Suizid eines Pfarrers
1. August 1977
Information Nr. 512/77 über die Selbsttötung des evangelischen Pfarrers [Name] aus Rathenow, Bezirk Potsdam, am 1.8.1977
Am 1.8.1977, gegen 8.30 Uhr, beging der evangelische Pfarrer [Name, Vorname 1], geb. am [Tag] 1924, wohnhaft: [Ort 1, Adresse], in seiner Wohnung Selbsttötung durch Erhängen.
Wie erste Untersuchungen ergaben, litt Pfarrer [Name] schon seit den 50er Jahren unter zeitweiligen seelischen Depressionen. Aus diesem Grunde befand er sich bereits 1970 im Rostocker Krankenhaus in ärztlicher Behandlung und stand auch in Rathenow unter ständiger ärztlicher Kontrolle.
Den Angaben seiner Ehefrau zufolge traten vorgenannte depressive Erscheinungen zuletzt besonders von Januar bis März 1977 und in der letzten Juliwoche auf. Er habe sich in den zurückliegenden Jahren auch wiederholt dahingehend geäußert, sich das Leben nehmen zu wollen, weil er mit dem Leben nicht fertig werde. In der Vergangenheit schrieb er deshalb bereits mehrere Abschiedsbriefe. Im Januar 1977 habe er sich nach dem Verfassen eines solchen Abschiedsbriefes bereits für einen Tag von zu Hause entfernt gehabt, sei aber wieder zurückgekehrt. (Eine entsprechende Anzeige der Ehefrau bei der zuständigen VP-Dienststelle liegt vor.)
Hinweise auf das Vorliegen anderer als die auf seinen depressiven Zustand zurückzuführenden Motive – insbesondere politischer Art – liegen für die Selbsttötung [Name] nicht vor. Einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen.
Zur Person Pfarrer [Name] ist bekannt, dass er einer Pfarrersfamilie entstammt und im Jahre 1953 aus der BRD in die DDR kam. (Eltern und Geschwister sollen noch in der BRD leben.)
[Name] war zuerst in [Ort 2, Kreis] und später in [Ort 3] als Pfarrer tätig. Im Jahre 1974 erfolgte seine Versetzung nach [Ort 1], wo er die Stelle eines berenteten Pfarrers übernahm. Er war insbesondere für den Stadtteil [Ort 1]-Ost – ein Neubaugebiet – zuständig.
Seine seelsorgerische Tätigkeit konzentrierte er vorwiegend auf die Jugendlichen seiner Pfarrgemeinde. Während er bis etwa 1973 die Auffassung vertrat, die Christen in der DDR würden in der Ausübung ihrer Rechte behindert – z. B. seien sie bei der Vergabe von Studienplätzen an Hochschulen der DDR benachteiligt – nahm [Name] in letzter Zeit eine durchaus loyale Haltung zu unserem Staat ein. [Name] beteiligte sich u. a. aktiv an der Arbeit der Kommission »Kirchliche Kreise«1 in [Ort 1].
Während der Aktivitäten reaktionärer kirchlicher Kräfte im Zusammenhang mit den Ereignissen um Brüsewitz2 trat er nicht negativ in Erscheinung.
Pfarrer [Name] ist verheiratet und hat fünf Kinder, von denen drei noch im Haushalt leben. Die Ehefrau ist von Beruf Hebamme und arbeitet zeitweilig als Gemeindeschwester der Kirche.
Zu beachten in diesem Zusammenhang ist, dass ein Sohn [des Pfarrers], [Name, Vorname 2], im Jahre 1974 in [Ort 4], Bezirk Rostock, einen Selbsttötungsversuch unternahm, da er keinen Studienplatz erhalten hatte.
Für den Sohn [Vorname 3 Name] liegt die Zusage für eine Berufsausbildung mit Abitur ab 1.9.1977 vor.
Reaktionen in der Öffentlichkeit, die mit der Selbsttötung des Pfarrers [Name] im Zusammenhang stehen, sind gegenwärtig nicht bekannt.