Tendenzen der Unzufriedenheit in der Bevölkerung (1)
12. September 1977
Hinweise auf Tendenzen der Unzufriedenheit in der Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/49]
Nach vorliegenden Hinweisen aus der Mehrzahl der Bezirke der DDR zeichnet sich in den letzten Wochen in der Reaktion der Bevölkerung der DDR, insbesondere unter Arbeitern, eine Tendenz zunehmender Unzufriedenheit ab. In den Diskussionen werden teilweise skeptische, resignierende, pessimistische und negative Meinungen bis hin zu aggressiven Argumenten deutlich.
Besonders hervorzuheben ist, dass diese sich gegenwärtig abzeichnende Entwicklung in der Stimmung der Werktätigen durch Gerüchteverbreitung, die auf Veröffentlichungen von westlichen Massenmedien zurückzuführen sind, noch angeheizt wird.
So wird nach bisher vorliegenden Berichten in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Erfurt, Suhl, Gera und Magdeburg in stärkerem Umfang das Gerücht verbreitet, in mehreren Betrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt sowie unter Arbeitern des Autobahnbaues Berlin-Helmstedt würden »Warnstreiks« durchgeführt mit der Forderung, den Lohn anteilig in DM auszuzahlen, um in Intershop-Läden einkaufen zu können (FAZ v. 8.9.1977 »Intershop-Folgen« und »In der DDR Empörung über Intershop-Läden«; Nachrichtensendungen des »Hessischen Rundfunks« am 8.9.1977 u. a.).1
Zur Verdeutlichung der Stimmung unter den Arbeitern insgesamt zur Politik von Partei und Regierung ist grundsätzlich einzuschätzen, dass die sichtbare kontinuierliche erfolgreiche Entwicklung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens in der DDR, die wirksam gewordenen sozial-politischen Maßnahmen, der wachsende Wohnungsbau und vieles andere anerkannt und in vielen Diskussionen, auch Besuchern aus kapitalistischen Ländern und Westberlin gegenüber, lobend und als beispielhaft bezeichnet werden. Von der großen Mehrheit der Werktätigen wird dieser eingeschlagene Weg unterstützt und ohne Abstriche als kontinuierliche Arbeiterpolitik eines sozialistischen Staates eingeschätzt.
Neben diesen anerkannten und in starkem Maße gewürdigten Erfolgen der Entwicklung der DDR werden jedoch eine Reihe anderer Erscheinungen und Entwicklungen, die Auswirkungen auf die Werktätigen haben, in letzter Zeit zunehmend kritisiert und zum Teil mit erheblichem Missfallen und Unbehagen betrachtet, wobei viele Arbeiter ihre Meinungen dazu auch in stärkerer emotioneller Art zum Ausdruck bringen.
Unzufriedenheit und Unverständnis, zunehmend in Arbeiterkreisen, beziehen sich insbesondere auf solche Probleme wie
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den weiteren Ausbau des Netzes der »Intershop-Läden«;2
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die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Teiles von DDR-Bürgern, durch den Besitz von DM bestimmte Vorteile in der DDR zu genießen;
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alle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einsparung von Röstkaffee, besonders den Wegfall der preisgünstigen Kaffeesorten und das eingeschränkte Angebot in Gaststätten betreffend;
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vorgesehene weitreichende Einsparungsmaßnahmen auf der unteren Ebene einerseits, aber »uneingeschränkte Ausgaben und Beibehalt bestimmter hoher Aufwendungen auf höheren Ebenen« (Repräsentationskosten, Ausgestaltung des Turn- und Sportfestes in Leipzig,3 Einfuhr teurer Westwagen u. a.);
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von Arbeitern erkannte teilweise bestehende Verantwortungslosigkeit in Produktionsstätten (Vergeudung von Arbeitszeit und Material, Planuntreue u. a.) und von ihnen ins Verhältnis gesetzte Aufrufe zum Sparen mit jedem Gramm und mit jeder Minute;
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eine z. T. mangelhafte Vorbereitung und Durchsetzung der aus den sozial-politischen Maßnahmen erwachsenen Probleme, sodass diese Vergünstigungen teilweise nicht voll wirksam wurden;
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eine »völlig unzureichende und teilweise unverständliche Informationspolitik, die dazu ermuntere, auf andere Kanäle auszuweichen«;
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das »ungenügende Vertrauensverhältnis der Partei- und Staatsführung« zu den Werktätigen, das sich in der »mangelhaften Informationspolitik« ausdrücke.
In anhaltenden Diskussionen werden die vorgenommenen Veränderungen im Kaffeeangebot kritisiert. Es wird behauptet, diese Maßnahmen richten sich in erster Linie gegen Arbeiter bzw. solche Personenkategorien mit niedrigem Einkommen. Da Röstkaffee lediglich noch in teuren Packungen (Rondo, Mona) angeboten werde, wird verbreitet von einer »schleichenden Preiserhöhung« gesprochen. Die getroffenen Maßnahmen stünden im Widerspruch zu den Beschlüssen des IX. Parteitages4 und zur bisherigen Arbeiterpolitik von Partei und Regierung.
Die Einsparungsmaßnahmen insgesamt würden einen Rückschritt auf dem Gebiet der Preisstabilität und der kontinuierlichen Versorgung darstellen. Für den Arbeiter in der DDR ginge der Wohlstand »langsam aber sicher zu Ende«. Die von Partei und Regierung getroffenen Sparmaßnahmen beträfen in der Hauptsache »den kleinen Mann«; höhere Einkommensgruppen blieben davon verschont.
