Treffen von Günter Grass mit systemkritischen Künstlern in der DDR
22. November 1977
Information Nr. 729/77 über wiederholte Einreisen des Westberliner Schriftstellers Günter Grass u. a. Personen aus Westberlin und der BRD in die Hauptstadt der DDR, Berlin, und ihr Zusammentreffen mit solchen Schriftstellern der DDR, die eine feindlich-negative Haltung einnehmen
Dem MfS ist bekannt, dass der Dr. h. c. Grass, Günter (50), geb. am 16.10.1927, wohnhaft: 1 Berlin (West) 41, [Adresse], Beruf: Steinbildhauer/Schriftsteller, jetzt tätig als freischaffender Schriftsteller, in diesem Jahr mehrmals in die Hauptstadt der DDR, Berlin, einreiste mit dem Ziel, mit Schriftstellern der DDR, die eine feindlich-negative Haltung einnehmen, zusammenzutreffen. Als Einreisetage wurden bekannt: 4.2.1977 zu Schlesinger, 10.3.1977 zu Schädlich, 6.5.1977 zu Edda Bauer (Lektor im Aufbau Verlag), 17.5.1977 zu Manfred Krug, 5.8.1977 zu Schädlich, 19.8.1977 zu Schädlich, 10.11.1977 zu Schädlich, 18.11.1977 zu Arendt. An diesen Tagen fanden jeweils Zusammenkünfte mit den genannten DDR-Schriftstellern in deren Wohnungen statt, an denen weitere als feindlich-negativ bekannte Autoren teilnahmen.1
Grass tritt als Mitglied der literarischen Vereinigung »Gruppe 47«2 in der BRD als antisozialistischer Wortführer gegen die Kulturpolitik der DDR auf. Er trat besonders während der Zeit der konterrevolutionären Ereignisse 1968 in der ČSSR3 für ein Modell des sogenannten demokratischen Sozialismus ein. Er ist Mitherausgeber der in der BRD erscheinenden Zeitschrift »L 76«4, die in Anlehnung an die konterrevolutionäre Zeitschrift »Literari Listi«5 1968 als Plattform feindlicher Kräfte in den sozialistischen Ländern und für in die BRD emigrierte Konterrevolutionäre wirkt. Während seiner seit 1975 verstärkt festgestellten Kontakte zu DDR-Schriftstellern versuchte Grass, diese für eine literarische antisozialistische Mitarbeit in der »L 76« und in anderen BRD-Medien zu gewinnen.
Im Zusammenhang mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR für Biermann6 trat Grass besonders gegen die DDR auf und bezeichnete unsere Politik als »dogmatisch und diktatorisch«.
Seit dieser Zeit ist Grass Mitglied des im Zusammenhang mit Biermann gegründeten antisozialistischen »Komitees zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte und Freiheiten in Ost und West«,7 Sitz Bochum/BRD.
Gemeinsam mit den Renegaten Ernst Bloch/BRD, Gerhard Zwerenz/BRD und Heinz Brandt/BRD unterzeichnete Grass ein Protestschreiben des Westberliner Publizisten Andreas Mytze,8 in dem die Freilassung des von Havemann und Biermann beeinflussten straffälligen DDR-Bürgers Jürgen Fuchs gefordert wurde. Grass ist außerdem Mitunterzeichner eines Briefes, in dem die Freilassung inhaftierter konterrevolutionärer Kräfte der ČSSR gefordert wurde, die die sogenannte Charta 77 verfasst hatten.9
Grass ist außerdem korrespondierendes Mitglied des antisozialistischen Westberliner »Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus«10 und unterhält zu dessen Sekretär, Dr. Hannes Schwenger, enge Kontakte.
Grass hat die Herausgabe des Buches von Schädlich »Versuchte Nähe«11, das feindliche Angriffe gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und ihre führenden Repräsentanten enthält, unterstützt und persönlich eine Reihe – ca. 50 – Lesungen daraus selbst durchgeführt bzw. vermittelt. Nach vorliegenden Hinweisen hat Grass seine persönlichen Kontakte in die DDR auch dazu genutzt, Bürger der DDR zu inspirieren, rechtswidrige Ersuchen auf Übersiedlung zu stellen.
