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Übersiedlungsersuchen von Armin Mueller-Stahl

21. Juli 1977
Information Nr. 483/77 über Hinweise im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Ersuchen auf Übersiedlung des Schauspielers Armin Mueller-Stahl in die BRD

Dem MfS wurde bekannt, dass Mueller-Stahl, Armin, geb. am 17.12.1930, wohnhaft: 117 Berlin, [Adresse], am 20.7.1977 beim Rat des Stadtbezirkes Köpenick, Abteilung Inneres, ein Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD gestellt hat. (Siehe Anlage)

Das Ersuchen auf Übersiedlung enthält eine kurze Darstellung seiner Entwicklung als Schauspieler. Im Anschluss daran legt er dar, er sei nach seiner Unterschriftsleistung unter die »Protesterklärung« gegen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft des Biermann1 ständig »Repressalien« ausgesetzt gewesen und in seiner beruflichen Entwicklung gehemmt worden. Er erwähnt die Absetzung der Sendung »Porträt per Telefon«2 im Fernsehen der DDR, Absagen von öffentlichen Auftritten, Änderungen des Fernsehfilms »Das unsichtbare Visier«3, die Nichtaufnahme einer für 1977 vorgesehenen Fernsehshow u. a. und betont, in dieser Lage sehe er keine Möglichkeiten mehr, weiter in der DDR zu arbeiten und zu leben, sodass er in die BRD übersiedeln möchte. Im Wesentlichen führt Mueller-Stahl die gleichen »Begründungen« an wie in früheren Aussprachen und Gesprächen mit ihm. (Siehe Information des MfS Nr. 421/77 vom 27.6.1977 über Verhaltensweisen des Schauspielers Mueller-Stahl)

Internen Hinweisen zufolge beabsichtigt Mueller-Stahl, nach Abgabe seines Ersuchens auf Übersiedlung einen Brief an Genossen Lamberz abzuschicken, in dem er um Verständnis für seine Entscheidung bittet. Er wolle betonen, dass er einerseits die DDR liebe, jedoch aufgrund der entstandenen Lage nicht anders handeln könne. Gleichzeitig wolle er Genosse Lamberz um Unterstützung ersuchen, dass er – Mueller-Stahl – sein Haus seiner Schwester Winter-Stahl, Dietlind, wohnhaft: 112 Berlin, [Adresse], Schauspielerin am Berliner Ensemble, übereignen könne. In diesem Zusammenhang habe Mueller-Stahl geäußert, sie solle es »für ihn verwalten und erhalten«. Es sei in seiner Familie abgesprochen, dass sie in sein Haus einzieht. Sollte es in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten geben, so habe er vorgesehen, sein »Tagebuch« in der BRD zu veröffentlichen.4

Im internen Kreis erklärte Mueller-Stahl unmittelbar vor der Abgabe seines Übersiedlungsersuchens, er habe nun »endlich den Mut gefasst, den Antrag abzugeben«; er sei sich aber auch noch nicht darüber im Klaren, »ob er es nicht kurze Zeit später bereuen würde«. In der Familie sei alles Organisatorische abgesprochen, man sei sich jedoch darüber einig, dass nicht alles so glatt gehen würde. Es sei auch nicht sicher, ob er in der BRD sofort Arbeit als Schauspieler finden würde; in diesem Falle würde er zunächst als Taxifahrer arbeiten. Sein Vertrauen in die DDR sei erschüttert; er könne die »tiefe Erniedrigung«, die ihm Genosse Adameck mit seinem Ausspruch, »dich mache ich ganz klein« zugefügt habe, nicht überwinden.