Bezogen auf das Netz des »Intershop« wird erklärt, diese Läden wären nur für einen besonderen Teil der Bürger der DDR und für privilegierte Personen zugänglich; der bewusste Arbeiter, der keine Westverwandtschaft habe, bliebe ausgeschlossen. Die Entwicklung ginge dahin, dass der »linientreue« Werktätige ohne Westkontakte, der zur Politik unserer Regierung stehe, das Nachsehen habe, dagegen weniger Bewusste, Schwankende und negative Elemente Vorzugswaren im »Intershop« erhalten. Deshalb müsse auch der Arbeiter nach Verbindungen und Kontakten suchen, um zu Westgeld zu kommen. »Minderwertige DDR-Erzeugnisse«, die nicht in »Intershop-Läden« gehandelt werden könnten, würden zu langsam schleichenden Preisen den Arbeitern zur Verfügung stehen.
In stärkerem Umfang wird in vorgenannten Zusammenhängen von drei oder vier in der DDR vorhandenen »Personenkategorien« gesprochen:
- 1.
Arbeiter, Rentner und andere Bürger mit niedrigem Einkommen ohne Westwährung, die sich weiterhin einschränken müssen, weil sie von den Sparmaßnahmen betroffen werden (und im »Intershop« keinen Kaffee kaufen könnten);
- 2.
solche Bürger, die durch ein höheres Einkommen in Exquisit-Geschäften5 kaufen können;
- 3.
Personen, die in den Besitz von DM gelangen und ihre Bedürfnisse in »Intershop-Läden« befriedigen;
- 4.
privilegierte Personen und hohe Funktionäre, die in »besonderen Läden« kaufen würden, teure Westwagen fahren und in keinerlei Hinsicht von irgendwelchen Sparmaßnahmen betroffen seien.
Die DDR sei inzwischen wieder soweit, dass Arbeiter und Rentner Bettelbriefe in die BRD schicken müssten, um zu Kaffee oder anderen auserlesenen Produkten zu gelangen.
Es wird starke Kritik an der Informationspolitik geübt und betont, die Arbeiter würden nicht mehr das Vertrauen genießen, über Gründe und Ursachen der gegenwärtigen Erscheinungen und Entwicklungen informiert zu werden. Das würde sich auch darin widerspiegeln, dass führende und mittlere leitende Kader auf die diskutierten Probleme keine überzeugenden und sachlichen Antworten geben.
Auch von Mitgliedern der SED wird geäußert, durch eine entsprechende Veröffentlichung und sachliche Darlegung der Ursachen und Zusammenhänge hätten viele jetzt auftretende abwertende bis negative Äußerungen vermieden werden können; ein »offenes und ehrliches Verhalten gegenüber den Bürgern« sei bisher immer auf Verständnis gestoßen.
Zunehmend würden jedoch Argumentation und Beantwortung offener Fragen auf [die] untere Ebene »abgeschoben«. Die politische Arbeit auf dieser Ebene gestalte sich durch mangelnde Argumentation zunehmend schwieriger, und es gäbe Anzeichen, dass sich progressive Kräfte deshalb von ihren Positionen zurückziehen und resignieren.
Andererseits werde vermutet, dass auch die Information in umgekehrter Richtung nicht immer in Ordnung sei. Es wird angezweifelt, dass von unten nach oben in allen Einzelheiten über unbefriedigende Entwicklungen und Stimmungen berichtet würde. Z. B. wird angeführt, »von oben« würden die Pläne immer weiter »hochgeschraubt«, während die Arbeiter die Meinung vertreten, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr gebracht werden könnte. Offensichtlich fände sich jedoch niemand, die wahren Zusammenhänge und Sachverhalte »an den Mann zu bringen«.
Obwohl die Thesen Bahros in ihrer »Wissenschaftlichkeit« in Arbeiterkreisen nicht umfassend erörtert werden (sie finden relativ größere Beachtung in Kreisen der Intelligenz, besonders unter wissenschaftlich-technischen Kadern), sind bestimmte, von Bahro angestellte Behauptungen von Arbeitern mehrfach aufgegriffen worden.6 Sie meinen, dass zwar die Art des Vorgehens des Bahro (Nutzung westlicher Medien) zu verurteilen, aber die von ihm geübte Kritik an bestimmten Erscheinungen in der Volkswirtschaft zutreffend sei und ihre Unterstützung finde. Es stimme, dass in Betrieben Schlamperei, Verantwortungslosigkeit, mangelnde Arbeitsmoral bei vielen Beschäftigten vorhanden sei; in einigen Betrieben herrsche eine direkte »Lotterwirtschaft«; es werde Material vergeudet, die Arbeitszeit nicht ausgenutzt und z. T. durch Planlosigkeit wertvolles Rohmaterial ohne Nutzen verschwendet. Die Produktion verlaufe vielfach unrhythmisch, und die Überstundenzahlen würden (trotz verkürzter Arbeitszeit) anwachsen.
Bahro habe Probleme aufgeworfen, die Ausdruck des »überall herrschenden Unbehagens in der DDR« seien. An den z. T. bestehenden »Schlampereien« in den Betrieben seien nicht die Arbeiter schuld, sondern staatliche Leiter und Funktionäre. Aber die Arbeiter hätten diese Entwicklung durch Sparmaßnahmen wieder auszugleichen.
In einer Reihe von Betrieben wird von Arbeitern von einer »zunehmenden Isolierung« staatlicher Leiter und wissenschaftlich-technischer Kader von den Arbeitern gesprochen. Die Meinung des Arbeiters sei nicht mehr gefragt; er könne z. T. nicht mehr mitentscheiden und werde »überstimmt«. In vielen Fällen werde wieder eine zunehmende Überheblichkeit wissenschaftlich-technischer Kader (Ingenieure) den Arbeitern gegenüber festgestellt.