Am 10.11.1977, gegen 15.00 Uhr, reiste Günter Grass in Begleitung seiner Lebensgefährtin Ute Grunert und seines Sohnes über die Grenzübergangstelle Bahnhof Friedrichstraße in die Hauptstadt der DDR, Berlin, ein, wo er von Schädlich und dessen Ehefrau empfangen wurde. Sie begaben sich gemeinsam in die Wohnung der Schädlichs in 117 Berlin, [Adresse]. Ab ca. 20.15 Uhr waren auch Jurek Becker und die Lektoratsmitarbeiterin Bauer, Edda (Nichtunterzeichner der »Biermann-Petition«, aber völlig auf der politischen Linie von Schädlich stehend), an der Zusammenkunft in der Wohnung der Schädlichs beteiligt, die bis ca. 23.15 Uhr andauerte.
Die Zusammenkunft am 10.11.1977 diente in erster Linie dem Ziel, ein weiteres Treffen eines größeren Kreises gleichgesinnter Schriftsteller und Autoren vorzubereiten, wobei als Termin der 18.11.1977 und als Treffpunkt die Wohnung des Erich Arendt, Schriftsteller, vereinbart wurden. Außerdem wurde während der »Beratung« am 10.11.1977 Grass von Schädlich über sein Übersiedlungersuchen und damit zusammenhängende Fragen informiert. Grass machte die Anwesenden weiterhin mit seinem neuen Buch »Der Butt«12 bekannt.
Grass reiste am 18.11.1977, gegen 14.00 Uhr, erneut über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in die Hauptstadt der DDR, Berlin, ein, wo er wiederum von dem Ehepaar Schädlich empfangen wurde. Sie begaben sich unmittelbar darauf gemeinsam zur Wohnung des Schriftstellers Arendt, Erich (74), geb. 15.4.1903, wohnhaft: 1058 Berlin, [Adresse], vor 1933 Mitglied der KPD, Spanienkämpfer, Hans-Beimler-Medaille, VVO, Mitglied der Akademie der Künste, Erstunterzeichner der »Protestresolution« im Zusammenhang mit den staatlichen Maßnahmen gegen Biermann.
Die kurz nach Grass ebenfalls über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße eingereisten Schneider, Peter, Freiburg/BRD, Schriftsteller, Mitglied des »Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus« und Unterstützer anarchistischer Literatur in der BRD, Müller-Westernhagen, Marius, Düsseldorf (Tätigkeit bisher nicht bekannt), und die USA-Bürger Lettau, Reinhard, derzeitig wohnhaft in Paris, geboren in Erfurt, Studium der Philosophie in der DDR, seit 1967 USA, u. a. Universität Kalifornien, Verfasser des bei Reclam erschienenen Titels »Der tägliche Faschismus«, Tebor, Dawn Lee,13 aus Wisconsin (Tätigkeit bisher nicht bekannt), begaben sich ebenfalls sofort zur Wohnung des Arendt.
Bis gegen 15.00 Uhr erschienen weiter in der Wohnung des Arendt die DDR-Bürger:
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Becker, Jurek (Erstunterzeichner der »Protestresolution«),
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Schlesinger, Klaus (Erstunterzeichner der »Protestresolution«),
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Endler, Adolf (Unterzeichner der »Protestresolution«),
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Erb, Elke (Unterzeichner der »Protestresolution«),
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Czechowski, Heinz (Sympathisant der Unterzeichner),
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Tragelehn, Klaus (Unterzeichner der »Protestresolution«, nahm eine Unterschrift nach Aussprachen zurück, weiterhin Sympathisant der Unterzeichner),
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Teutsch, Hannelore (Lebensgefährtin von Erich Arendt, Sympathisantin der Unterzeichner),
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Grunert, Ute (Lebensgefährtin von Günter Grass).
Von den ursprünglich zur genannten Zusammenkunft in der Wohnung des Arendt eingeladenen Schriftstellern der DDR sagten aus unterschiedlichen Gründen ihr Erscheinen ab: Christa und Gerhard Wolf, Heiner Müller und Dieter Schubert, wobei aus den von ihnen vorgebrachten Gründen zu entnehmen war, dass sie offensichtlich an einem derartigen Treffen nicht teilnehmen wollten.
Die Zusammenkunft in der Wohnung von Arendt, die bis ca. 23.30 Uhr andauerte, wurde – soweit bisher bekannt – dazu benutzt, um aus literarischen Werken der Teilnehmer, insbesondere aus »Versuchte Nähe« von Schädlich und »Der Butt« von Grass zu lesen und über den Inhalt dieser Bücher zu diskutieren.
Vom MfS wurden Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Zielstellung dieser Zusammenkünfte eingeleitet.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.