Mueller-Stahl gibt sich in vertraulichem Kreise den Anschein, dass er fest mit der Genehmigung seines Ersuchens auf Übersiedlung rechnet. In diesem Zusammenhang äußerte er, er hoffe, dass ihm Zeit verbleibe, einen für die Zeit vom 8.8. bis 22.8.1977 an der Ostsee/Hiddensee gebuchten Urlaubsplatz noch in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeitig betonte er, es bereite ihm »große Sorgen«, ob der DEFA-Spielfilm »Die Flucht«, in welchem er die Hauptrolle spielt, unter diesen Bedingungen noch aufgeführt werden könne. Es sei zu erwarten, dass seine Kollegen ihm bei einem eventuellen Absetzen des Films seine Haltung verübeln und sich von ihm abwenden könnten.

Der Film »Die Flucht«, Autor: Johannes Hüttner, Regisseur: Roland Gräf, Hauptdarsteller: Amin Mueller-Stahl, Jenny Gröllmann, schildert die Geschichte eines Arztes, der nach negativer-ideologischer Beeinflussung die DDR ungesetzlich verlässt und dadurch sein ganzes Leben, seine Ehe und berufliche Entwicklung zerstört. (Vorgesehener Aufführungstermin liegt in der Woche vom 10. bis 16.10.1977.)5

Weiter erwähnte Mueller-Stahl im vertraulichen Kreise, er habe bisher keine Kontakte zu westlichen Pressevertretern. Er beabsichtigte jedoch, nach der Abgabe seines Ersuchens mit diesen Verbindung aufzunehmen und Interviews zu geben mit dem Ziel, in der BRD bekannt zu werden und damit seine Übersiedlung vorzubereiten.

Weiteren internen Hinweisen zufolge habe sich Mueller-Stahl im Zusammenhang mit seiner im Juli 1977 erfolgten Reise zu seiner erkrankten Mutter in die BRD nach Bad Pyrmont geäußert, er habe das Leben in der BRD aufmerksam beobachtet, und es sei daraus abzuleiten, dass es auch für ihn nicht leicht werde, in der BRD Fuß zu fassen. Man müsse sich auf erhebliche Umstellungen in der Lebensweise gefasst machen. Er wäre jedoch sehr von der »lockenden6 Atmosphäre«, der »Freiheit«, die überall in der BRD herrsche sowie der »Offenheit« und »Großzügigkeit«, mit der ihm Künstler begegnet seien, beeindruckt.

Mueller-Stahl äußerte weiter, er habe auch Bremen und Hamburg besucht und sei in Hamburg mit Biermann zu einem längeren Gespräch zusammengetroffen. Biermann habe Mueller-Stahl seine Situation eingangs kurz mit den Worten, er sei »vom Regen in die Jauche« gekommen, geschildert. Er kenne in der BRD viele Künstler und habe Mueller-Stahl in seinem Hause mit mehreren bekannt gemacht. Mueller-Stahl habe mit ihnen »sehr anregende Diskussionen« zu Problemen der Kunst geführt.

Anlage zur Information Nr. 483/77

[Ausreiseantrag von Armin Mueller-Stahl]

Abschrift

Armin Mueller-Stahl | 117 Berlin | [Adresse] | 19. Juli 1977

An den | Rat des Stadtbezirks Köpenick

Betrifft: Antrag auf Ausreise aus der DDR in die BRD

Seit 25 Jahren arbeite ich als Schauspieler und Chansonnier in der DDR. Ich bin verheiratet und habe ein Kind.

1964 habe ich mit Wolf Biermann einen Film gedreht;7 seither kenne ich ihn und habe an seinen Liedern und Arbeiten stets Anteil genommen. Im November 1976 schloss ich mich dem Protest der zwölf Schriftsteller an, weil ich der Meinung war und bin, dass Wolf Biermann in unser Land gehört. Seine kritische Haltung war für mich ein wichtiger Beweis dafür, dass in unserem Land Einspruch und politische Einmischung möglich war. Mit Biermann ist ein Freund ausgewiesen worden, der mich in meiner eigenen Arbeit als Chansonnier inspiriert und ermutigt hatte. Der 16. November 1976 war deshalb ein trauriger Tag in meinem Leben, und ich hatte die Petition unterschrieben, weil ich allen Ernstes angenommen hatte, die Ausbürgerung könne rückgängig gemacht werden.

