Tendenzen der Unzufriedenheit in der Bevölkerung (2)
19. September 1977
Hinweise auf Tendenzen der Unzufriedenheit in der Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/50]
Nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zeichnet sich in den letzten Wochen in breiten Kreisen der Bevölkerung der DDR, insbesondere unter Werktätigen, eine Tendenz zunehmender Unzufriedenheit ab. Dies bezieht sich insbesondere auf im Mittelpunkt der Diskussion stehende ökonomische Probleme und damit im Zusammenhang stehende Fragen.
In Diskussionen zu derartigen Problemen sind unter allen Bevölkerungsschichten teilweise skeptische, resignierende, pessimistische und negative Meinungen festzustellen. Insbesondere von Arbeitern wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass sie sich zunehmend mit bestimmten Schwierigkeiten konfrontiert sehen würden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die sich abzeichnende Tendenz der Unzufriedenheit durch zielgerichtete Verbreitung von Kommentaren, Meldungen und Gerüchten seitens westlicher Massenmedien im bestimmten Umfang angeheizt wird.
Zur Verdeutlichung der Stimmung unter den Arbeitern insgesamt zur Politik von Partei und Regierung ist grundsätzlich einzuschätzen, dass die sichtbare kontinuierliche erfolgreiche Entwicklung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens in der DDR, die wirksam gewordenen sozialpolitischen Maßnahmen, der wachsende Wohnungsbau und vieles andere anerkannt und in vielen Diskussionen, auch Besuchern aus kapitalistischen Ländern und Westberlin gegenüber, lobend und als beispielhaft bezeichnet werden. Von der großen Mehrheit der Werktätigen wird dieser eingeschlagene Weg unterstützt und ohne Abstriche als kontinuierliche Arbeiterpolitik eines sozialistischen Staates eingeschätzt.
Neben diesen anerkannten und in starkem Maße gewürdigten Erfolgen der Entwicklung der DDR werden jedoch eine Reihe anderer Erscheinungen und Entwicklungen, die Auswirkungen auf die Werktätigen haben bzw. wo sie sich benachteiligt fühlen, in letzter Zeit zunehmend kritisiert und zum Teil mit erheblichem Missfallen und Unbehagen betrachtet, wobei viele Arbeiter ihre Meinungen dazu auch in stärkerer emotioneller Art zum Ausdruck bringen.
Unzufriedenheit und Unverständnis, zunehmend in Arbeiterkreisen, beziehen sich insbesondere auf solche Probleme wie
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den »Widerspruch« zwischen immer anspruchsvolleren Plänen und wachsenden Produktionsleistungen auf der einen und »zunehmenden Schwierigkeiten« in der Realisierung der Pläne, auf dem Gebiet der Versorgung, der Material- und Ersatzteilbereitstellung, der Devisenlage u. a. auf der anderen Seite;
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den weiteren Ausbau des Netzes der Intershop-Läden1 und – damit verbunden – die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Teiles von DDR-Bürgern, durch den Besitz von DM bestimmte Vorteile in der DDR zu genießen;
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alle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einsparung von Röstkaffee, besonders den Wegfall der preisgünstigen Kaffeesorten und das eingeschränkte Angebot in Gaststätten betreffend;
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vorgesehene weitreichende Einsparungsmaßnahmen auf der unteren Ebene einerseits, aber »uneingeschränkte Ausgaben und Beibehalt bestimmter hoher Aufwendungen auf höheren Ebenen« (Repräsentationskosten, Ausgestaltung des Turn- und Sportfestes in Leipzig,2 Einfuhr teurer Westwagen u. a.);
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von Arbeitern erkannte teilweise bestehende Verantwortungslosigkeit in Produktionsstätten (Vergeudung von Arbeitszeit und Material, Planuntreue u. a.) und von ihnen ins Verhältnis gesetzte Aufrufe zum Sparen mit jedem Gramm und mit jeder Minute;
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eine z. T. mangelhafte Vorbereitung und Durchsetzung der aus den sozialpolitischen Maßnahmen erwachsenen Probleme, sodass diese Vergünstigungen teilweise nicht voll wirksam wurden;
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eine »völlig unzureichende und teilweise unverständliche Informationspolitik«, die »ungenügendes Vertrauen« der Partei- und Staatsführung zu den Werktätigen ausdrücke und dazu ermuntere, auf andere Kanäle auszuweichen.
