»Verhaltensweisen« der Lyrikerin Sarah Kirsch
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Information Nr. 339/77 über Hinweise zu Verhaltensweisen und Aktivitäten der Lyrikerin Sarah Kirsch
Dem MfS liegen streng vertrauliche Hinweise über Verhaltensweisen und Aktivitäten der Sarah Kirsch vor. Dazu im Einzelnen:
Sarah Kirsch nimmt innerhalb des Personenkreises der Erstunterzeichner von »Protesterklärungen«1 gegenwärtig offiziell eine verhärtete Haltung ein und entwickelt umfangreiche Aktivitäten zur Aufrechterhaltung und Intensivierung der gegenseitigen Verbindungen. Ihre Position wird u. a. deutlich durch eigene Äußerungen beim Abschiedsbesuch von Eva-Maria Hagen in ihrer Wohnung Ende März 1977, bei dem weitere Personen, unter anderem Thomas Brasch, anwesend waren. Demzufolge ist der Kirsch »jede Kritik an der DDR und den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR recht, egal, ob sie von linken oder rechten Positionen vorgetragen wird; wichtig ist, dass in der DDR eine echte Opposition entsteht«.
In Gesprächen mit anderen Unterzeichnern von »Protesterklärungen« steigerte sich die Kirsch ständig zu scharfmacherischen, diskriminierenden Äußerungen gegenüber den Maßnahmen der Partei zum Zurückdrängen feindlicher Kräfte innerhalb des kulturellen Bereiches. Die Partei sei »korrupt bis sonst wohin«, ihre Streichung als Mitglied »belustige« sie. Vor der Sitzung des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der DDR am 11.3.1977 verständigte sich die Kirsch mit anderen Unterzeichnern wie Christa und Gerhard Wolf, Franz Fühmann, Günter Kunert und Klaus Schlesinger darüber, an dieser Vorstandssitzung nicht teilzunehmen.
Nach der Vorstandswahl des Berliner Schriftstellerverbandes am 31.3.19772 informierte die Kirsch in verschiedenen Gesprächen ausführlich die Unterzeichner von »Protestresolutionen«, die an dieser Wahl nicht teilgenommen hatten. Sie brachte dabei ihre tiefe Befriedigung über das provokatorisch-feindliche Auftreten von Klaus Schlesinger und Stefan Heym zum Ausdruck. Wie auch andere Unterzeichner von »Protestresolutionen« ist die Kirsch nicht bereit, der Entschließung zuzustimmen, die am 11.3.1977 auf der Sitzung des Vorstandes des Schriftstellerverbandes angenommen wurde und die das Vorgehen der Unterzeichner, insbesondere die Übergabe der »Protestresolution« an westliche Massenmedien, verurteilt. Die Kirsch vertritt nach wie vor hartnäckig und in aggressiver Form den Standpunkt, dass die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR für Biermann ein »Unrechtsakt« gewesen sei und die zielgerichtete Übergabe der »Protestresolution« an westliche Massenmedien die einzige Möglichkeit für sie und die weiteren Unterzeichner war, sich Gehör in der Öffentlichkeit und bei der Partei- und Staatsführung zu verschaffen. In der letzten Zeit interessiert sich die Kirsch zunehmend für Personen, die wegen ihrer antisozialistischen, gesetzwidrigen Aktivitäten nach Biermanns Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR inhaftiert wurden.
Sie äußerte in diesem Zusammenhang, es belaste sie sehr stark, dass die Härte des Gesetzes gegen »Schwächere« angewendet werde. Sie und die anderen elf Unterzeichner des »ersten Protestbriefes« könnten es nicht gutheißen, wenn junge, politisch überwiegend unerfahrene Menschen strenger behandelt würden als die Unterzeichner selbst. Unser Staat, zu dem sie stehe und mit dem sie sich trotz allem eng verbunden fühle, sei stark und gefestigt genug, um sich eine derartige »harte Administration« gegenüber Schwächeren ersparen zu können. Mit den »Erstunterzeichnern« hätte man sich auf eine »friedlichere Art und Weise« auseinandergesetzt. Ihr zwänge sich in diesem Zusammenhang der Gedanke auf, dass es in unserem Staat »zweierlei Menschen und zweierlei Genossen« gäbe. Mit den einen verfahre man friedlich – weil man offensichtlich auch nicht anders könne oder wolle, obwohl sie viel mehr Unruhe gestiftet haben – und an den anderen praktiziere man wegen Nichtigkeiten die gesetzliche Strenge.
Ein ähnliches Vorgehen erkenne sie auch gegenüber den »Erstunterzeichnern«. Es sei offensichtlich leichter, die »Wut« an ihr oder Gerhard Wolf auszulassen als beispielsweise an Christa Wolf oder gar an Stephan Hermlin. Diese »Ungerechtfertigkeiten« nach dem Motto »Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen« würden sie sehr bedrücken, hätten andererseits gegenwärtig große Auswirkungen unter Jugendlichen und wären mehrfach der Anlass »oppositionellen Verhaltens«.