Was mich aber schmerzlicher berührt hat, war die Nachbehandlung der ganzen Affäre, in deren Verlauf auch ich beschädigt wurde und die mein Gleichgewicht sehr gestört hat. Mit einigen Unzufriedenheiten bin ich – wie jeder andere – bisher gut fertig geworden. Dass es mir nie ermöglicht wurde, den Wunsch des Publikums nach einer Schallplatte zu erfüllen; dass mir seit Jahren keine Auslandskonzerte angeboten wurden; Bevormundungen, Einschränkungen und Behinderungen vieler Art habe ich verkraftet. In den letzten Monaten allerdings treffen mich selbst und einige Freunde unangemessen harte Schläge, die hinzunehmen mir immer schwerer fällt:

  • Es hat mich als Mitglied des Fernseh-Ensembles in einen schweren Konflikt gebracht, dass Eva-Maria Hagen und Ingolf Gorges fristlos entlassen wurden, obwohl Letzterer den Protestbrief gar nicht unterschrieben hatte, und er sich damit in den Augen der Leitung weniger schuldig gemacht haben musste, als ich. Einige Kollegen haben mich vergelten [sic!] lassen, dass hier mit unterschiedlicher Elle gemessen wurde.

  • Mein Freund Jurek Becker wurde aus der Partei und aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes ausgeschlossen.

  • Mein Freund Manfred Krug hatte unter Repressalien und Verleumdungen schwer zu leiden; das hat auch mich sehr mitgenommen, und ich wusste wenig Trost und Hilfe.

  • Ich selbst und Verwandte von mir blieben nicht unbetroffen. Die verabredete Sendung Theo Adam Präsentiert8 wurde mir am 6. Dezember abgesagt.

  • Die für den 21. Dezember 1976 bereits angekündigte Sendung Porträt per Telefon fiel ohne Angabe von Gründen aus, meine schriftliche Anfrage blieb unbeantwortet.

  • Der Fernsehfilm Branco, für dessen Hauptrolle ich vorgesehen war, wurde abgesetzt.

  • Der Fernsehfilm Das unsichtbare Visier, in dem ich die Rolle des Detjen gespielt hatte, wurde zwar noch gesendet, die von mir gespielte Figur jedoch durch erhebliche Eingriffe am Schneidetisch verstümmelt.

  • Aus der Silvester-Unterhaltungssendung, in der ich mitgewirkt hatte, wurde ich herausgeschnitten.

  • Von einer Fernsehshow, die für 1977 mit mir geplant war, habe ich nie wieder etwas gehört.

  • Eine Reihe von Konzerten wurde abgesagt.

  • Mein Schwager, Intendant des Landestheaters Halle, wurde gezwungen, sich als staatlicher Leiter ebenfalls zu den Vorgängen um Biermann schriftlich zu äußern. Nach ehrlicher Darlegung seiner Meinung wurde er am 21.2.1977 von seinem Posten abberufen und erhielt die Mitteilung, künftig mit einer gleichwertigen Arbeit nicht rechnen zu können. Mir wurde in diesem Bezug auf seine Haltung die Rädelsführerschaft zugeschoben. Am 24. März wurde er als Mitglied der SED gestrichen. Zwar hat man mit ihm seit dem Ausreiseantrag von Krug ehrliche Gespräche geführt und auch Arbeitsmöglichkeiten gefunden, aber die Tatsache, dass es soweit kommen konnte, hat mein Vertrauen stark beschädigt.

  • Vom Intendanten des Landestheaters Dessau wurde mir in diesem Zusammenhang eine seit Langem vorbereitete Veranstaltung abgesagt.

