Suizid eines NVA-Feldwebels im Kreis Finsterwalde
8. Juni 1977
Information Nr. 385/77 über die Selbsttötung eines Angehörigen der NVA des Werkstattlagers Militärtransportwesen [Nr.] des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Standort [Ort, Kreis], Bezirk Cottbus
Am 4.6.1977, gegen 5.30 Uhr, stellte der Gehilfe des OvD des Werkstattlagers Militärtransportwesen [Nr.] (WL-MTW-[Nr.]) des Ministeriums für Nationale Verteidigung in [Ort] fest, dass sich der vom 3.6. zum 4.6.1977 als OvD eingesetzte Feldwebel [Name 1, Vorname], geb. am [Tag] 1950, wohnhaft: Cottbus, [Adresse], NVA seit 4.5.1969 – Berufsunteroffizier, Instandsetzungsgruppenführer, Mitglied der SED seit 1969, nicht in seinem Dienstzimmer befand. Daraufhin eingeleitete Kontrollmaßnahmen ergaben, dass die Petschierung1 der Waffenkammertür gebrochen und aus der Waffenkammer eine Maschinenpistole mit der Nr. 5070, drei Magazine und 341 Patronen, Kaliber 7,62 mm entwendet worden waren.
Im Ergebnis unverzüglich eingeleiteter Fahndungsmaßnahmen wurde Feldwebel [Name 1] am 4.6.1977, 18.40 Uhr, in einem Waldgelände bei [Ort] ca. 500 Meter ostwärts des Objektes tot aufgefunden.
Die vom MfS geführten Untersuchungen zu den Ursachen und Umständen dieses Vorkommnisses ergaben:
[Name 1] wuchs in einer kinderreichen Familie auf. Nach Beendigung der 10-klassigen Polytechnischen Oberschule erlernte er den Beruf eines Tiefbaufacharbeiters. Sein Vater ist 1969 verstorben; seine Mutter arbeitet gegenwärtig als Köchin.
Nach seiner Einberufung zur NVA im Jahr 1969 wurde er als Gruppenführer ausgebildet und war seit dem 2.2.1977 als Instandsetzungsgruppenführer im WL-MTW-[Nr., Ort] eingesetzt. Die ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben erfüllte er zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Er erhielt insgesamt zehn Belobigungen.
Seit mehreren Jahren sprach [Name 1] stark dem Alkohol zu und entwickelte sich zum Alkoholiker. Im April 1977 musste er wegen Alkoholgenusses während der Dienstzeit disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden. Am 19.5.1977 wurde gegen [Name 1], der bereits 1974 wegen eines gleichartigen Deliktes angefallen war, durch den zuständigen Militärstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gemäß § 200 StGB (Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit)2 eingeleitet, in dessen Ergebnis er eine gerichtliche Verurteilung zu erwarten hatte.
Während eines Urlaubs vom 2.6. bis 3.6.1977 nach Cottbus [sic!] wurde [Name 1] durch seine Geschwister mitgeteilt, dass seine Mutter, zu der er seit längerer Zeit ein gespanntes Verhältnis hat, mit einem Mann nach Brotterode verzogen sei. Darüber äußerte er sich nach Rückkehr aus dem Urlaub gegenüber Angehörigen seiner Einheit sehr ungehalten.
Am 3.6.1977 trat [Name 1] um 9.00 Uhr seinen Dienst wieder an. Obwohl er noch spürbar unter Alkoholeinfluss stand, was vom Leiter des Werkstattlagers, Oberstleutnant [Name 2], bemerkt worden war und trotz des gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahrens wurde [Name 1] für den Dienst als OvD bestätigt, den er um 11.00 Uhr antrat. Damit verstieß Oberstleutnant [Name 2] gegen die Standort- und Wachdienstvorschrift der NVA, in der ausdrücklich geregelt ist, dass Angehörige der NVA, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, nicht zum Wachdienst hergezogen werden dürfen.
[Name 1] empfing als OvD, entgegen den militärischen Vorschriften, keine Dienstwaffe, verließ mehrfach sein Dienstzimmer und nahm gemeinsam mit anderen Angehörigen seiner Einheit bis gegen 14.00 Uhr erneut Alkohol zu sich. In der Zeit von 20.00 Uhr bis 23.00 Uhr leerte [Name 1] im OvD-Zimmer allein eine weitere Flasche Alkohol (0,7 l). Der Gehilfe des OvD lehnte eine Beteiligung am Alkoholgenuss ab.
Um 1.30 Uhr befahl [Name 1] dem Gehilfen des OvD sich in seine Unterkunft zur Nachtruhe zu begeben.
Einer Rekonstruktion des Tatherganges zufolge legte [Name 1] danach seine Uniform ab, zog seinen Felddienstanzug an, rüstete sich mit seiner Schutzmaske aus und öffnete mit dem durch ihn verwahrten Schlüssel die Waffenkammer. Er entnahm die eingangs erwähnte Maschinenpistole und Munition.
Ohne durch andere Posten im Objekt bemerkt zu werden, verließ er durch eine schadhafte Stelle im Objektzaun seine Dienststelle und begab sich vermutlich auf dem kürzesten Wege zum Ort seines späteren Auffindens, wo er sich durch Beibringen von mehreren Kopfschüssen selbst tötete. Die getroffenen Feststellungen am Fundort der Leiche des [Name 1] schließen eventuelle Einwirkungen durch andere Personen aus. Die noch in Schussrichtung am Körper liegende MPi und die restliche Munition wurden sichergestellt.
Aufgrund der festgestellten Persönlichkeitseigenschaften des [Name 1] ist einzuschätzen, dass er sich unter der Wirkung des genossenen Alkohols und in einem depressiven Zustand spontan zur Selbsttötung entschlossen hat. Bereits in den Jahren 1970 und 1972 unternahm [Name 1] jeweils einen Selbsttötungsversuch (Einnahme einer Überdosis Tabletten bzw. Versuch, die Pulsadern zu öffnen). Er befand sich dabei ebenfalls unter Alkoholeinwirkung und litt an depressiven Zuständen.
Durch das MfS werden im Zusammenwirken mit dem Militärstaatsanwalt die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen dieses Vorkommnisses fortgesetzt.