Kritische Äußerungen zu der als unzureichend empfundenen Informierung der Bevölkerung über eine Reihe ökonomischer Probleme (Sortimentsveränderung bei Kaffee und Schokolade, Begründung für die Erweiterung der Möglichkeiten des Einkaufes in Intershop-Läden) sowie andere Erscheinungen durch die Massenmedien der DDR haben einen relativ großen Umfang angenommen. Werktätige bringen häufiger zum Ausdruck, sie würden scheinbar nicht mehr das notwendige Vertrauen genießen, über Gründe und Ursachen der gegenwärtigen Erscheinungen und Entwicklungen informiert zu werden. Das würde sich auch darin widerspiegeln, dass führende und mittlere leitende Kader auf die diskutierten Probleme keine überzeugenden und sachlichen Antworten geben.
Auch von Mitgliedern der SED wird geäußert, durch eine entsprechende Veröffentlichung und sachliche Darlegung der Ursachen und Zusammenhänge hätten viele jetzt auftretende abwertende bis negative Äußerungen vermieden werden können; ein »offenes und ehrliches Verhalten gegenüber den Bürgern« sei bisher immer auf Verständnis gestoßen. Zunehmend würden jedoch Argumentation und Beantwortung offener Fragen auf [die] untere Ebene »abgeschoben«. Die politische Arbeit auf dieser Ebene gestalte sich durch mangelnde Argumentation schwieriger, und es gäbe Anzeichen, dass sich progressive Kräfte deshalb von ihren Positionen zurückziehen und resignieren.
Andererseits werde vermutet, dass auch die Information in umgekehrter Richtung nicht immer in Ordnung sei. Es wird angezweifelt, dass von unten nach oben in allen Einzelheiten über unbefriedigende Entwicklungen und Stimmungen berichtet würde. Es habe den Anschein, dass in zentralen leitenden Organen z. T. keine klaren Vorstellungen über die den Durchschnittsbürger bewegenden Probleme vorhanden wären und deshalb für ihn schwer erklärbare Beschlüsse gefasst würden.
Seitens gesellschaftlich aktiver Bürger wird z. T. echte Besorgnis hinsichtlich der sich abzeichnenden Stimmungstendenzen sowie der Möglichkeiten einer wirksamen Abwendung ökonomischer Auswirkungen von Krisenerscheinungen des Imperialismus auf die Volkswirtschaft der DDR und damit auf die Weiterführung der Hauptaufgabe des IX. Parteitages in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik3 zum Ausdruck gebracht. Dabei werden Zweifel und z. T. Skepsis geäußert und besonders betont, dass gegenwärtig ideologisch labile Personen und Personen mit ausgeprägten Westverbindungen in bestimmten Diskussionsrunden »die Oberhand« gewinnen würden. Dabei wird auf Sortimentslücken vor allem im Angebot bei einigen Waren, auf den steigenden Mangel im Ersatzteilsortiment, auf die durch Intershop »Bevorzugten«, das Kaffee-Sortiment u. a. nachhaltig verwiesen und hervorgehoben, dass die Versorgungslage vor Jahren bereits besser gewesen sei.
Mit bestimmten Mangelerscheinungen im Warensortiment des Handels, in der Ersatzteilbereitstellung für Dienstleistungen (z. B. Kfz, Waschmaschinen usw.) würden gegenwärtig weitere Faktoren zusammenfallen, die sich nachteilig auf das Lebensniveau der Werktätigen auswirkten und auf die insgesamt keine ausreichende Erklärung gegeben werde.