  • Die Schwester meiner Frau ist Studentin der Ingenieurschule für Chemie in Berlin. Am 6. Mai teilte der Parteisekretär den Genossen ihrer Seminargruppe mit, ich würde den Ausreiseantrag gestellt haben; der Abteilungsleiter schlug in diesem Zusammenhang vor, meine Schwägerin zu exmatrikulieren.

Alle diese Vorgänge haben mich in eine seelische Verfassung gebracht, die mir eine erfolgversprechende künstlerische Arbeit unmöglich macht. Schauspieler sind leicht zu verletzen, zum einen dadurch, dass ihnen einfach der Hahn abgedreht wird, zum anderen aber auch, indem die Atmosphäre des Vertrauens und des Zutrauens zerstört wird, die für meine Arbeit die Grundlage ist. Unter all diesem Stress und Druck kann ich nicht arbeiten. Jetzt eine Rolle zu spielen, würde nichts anderes sichtbar machen, als die Tatsache meines Kaputtseins. Es gibt Worte, die kann man nicht vergessen, weil sie sich immer wiederholen können. Immer wieder ist eine Situation denkbar, wo der Chef meines Betriebes sagen kann,

  • er mache ein Nichts aus mir,

  • er werde dafür sorgen, dass ich das Betriebsgelände nicht mehr betreten dürfe,

  • er habe Lust mir den Vertrag um die Ohren zu hauen,

  • ihr seid doch viel zu blöd, um Politik zu machen.

So geschehen im November 1976 im Fernsehfunk der DDR. Ich habe vor solchen Worten, vor solchen Szenen, vor solchen Drohungen einfach Angst. Das gibt sich nicht über Nacht, das bleibt in mir.

Ich gebe zu, dass [es] mir gerade deshalb in den letzten Monaten in besonderem Maße unerträglich geworden ist, solchen Misshelligkeiten nicht ausweichen zu können. Es gibt für mich nicht die Möglichkeit, eine Weile den Querelen aus dem Wege zu gehen und woanders mein Glück zu versuchen. Jedem Sportler wird eingeräumt, seine Kräfte mit Gegnern in aller Welt zu messen; Handelsvertreter, Techniker, Politiker, Mediziner – sie alle brauchen Konflikte, Eindrücke, Erfahrungen. Ich auch.

Ich sehe keine Chance, diese Verknotung aus Demütigung, Ohnmacht, Beleidigung, Wut und Bevormundetsein zu lösen. Nach langem Abwägen bin ich zu der Gewissheit gekommen, einen neuen Anfang machen zu müssen. Niemand wird glauben, dass mir im Alter von 46 Jahren so etwas vorschwebt wie materielle Vorteile oder eine neuerliche Karriere. Bis zum Rentenalter bleiben mir nur noch wenige Jahre, selbst zu entscheiden und durchzusetzen, wie ich leben und meine Probleme lösen will.

Seit der Ausreise von Krug sind mit mir freundschaftliche Gespräche geführt worden, aber in mir ist Furcht und Widerwillen gewachsen vor Intervallen der Unfreundlichkeit und Freundlichkeit.

Aus den dargelegten Gründen stelle ich für mich und meine Familie den Antrag auf Ausreise aus der DDR in die BRD. Dort leben mein Bruder Hagen Mueller-Stahl und meine Mutter. Ich bitte sehr meinen Antrag zu bewilligen, um meine Umzugsangelegenheiten ordnungsgemäß abwickeln zu lassen.

F.d.R.d.A. | Schlag

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    21. Juli 1977
    Übersicht über die Entwicklung der von der BV Neubrandenburg bearbeiteten Ermittlungsverfahren [Bericht K 2/13]

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    20. Juli 1977
    Information Nr. 480/77 über die von Stefan Heym durchgeführte Lesung am 7.7.1977 in der Dorfkirche in Berlin-Bohnsdorf aus seiner in der DDR bisher nicht veröffentlichten Erzählung »Mein Richard«