Suizidversuch einer Familie wegen Ablehnung des Ausreiseantrags
27. April 1977
Information Nr. 275/77 über den Versuch einer Selbsttötung des [Name, Vorname 1] und seiner Familie in Plauen, Bezirk Karl-Marx-Stadt, am 24.4.1977
Am 24.4.1977, gegen 18.20 Uhr, stellten Hausbewohner fest, dass der [Name, Vorname 1] (36), geb. am [Tag] 1940, wohnhaft: Plauen, [Adresse], Mechaniker im VEB NARVA Plauen, gemeinsam mit seiner Ehefrau [Name, Geburtsname, Vorname 2] (37), geb. am [Tag] 1939, wohnhaft: wie Ehemann, nicht berufstätig (bis Januar 1977 Arbeiterin im VEB NARVA Plauen) und den Kindern [Name, Vorname 3] (14), geb. am [Tag] 1962, Schülerin, und [Name, Vorname 4] (13), geb. am [Tag] 1963, Schülerin, einen Selbsttötungsversuch mit Leuchtgas unternahm.
Außer dem [Name, Vorname 1], der noch ansprechbar war, wurden dessen Ehefrau und die Kinder bereits im bewusstlosen Zustand aufgefunden. Die sofortige Überführung in das Bezirkskrankenhaus wurde veranlasst. Im Ergebnis der ärztlichen Maßnahmen ist einzuschätzen, dass sich keine der beteiligten Personen im lebensbedrohlichen Zustand befindet.
In der Wohnung des [Name] wurden vier durch die einzelnen Familienmitglieder handschriftlich gefertigte Zettel aufgefunden, aus denen ersichtlich war, dass sie den Versuch der Selbsttötung aufgrund der bisherigen Ablehnung ihrer Übersiedlungsersuchen nach der BRD unternommen haben wollen. Die Schriftstücke wurden durch die Untersuchungsorgane sichergestellt.
Die in diesem Zusammenhang durch das MfS geführten Untersuchungen ergaben:
Die Familie [Name] übersiedelte im Jahr 1969 von der VR Polen in die DDR. Seit der Übersiedlung wurde die Familie [Name] mit staatlichen und betrieblichen Mitteln in materieller und finanzieller Hinsicht aktiv unterstützt und ihr für 1977 eine AWG-Neubauwohnung zugesprochen.
Bis Anfang 1976 leisteten der [Name, Vorname 1] und seine Ehefrau im Betrieb eine gute Arbeit. Am 3.2.1976 stellte [Name] für sich, seine Ehefrau und seine beiden Kinder bei der Abteilung Inneres des Rates der Stadt Plauen ein Ersuchen auf Übersiedlung nach der BRD mit der Begründung, dass alle seine Verwandten in der BRD wohnhaft sind und es ihm nach siebenjährigem Aufenthalt in der DDR nicht gelungen sei, »das Gefühl der Staatszugehörigkeit zur DDR« zu gewinnen. Das Ersuchen des [Name] wurde am 16.11.1976 abgelehnt.
Im Zusammenhang mit der Ablehnung seines Übersiedlungsersuchens richtete [Name] mehrere Eingaben, in denen er die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR verleumdete, u. a. an das Ministerium des Innern, den Staatsrat und den Ministerrat der DDR. Im Wohn- und Arbeitsbereich führt er seit seinem rechtswidrigen Übersiedlungsersuchen politisch negative Diskussionen.
Während mehrerer mit [Name] geführter Aussprachen mit dem Ziel, von seinem rechtswidrigen Übersiedlungsersuchen zurückzutreten, äußerte er wiederholt, dass er bei Ablehnung seines Ersuchens auch das ungesetzliche Verlassen der DDR bzw. eine Selbsttötung in Erwägung ziehe. Die Ernsthaftigkeit seiner Äußerungen wird durch den vorgenannten Selbsttötungsversuch unterstrichen.
Wie bekannt ist, hat [Name] seine in der BRD wohnenden Verwandten, mit denen er in ständiger brieflicher Verbindung steht, über die Übersiedlungsabsichten und die Ablehnung seines Ersuchens informiert.
Zum Persönlichkeitsbild ist festzustellen, dass der [Name, Vorname 1] seit seiner Übersiedlung aus der VR Polen im VEB NARVA Plauen beschäftigt war, wo er sich vom Produktionsarbeiter zum Mechaniker qualifizierte und gute Arbeitsleistungen erzielte. Im August 1976 trat er im Zusammenhang mit den durch ihn betriebenen Übersiedlungsabsichten demonstrativ aus dem FDGB aus.
Die [Name, Vorname 2] war ebenfalls als Produktionsarbeiterin im VEB NARVA Plauen beschäftigt. Im Januar 1977 kündigte sie selbst ihre Arbeit mit der Begründung auf, dass ihr derzeitiger Gesundheitszustand eine weitere Arbeit nicht zulasse.
Im Ministerium des Innern liegt ein von den zuständigen Organen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt in Abstimmung mit der Bezirks- und Kreisleitung der Partei befürwortetes Übersiedlungsersuchen des [Name] und dessen Familie vor. Die seitens des Ministeriums des Innern zwischenzeitlich erfolgten Überprüfungen haben zu dem Ergebnis geführt, das Übersiedlungsersuchen zu genehmigen. Die Familie [Name] ist deshalb auf die für Anfang Mai 1977 der Sicherheitsabteilung des ZK der SED zur Bestätigung vorzulegende Liste gesetzt worden.
Bei Zustimmung zum Übersiedlungsersuchen könnte der Familie [Name] mitgeteilt werden, dass ihr Ersuchen bereits genehmigt war, sie davon in diesen Tagen in Kenntnis gesetzt werden sollte und ihre Ausreise nach Abschluss aller dazu notwendigen Formalitäten erfolgen könnte. In diesem Zusammenhang könnten sie weiter darauf hingewiesen werden, dass dies nur erfolgen würde, wenn sie sich jeglicher rechtswidriger Handlungen gegen die DDR enthalten.