Sitzung des Generalrates des Jüdischen Weltkongresses in Washington
5. Dezember 1977
Information Nr. 757/77 über den Verlauf der Sitzung des Generalrates des jüdischen Weltkongresses (WJC)
Vom 30.10. bis 3.11.1977 fand im »Capitol« Hilton-Hotel in Washington/USA eine Sitzung des Generalrates des Jüdischen Weltkongresses (WJC)1 statt, an der 350 Delegierte und Beobachter aus 33 Ländern teilnahmen. Bis auf die Vertreter der Jüdischen Gemeinden aus der Sowjetunion und der VR Bulgarien, die ihre Teilname zugesagt hatten, aber nicht anreisten, waren Delegierte aus allen sozialistischen Ländern vertreten.
Aus der DDR nahmen zwei Delegierte teil, und zwar der Präsident des »Verbandes der Jüdischen Gemeinden der DDR«2, Helmut Aris, und der Vorsitzende der »Jüdischen Gemeinde der Hauptstadt der DDR, Berlin«, Dr. Peter Kirchner. Erstmalig waren Teilnehmer aus Indien und Marokko anwesend.
Die Sitzung wurde am 30.10.1977 durch den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Dr. Nahum Goldmann, Belgien, eröffnet, der in seiner Rede eine Einschätzung der Rolle des Weltjudentums und des WJC vornahm (Originaltext liegt vor). Goldmann teilte mit, dass er nicht wieder für die Funktion des Präsidenten des WJC kandidieren werde.
Am 31.10.1977 berichteten Jüdische Gemeinden im Plenum über ihre Situation. Die Delegierten aus den USA hoben hervor, der Anteil der Juden an der Bevölkerung der USA betrage nur 2,5 %, aber 80 % der Kernphysiker und 25 % der Professoren an Hochschulen und Universitäten der USA seien Juden. 90 % der Juden würden über 10 000 Dollar im Jahr verdienen. Auf der anderen Seite würde jedoch der prozentuale Anteil der Juden an der Bevölkerung der USA immer mehr zurückgehen. Die Gemeinden seien überaltert, und viele Juden hätten keine Bindungen mehr an ihre Religion und die jüdischen Traditionen.
Die Rechtsentwicklung in den USA nehme immer mehr zu, und ca. 31 % der USA-Bürger hätten eine offene faschistische Einstellung, die sich gleichermaßen gegen Farbige und Juden richte. Aus der weiteren Berichterstattung wurde ersichtlich, dass die vermögenden Juden in den USA sehr aktiv den Staat Israel unterstützen, aber wenig für die eigenen Gemeinden tun. In den Großstädten der USA gäbe es viele jüdische Familien, die unter dem Existenzminimum leben.
Die Delegierten aus Südamerika erklärten, man könne in ihren Ländern kaum noch von Demokratie sprechen. Da die jüdische Bevölkerung aber überwiegend dem Mittelstand angehöre, lebe sie auch unter den jetzigen Regimes gut.
Die Vertreter der Jüdischen Gemeinden aus Ost- und Westeuropa – es sprachen u. a. Delegierte aus der VR Rumänien, VR Ungarn, der ČSSR, der VR Polen, der DDR und Jugoslawien sowie aus Frankreich, Großbritannien, Belgien, der Schweiz und der BRD – gaben kurze Selbstdarstellungen über Anzahl und Gemeindeleben der Juden in den betreffenden Ländern.
Aus der DDR trat Helmut Aris mit einem sachlichen, rein faktenmäßigen Überblick über das Leben in den Jüdischen Gemeinden der DDR auf. Der Beitrag hatte eine positive Aussage, insbesondere hinsichtlich der durch staatliche Organe der DDR gewährten Unterstützung der Jüdischen Gemeinden.
Der Innenminister Israels, Dr. Yosuf Burg, sprach als Vertreter des erkrankten Ministerpräsidenten Begin. Er äußerte sich zunächst zuversichtlich über die Lösung des Nahostkonfliktes und erklärte, Israel sei an der friedlichen Lösung der Probleme interessiert, werde jedoch nicht mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO3 in Genf verhandeln. Der Errichtung eines arabischen Staates im Jordangebiet werde Israel nur dann zustimmen, wenn dieser Staat zusammen mit Jordanien aufgebaut werde.
Frau Simone Veil, Gesundheitsministerin in Frankreich, brachte zum Ausdruck, sie sei zwar Jüdin, jedoch keine Zionistin und wäre nicht religiös gebunden. Über diese Äußerungen gab es eine heftige Diskussion, weil diese Position von Simone Veil zwar für einen großen Teil der Juden heute typisch ist, von den orthodoxen Juden jedoch nicht geduldet wird.
In den weiteren Berichten wurden ausschließlich Probleme des Glaubens, der Erziehung der Jugend und der Erhaltung des Friedens behandelt.
Der leitende Rabbi, Dr. Immanuel Jakubovik, London, berichtete u. a. über seinen Besuch in der Sowjetunion und äußerte, ein russischer Jude habe ihm zwei Fragen gestellt, auf die er keine Antwort gewusst habe und die ihn noch heute bewegen würden. Es habe sich um folgende Fragen gehandelt:
- –
Weshalb gehen die Juden der westlichen Länder nicht nach Israel?
- –
Weshalb erziehen sie ihre Kinder nicht so, dass sie alle geschlossen in das gelobte Land auswandern?
Jakubovik stellte diese beiden Fragen zur Diskussion. Es gab jedoch keine Antwort drauf.
Am 2.11.1977 fanden Diskussionen in Arbeitsgruppen statt, die sich u. a. mit der Frage der Ausreise nach Israel beschäftigten. Es wurde betont, eine Ausreise könne nur freiwillig erfolgen, was jedoch nicht der Auffassung der jüdischen Orthodoxie entspreche. In diesem Zusammenhang wurde die Orthodoxie als »Gefahr für das Weltjudentum« bezeichnet.
Am Abend des 1.11.1977 gab der Präsident der USA, Carter, für die Teilnehmer an der Sitzung des WJC einen Empfang. (Der Text der dabei von Carter gehaltenen Rede liegt vor und kann bei Bedarf angefordert werden.)
Am 3.11.1977 wurde die neue Leitung des WJC gewählt. Präsident des WJC wurde Klutznick, Chicago, USA. (Es soll sich bei ihm um einen vermögenden Stahlproduzenten handeln.)4 Dr. Nahum Goldmann wurde als Ehrenpräsident auf Lebenszeit gewählt.
Während der Tagung des WJC hatten sich einige amerikanische Juden vor die in der Nähe des Hilton-Hotels befindliche Botschaft der UdSSR mit Protestschildern, mit denen gegen die angeblich antijüdische Politik der Sowjetunion protestiert wurde, aufgestellt.
Die Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.