Suizid einer Ostberlinerin und eines Westberliners (1)
9. März 1977
Information Nr. 148a/77 über den unnatürlichen Tod einer DDR-Bürgerin und eines Einwohners von Berlin (West)
Am 7.3.1977 wurden im Ergebnis von Ermittlungshandlungen der DVP die DDR-Bürgerin Varschen, geb. [Geburtsname], Marlis, geb. am [Tag] 1951 in Oranienburg, geschieden, wohnhaft gewesen: 110 Berlin-Pankow, [Adresse], Kranfahrerin im VEB Schwermaschinenbau »7. Oktober«, und eine männliche Person in der verschlossenen Wohnung der Varschen leblos vorgefunden. Der unverzüglich herbeigerufene Arzt der Dringlichen Medizinischen Hilfe stellte den Tod beider Personen fest. Der Tod ist nach bisherigen Feststellungen durch Einnahme einer Überdosis Schlaftabletten und durch Einatmen von Leuchtgas eingetreten (aus drei geöffneten Gasventilen strömte unverbranntes Leuchtgas aus). Die männliche Person hatte außerdem versucht, sich mit einem Küchenmesser die Pulsadern zu öffnen.1
Nach bisherigen Ermittlungen handelt es sich bei der männlichen Person um den Einwohner von Berlin (West) Krause, Dieter, geb. am [Tag] 1953 in Berlin, wohnhaft gewesen: Berlin (West)-Neukölln, [Adresse], Beifahrer in der Fa. [Name], Berlin (West).
Die Ermittlungshandlungen der DVP wurden aufgrund einer von der Mutter der Varschen ([Name, Vorname], wohnhaft: Oranienburg-Süd, [Adresse]) am 7.3.1977 gegen ihre Tochter erstatteten Anzeige wegen asozialer Lebensweise gemäß § 249 StGB2 ausgelöst. Sie begründete ihre Anzeige damit, dass der siebenjährige Sohn ihrer Tochter, [Vorname], sich während der Winterferien bei seinen Großeltern in Oranienburg aufhielt. Am 28.2.1977 wollte der Junge in die Wohnung seiner Mutter zurückkehren, fand diese aber verschlossen vor. Daraufhin fand er wieder bei seinen Großeltern Unterkunft, die ihn, da sich die Varschen nicht meldete, nach Oranienburg umschulen ließen. Weiter teilte die [Mutter] bei Erstattung der Anzeige mit, dass ihre Tochter seit zehn Tagen unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war.
Die in diesem Zusammenhang zu Krause eingeleiteten Überprüfungen ergaben weiter, dass er bis zum 7.3.1972 in Falkensee, [Adresse], wohnhaft war und am Abend des gleichen Tages die DDR ungesetzlich nach Westberlin verlassen hat. (Ein weiterer DDR-Bürger – Schulze, Klaus, geb. am 13.10.1953, wohnhaft gewesen in Falkensee –, der zusammen mit Krause die DDR ungesetzlich zu verlassen versuchte, wurde bei der Verhinderung des Grenzdurchbruchs tödlich verletzt.)
K. wurde unmittelbar nach seinem ungesetzlichen Verlassen der DDR in Fahndung gestellt und am 4.5.1974 beim Versuch der Einreise in die DDR an der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße festgenommen. Er wurde am 19.9.1974 durch das Kreisgericht Nauen zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Nach Verbüßung eines Teils seiner Freiheitsstrafe wurde er am 11.6.1975 aus der DDR ausgewiesen.3 Er hatte während seiner Strafverbüßung um Übersiedlung zu seinem in Berlin (West) lebenden Vater ersucht.
Wie weiter ermittelt wurde, war Krause, der am 4.12.1976 in Einreisesperre gestellt worden war, am 26.2.1977 mit Transitvisum zur Durchreise in die VR Polen unter Benutzung der Eisenbahn über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in die DDR eingereist. In der Zeit zwischen der Passkontrolle, die im Interesse der zügigen Abfertigung bei der Einreise während der Fahrt des Zuges zwischen den Bahnhöfen Friedrichstraße und Ostbahnhof erfolgt, und dadurch, dass Fahndungsmaßnahmen erst danach wirksam werden können, konnte K. offensichtlich auf dem Ostbahnhof aus dem Zug aussteigen und in die Hauptstadt der DDR gelangen. (Auf dem Ostbahnhof steigen auch DDR-Bürger zur Fahrt nach der VR Polen zu.)
Die bisherigen Ermittlungen ergaben weiter, dass die Varschen und der Krause schon seit längerer Zeit miteinander bekannt sind. Nach noch nicht bestätigten Meldungen sollen beide miteinander verlobt gewesen sein. Die Varschen hatte 1976 einen Antrag auf Eheschließung mit Krause gestellt und um Übersiedlung nach Berlin (West) ersucht, was in beiden Fällen abgelehnt wurde.
Von zwei in der Wohnung der Varschen sichergestellten »Abschiedsbriefen« haben andere Personen keine Kenntnis. Es handelt sich um einen von der Varschen unterzeichneten Brief an ihre Eltern, in welchem sie sich u. a. als das »schwarze Schaf der Familie« bezeichnet, und um einen von der Varschen und dem Krause gemeinsam unterzeichneten, offenkundig an die Staatsorgane gerichteten Brief. In beiden Briefen wird die Ablehnung des Antrages auf Eheschließung und des Ersuchens nach Übersiedlung durch die Staatsorgane als Motiv für die Handlungen angegeben.
Von dem unnatürlichen Tod der V. und des K. haben die Mutter der Varschen sowie eine Bekannte der V., die sie zum Zeitpunkt der Öffnung der Wohnung besuchen wollte, Kenntnis. Beide Personen konnten über die Motive der Tat keine näheren Angaben machen.
Die Leichen wurden in das Gerichtsmedizinische Institut überführt. Die Untersuchungen zur exakten Feststellung der Todesursache, des Zeitpunktes des Eintritts des Todes und weiter mit der Tat zusammenhängender näherer Umstände werden fortgesetzt.