So werden anhaltend die vorgenommenen Veränderungen im Kaffeeangebot kritisiert. Es wird behauptet, diese Maßnahmen richten sich in erster Linie gegen Arbeiter bzw. Personenkategorien mit niedrigem Einkommen. Da Röstkaffee lediglich noch in teuren Packungen (Rondo, Mona) angeboten wird, ist verbreitet von einer »schleichenden Preiserhöhung« die Rede. Die getroffenen Maßnahmen stünden im Widerspruch zu den Beschlüssen des IX. Parteitages und zur bisherigen Arbeiterpolitik von Partei und Regierung. Die neue Kaffeesorte »Kaffee-Mix« stößt wegen mangelhafter Qualität, schlechten Geschmacks und des als zu hoch erachteten Verkaufspreises weitgehend auf Ablehnung, wobei betont wird, die darin enthaltenen 51 % Röstkaffee wären damit für die Bevölkerung ebenfalls verloren. Zunehmend sind zum »Kaffee-Mix« abfällige Bezeichnungen im Umlauf, die bis zu politischen Witzeleien, in denen führende Funktionäre verunglimpft werden, reichen.
Es wird mehrfach behauptet, die Sparmaßnahmen bei Kaffee und Kakao sowie »schleichende Preiserhöhungen« würden einen Rückschritt auf dem Gebiet der Preisstabilität und der kontinuierlichen Versorgung darstellen. Für den Arbeiter in der DDR ginge der Wohlstand »langsam aber sicher zu Ende«. Die von Partei und Regierung getroffenen Sparmaßnahmen beträfen in der Hauptsache »den kleinen Mann«; höhere Einkommensgruppen blieben davon verschont.
Die Diskussionen zur Erweiterung der Einkaufsmöglichkeiten im Intershop haben in der letzten Zeit eine weitere Zunahme erfahren. Dabei wird erklärt, diese Läden wären nur einem besonderen Teil der Bürger der DDR und privilegierten Personen zugänglich; der bewusste Bürger, der keine Westverwandtschaft habe, bliebe ausgeschlossen.
Die Entwicklung ginge dahin, dass die Werktätigen ohne Westkontakte, die zur Politik unserer Regierung stehen, das Nachsehen haben, dagegen weniger Bewusste, Schwankende und negative Elemente westliche Waren und hochwertige DDR-Erzeugnisse, die sich nicht im Handelsangebot befinden, im Intershop erhalten. Deshalb müsse auch der Arbeiter nach Verbindungen und Kontakten suchen, um zu Westgeld zu kommen. Den Arbeitern würden sonst nur »minderwertige DDR-Erzeugnisse«, die nicht in Intershop- und Exquisit-Läden4 gehandelt werden, und dann noch zu »langsam schleichenden Preisen«, zur Verfügung stehen.
Wiederholt wird in vorgenannten Zusammenhängen von mehreren in der DDR vorhandenen »Personenkategorien« gesprochen:
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Arbeiter, Rentner und andere Bürger mit niedrigem Einkommen ohne Westwährung, die sich weiterhin einschränken müssen;
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Bürger, die durch ein höheres Einkommen in Exquisit-Geschäften kaufen können, oder die in den Besitz von DM gelangen und ihre Bedürfnisse in Intershop-Läden befriedigen;
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privilegierte Personen und hohe Funktionäre, die in »besonderen Läden« kaufen würden, teure Westwagen fahren und in keinerlei Hinsicht von irgendwelchen Sparmaßnahmen betroffen seien.
Umfangreiche Diskussionen werden zzt. im Zusammenhang mit der Plandiskussion 1978 in Kombinaten und Betrieben über kontinuierliche und aufgabengerechte Arbeitsabläufe geführt.
Neben häufigen sachlichen, kritischen und vorwärtsweisenden Argumenten wird jedoch in diesem Jahr in größerem Umfang als in den Vorjahren z. T. resignierend darauf verwiesen, die Pläne könnten nicht im geforderten Maße erfüllt werden. Als Ursache werden mangelhafte Arbeitsorganisation, Unplanmäßigkeit der Betriebsabläufe, Überschneidungen in bestimmten Arbeitsvorbereitungen, mangelhafte und unkontinuierliche Materialbereitstellung, Arbeitskräftesituation usw. angegeben. Es wird angeführt, »von oben« würden die Pläne immer weiter »hochgeschraubt«, während die Arbeiter die Meinung vertreten, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr gebracht werden könnte, weil wesentliche Grundlagen und Voraussetzungen für eine Steigerung der Arbeitsleistung fehlen würden. Offensichtlich fände sich jedoch niemand, die wahren Zusammenhänge und Sachverhalte »an den Mann zu bringen«.
