Verhaftung eines ehemaligen Vikars wegen »Staatsfeindlicher Hetze«
28. März 1977
Information Nr. 193/77 über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den ehemaligen Vikar der evangelischen Landeskirche Sachsen, Günther Schau
Am 25.3.1977 wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit gegen den Schau, Günther, geb. am [Tag] 1948, ohne erlernten Beruf, wohnhaft in Freiberg, [Adresse], bis 28.2.1977 Vikar in der Kirchengemeinde Hainichen/Karl-Marx-Stadt, wegen Verbrechen gemäß §§ 106 und 108 StGB (Staatsfeindliche Hetze; Staatsverbrechen, die gegen ein anderes sozialistisches Land gerichtet sind)1 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und auf gleicher Rechtsgrundlage am 26.3.1977 Haftbefehl erlassen.
Schau wurde am 25.3.1977, um 2.15 Uhr, auf dem Hauptbahnhof in Erfurt durch die Transportpolizei2 zugeführt, weil er sich weigerte, den an ihn gerichteten Aufforderungen zwecks Personalienfeststellung Folge zu leisten. Bei der Kontrolle seiner mitgeführten persönlichen Gegenstände wurde u. a. eine umfangreiche Hetzschrift (29 Seiten) mit dem Titel »Ein Biermann ging, | aber 13 Schriftsteller kamen, | seine Freunde jedoch – ins Gefängnis. Ein unparteiischer Bericht von der Ausweisung Biermanns am 16.11.1976 und ihre Folgen« sichergestellt. In dieser Hetzschrift, von Schau selbst verfasst und aus Gründen einer beabsichtigten Vervielfältigung und Weiterverbreitung auf Ormig-Matrizen3 gefertigt, werden die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und die anderer sozialistischer Staaten in übelster Weise diskriminiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die seitens der Regierung der DDR im Zusammenhang mit Biermann getroffenen Maßnahmen sowie [die] eingeleiteten strafprozessualen Maßnahmen der Sicherheitsorgane gegen Personen, die in Reaktion darauf staatsfeindliche Handlungen unternahmen. Im Ergebnis erster Untersuchungen wurde festgestellt, dass Schau Kopien bzw. Abschriften folgender »Erklärungen« und Schreiben antisozialistischen Inhalts im Besitz hatte:
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Die sogenannte »Berliner Erklärung« von Schriftstellern und anderen Kulturschaffenden zur Ausbürgerung Biermanns,4
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ein Schreiben Havemanns vom 18.11.1976 an den Generalsekretär des ZK der SED,5
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ein Schreiben des Schriftstellers Bernd Jentzsch vom 21.11.1976 an den Generalsekretär des ZK der SED,6
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die sogenannte »Charta 77« antisozialistischer Kräfte aus der ČSSR,7
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einen »Aufruf« an die Russen zum »Ungehorsam« von Solschenizyn8 sowie
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einen sogenannten »offenen Brief an den Genossen Edward Gierek« von Professor Lipinski, Warschau.9
Schau beabsichtigte, eine Auswahl dieser Schriften ebenfalls zu vervielfältigen und seiner eigenen Hetzschrift beizufügen.
Bei Schau handelt es sich um eine Person mit einer feindlich-negativen Einstellung gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR. Seit Ende 1976 ging er verstärkt dazu über, bereits vorhandene feindlich-negative Auffassungen und Ansichten in Aktivitäten umzuwandeln.
So hat er am 22.11.1976 in einem von ihm verfassten Brief an das ZK der SED gegen die publizistische Darstellung in Massenmedien der DDR zur Selbstverbrennung des Pastors Brüsewitz sowie gegen die Ausbürgerung Biermanns und damit im Zusammenhang stehende staatliche Maßnahmen gegen andere Personen »protestiert«.10 Durchschläge dieses Briefes übersandte er u. a. an kirchliche Würdenträger der evangelischen Landeskirche Sachsen, einen Mitarbeiter eines Leipziger Verlages sowie die Ehefrau des in Haft befindlichen Pannach.11
Nach vorliegenden zuverlässigen Informationen nahm Schau an der Trauerfeier des Pfarrers Brüsewitz teil und weilte anlässlich des Begräbnisses des Mitunterzeichners der sogenannten »Charta 77«, Professor Jan Patocka,12 in der ČSSR.
Von November 1976 an suchte Schau zielgerichtet persönliche Kontakte zu Angehörigen von im Zusammenhang mit der Ausweisung Biermanns staatsfeindlich tätig gewordenen und durch die Sicherheitsorgane der DDR inhaftierten Personen wie Pannach, Kunert,13 Fuchs14 u. a.
Aufgrund der mit diesen Personen geführten Gespräche und der in der Presse der DDR sowie in westlichen Massenmedien erfolgten Veröffentlichungen zu Biermann fasste er den Entschluss, die ihm bekannt gewordenen Fakten und seine Meinung dazu niederzuschreiben. Ein entsprechendes, im Dezember 1976 gefertigtes Manuskript übergab Schau den Angehörigen der Inhaftierten Pannach und Kunert und erhielt es von diesen teilweise korrigiert und ergänzt zurück. Dieses Manuskript bildete die Grundlage für die Erarbeitung der bei ihm vorgefundenen Hetzschrift.
Schau unterhält umfangreiche briefliche und persönliche Kontakte zu Personen in nichtsozialistischen Staaten, darunter zu solchen, die wegen staatsfeindlicher Aktivitäten in der DDR rechtskräftig verurteilt und nach Aberkennung der Staatsbürgerschaft aus der DDR ausgewiesen wurden. Von diesen Personen erhielt er auf dem Postweg antisozialistische Materialien und Veröffentlichungen über die sogenannten Dissidentenbewegungen in anderen sozialistischen Ländern zugesandt. Persönliche Treffen zwischen Schau und seinen Kontaktpartnern aus nichtsozialistischen Staaten erfolgten in der ČSSR.
Schau wurde nach bisher vorliegenden Informationen am 28.2.1977 wegen angeblicher »politischer Differenzen« aus dem »Vorbereitungsdienst für das geistliche Amt« entlassen. Der in Hainichen amtierende Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche, bei dem Schau als Lehrvikar tätig war, erklärte dagegen, Schau habe den kirchlichen Dienst stark vernachlässigt, sodass er beim Landeskirchenamt Dresden dessen fristlose Entlassung bewirkt habe. Internen Hinweisen zufolge beabsichtigte Schau, sich trotz dessen weiterhin »unter dem Schutz der Kirche aktiv für die in der DDR angeblich zu Unrecht Inhaftierten einzusetzen und gegen die Ausweisung Biermanns Stellung zu nehmen«.
Wie bisher bekannt wurde, ist seitens der evangelischen Landeskirche Sachsens nicht beabsichtigt, sich für Schau bei den staatlichen Organen der DDR einzusetzen.
Weitere Maßnahmen zur schnellen und umfassenden Aufklärung der Straftaten des Schau und seiner Verbindungen zu anderen feindlich-negativen Kräften sind eingeleitet.
Die Untersuchungen werden durch das MfS fortgesetzt.