestimmungen besonders für die Abschnitte 1, 2 und 5 der Vorlage5 als Gesprächs- und Verhandlungspartner weitgehendst [sic!] ausgeschlossen. Vorerst sollten daher die Aktivitäten unter Leitung des Ministers für Elektrotechnik/Elektronik mit Unterstützung des Ministeriums für Außenhandel und der Fachabteilungen des Ministeriums für Wissenschaft und Technik auf die japanische elektronische Industrie konzentriert werden, um die Konkurrenz- und Krisensituation gegenüber den USA-Elektronik-Konzernen zu nutzen.
Ziel entsprechender Verhandlungen sollte es sein, mit einem bzw. mehreren japanischen Konzernen zu verbindlichen Vereinbarungen zur Zusammenarbeit auf den in der Vorlage angesprochenen Gebieten – auch Teil- bzw. Einzelgebieten – zu kommen.
In die Verhandlungen sollten auch nach Möglichkeit und bei entsprechenden Bedingungen die anderen vom Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik vorgeschlagenen Kompensationsgeschäfte mit einbezogen werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass japanische und auch andere westeuropäische Elektronik-Konzerne aus marktpolitischen und aus Profitgründen auf eine Zusammenarbeit mit der DDR eingehen könnten.
Abhängig von den Ergebnissen dieser Verhandlungen sollte ebenfalls unter Leitung des Ministeriums für Elektrotechnik/Elektronik, unter Hinzuziehung der entsprechenden Experten, mit Detailverhandlungen begonnen werden, um die technischen und kommerziellen Vertragsbedingungen zu erarbeiten. Im Ergebnis dieser Verhandlungen wäre zu entscheiden, ob aus Gründen der Ausnutzung der Konkurrenzsituation und zur Erzielung der vorteilhaftesten Vertragsbedingungen, insbesondere auf den Gebieten Abschnitt 3 und 4 der Vorlage, noch mit anderen NSW-Konzernen, u. a. der BRD und Frankreich, Verhandlungen aufgenommen werden sollten.
Parallel zu diesen Arbeiten (3.1. und 3.2.) erscheinen auf der Grundlage realistischer Aufgabenstellungen Teilgebiete und Komplexe der Vorlage über den Anlagenimport realisierbar.
Auch hier erscheint nach Expertenmeinungen ein schrittweises Abarbeiten von Aufgabenstellungen sowie ein abgestimmtes Vorgehen notwendig. (Die bewährten Erfahrungen durch den Anlagenimport auf der Grundlage der VVS B 153–400/68 vom 1.11.19686 sollten unter Beachtung notwendiger kadermäßiger und organisatorischer Voraussetzungen dazu voll genutzt werden.)
Um durch die Gruppe Anlagenimporte bei der VVB Bauelemente die Embargobestimmungen noch wirkungsvoller unterlaufen zu können, wäre zu prüfen, inwieweit über diesen Weg Bauelemente-Importe einschließlich des Forschungs- und Entwicklungsbedarfs und der Import von Fertigungsanlagen der Mikroelektronik künftig realisiert werden könnten. Diese Konzentration ergibt sich insgesamt aus der strategischen Linie, die mit der Zielstellung der Mikroelektronik verfolgt wird. (Dazu gehört u. a. auch die koordinierte Abstimmung von Aktivitäten mit den zuständigen Bereichen im Ministerium für Außenhandel bzw. Ministerium für Wissenschaft und Technik.)
Zu speziell ausgewählten Vorhaben könnte durch das MfS unter der Voraussetzung Unterstützung erfolgen, dass diese Vorhaben nicht bereits anderweitig offenkundig geworden sind und erst planwirksam werden können, wenn die Realisierung abgeschlossen ist.
Bei der Realisierung des Mikroelektronik-Programms sollte stärker beachtet werden, dass die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten der DDR auf eigenständige Lösungswege orientiert werden, um in den Grundtechnologien die Abhängigkeit von den NSW-Konzernen zu reduzieren. Dabei wäre zu prüfen, inwieweit gemeinsame Entwicklungen der RGW-Länder mit japanischen und anderen kapitalistischen Konzernen vorgenommen werden können.