Die von den Feindsendern verbreiteten, von ihnen als »Alternative zum real existierenden Sozialismus« deklarierten Thesen Bahros5 finden in Arbeiterkreisen kaum Beachtung. (Sie werden lediglich im geringen Umfang in Kreisen der Intelligenz bzw. unter wissenschaftlich-technischen Kadern diskutiert.) Dagegen werden bestimmte, von Bahro aufgestellte Behauptungen von Arbeitern mehrfach aufgegriffen. Sie meinen, dass zwar die Art des Vorgehens des Bahro (Nutzung westlicher Medien) zu verurteilen, aber die von ihm geübte Kritik an bestimmten Erscheinungen in der Volkswirtschaft zutreffend sei und ihre Unterstützung finde. Es stimme, dass in Betrieben Schlamperei, Verantwortungslosigkeit, mangelnde Arbeitsmoral bei vielen Beschäftigten vorhanden seien; in einigen Betrieben herrsche eine direkte »Lotterwirtschaft«; es werde Material vergeudet, die Arbeitszeit nicht ausgenutzt und z. T. durch Planlosigkeit wertvolles Rohmaterial ohne Nutzen verschwendet. Die Produktion verlaufe vielfach unrhythmisch, und die Überstundenzahlen würden (trotz verkürzter Arbeitszeit) anwachsen. Bahro habe Probleme aufgeworfen, die Ausdruck des »überall herrschenden Unbehagens« in der DDR seien. An den z. T. bestehenden »Schlampereien« in den Betrieben seien nicht die Arbeiter schuld, sondern staatliche Leiter und Funktionäre. Aber die Arbeiter hätten diese Entwicklung durch Sparmaßnahmen wieder auszugleichen.
In einer Reihe von Betrieben wird von Arbeitern von einer »zunehmenden Isolierung« staatlicher Leiter und wissenschaftlich-technischer Kader von den Arbeitern gesprochen. Die Meinung des Arbeiters sei nicht mehr gefragt; er könne z. T. nicht mehr mitentscheiden und werde »überstimmt«. In vielen Fällen werde wieder eine zunehmende Überheblichkeit wissenschaftlich-technischer Kader (Ingenieure) den Arbeitern gegenüber festgestellt.
Zu den von Partei und Regierung beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen gibt es nach wie vor zustimmende und positive Meinungsäußerungen in allen Schichten der Bevölkerung. Verbunden mit Mängeldiskussionen über den Arbeitsablauf in verschiedenen Bereichen der Produktion tritt jedoch auch stärker die Meinung hervor, diese Maßnahmen seien verfrüht und würden nicht voll wirksam. Es entspreche nicht den Parteibeschlüssen, wenn einerseits ein Teil der Arbeitszeit aus den angeführten Gründen »vergammelt«, andererseits in steigendem Maße zu Sonntags- und Sonderschichten aufgerufen werde. Mehrfach wird in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Bereitschaft, Überstunden und Sonderschichten zu leisten, zurückgeht, wobei u. a. auf die verkürzten Arbeitszeitregelungen verwiesen wird.
In vielen Äußerungen, in denen Unzufriedenheit zum Ausdruck kommt, spiegeln sich zielgerichtete »Argumentationen« und Termini westlicher Massenmedien wider. Dabei werden in einer Reihe von Fällen Meldungen der Feindsender wiedergegeben, dass es zu »Warnstreiks« gekommen sei, mit der Forderung, den Lohn anteilig in DM zu erhalten, und dass Preiserhöhungen für bestimmte Zigaretten- und Schokoladenerzeugnisse vorgesehen seien. Teilweise wird davon ausgegangen, dass »an der Sache etwas dran« sei.