Die Kirsch geht nach eigenen Äußerungen davon aus, dass es »darauf ankomme, innerhalb der DDR verändernd zu wirken«. Das wird u. a. an ihrer Haltung zur Übersiedlung Reiner Kunzes in die BRD deutlich. Nach ihren Äußerungen sei Reiner Kunze bei ihr und vielen ihrer Bekannten restlos »durchgefallen«. Mit seinem gesamten Verhalten und vor allem mit seiner Übersiedlung habe er sich als »Fremdkörper innerhalb dieser Gesellschaft« selbst herausgelöst und sei für sie damit »gestorben«.
Kunze habe in den letzten Jahren durch andere Schriftsteller in der DDR sehr viel Solidarität erfahren, habe damit jedoch offensichtlich nichts anzufangen gewusst. Er habe im Gegenteil viele seiner ehemaligen Freunde »vor den Kopf« gestoßen und sie zum Teil durch seine Aktivitäten gegenüber BRD-Journalisten sogar in unangenehme Situationen gebracht. Sie selbst verurteile sein Verhalten und seine Übersiedlung. Zum engsten Verbindungskreis der Sarah Kirsch innerhalb der DDR sind Klaus Schlesinger, der Übersetzer und Schriftsteller Hans Joachim Schädlich sowie die Schauspielerin Käthe Reichel zu zählen. Von diesen Personen wird die Kirsch offensichtlich in ihrer feindlichen Haltung bestärkt und ermuntert, wobei Einfluss auf sie ausgeübt wird, öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu entwickeln. Enge Verbindungen unterhält die Kirsch darüber hinaus zu dem Schriftsteller Christoph Meckel aus Westberlin (einem Intimfreund von ihr) sowie zu Kristof Wachinger (Inhaber und Leiter des Verlages Langewiesche-Brandt; dieser Verlag verlegt Arbeiten der Kirsch in der BRD). Der Wachinger preist die Kirsch in der BRD als größte lebende deutsche Dichterin.
Auffällig ist, dass die Kirsch im Gegensatz zu früher in Gesprächen offiziell ihre intensiven und engen Beziehungen zu dem BRD-Schriftsteller Günter Grass nicht erwähnt, die sich seit 1975 verstärkt haben. Seit dieser Zeit kam es in ihrer Wohnung – z. T. auf Initiative des Grass – zu mehreren Zusammenkünften von DDR-Kulturschaffenden, insbesondere Schriftstellern (u. a. mit Rainer Kirsch, Günter Kunert, Bernd Jentzsch), mit Günter Grass, bei denen Grass diese Personen aufforderte, aktiv für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR einzutreten. Grass (SPD-orientiert) vertrat dabei offen Thesen im Sinne des Sozialdemokratismus. Gleichzeitig bemühte er sich um die Mitarbeit von DDR-Schriftstellern in der von Böll initiierten Schriftenreihe »L 76«3 in der BRD.
Hauptsächlich organisiert von der Kirsch und Hans Joachim Schädlich fand erneut am 6.5.1977 eine längere Zusammenkunft zwischen Schriftstellern und Kulturschaffenden aus der DDR und der BRD sowie Westberlin, Frankreich und der Schweiz in der Wohnung einer Bauer, Edda, Lektoratsmitarbeiterin im Aufbau Verlag Berlin, statt. An dieser Zusammenkunft nahmen unter anderem folgende Personen teil: Manfred Krug, Jurek Becker, Sarah Kirsch, Klaus Schlesinger, Hans Joachim Schädlich, Elke Erb, Klaus Poche, Günter Grass, Christoph Meckel und die Ehefrau des Schweizer Schriftstellers Max Frisch.
Einige der genannten Personen lasen während der Zusammenkunft aus neuen, noch nicht veröffentlichten literarischen Werken. Darüber hinaus erfolgte ein umfangreicher Informationsaustausch über die derzeitige Situation im kulturellen Bereich der DDR. Die Kirsch und Schädlich verständigten sich zu einem späteren Zeitpunkt darüber, dass eine Zusammenkunft mit einem derartigen Personenkreis unzweckmäßig und nicht konstruktiv genug verlaufe; es offenbarten sich bei derartigen Zusammenkünften zu viele unterschiedliche Standpunkte, die nicht zu vereinen wären.
Die Kirsch äußerte sich befriedigt darüber, dass nach den Auseinandersetzungen Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres jetzt eine »wohltuende Ruhe« um die Unterzeichner der »Protestresolution« eingezogen sei. Man verspüre weder Anfeindungen noch Angriffe oder Repressalien seitens der Partei und Staatsorgane, offensichtlich sei »alles wieder im Lot«. Diese Ruhe finde ihren Ausdruck unter anderem auch darin, dass »Unterzeichner« wieder öffentlich auftreten und reisen dürfen; es lasse sich deshalb auch wieder »freier und besser leben als unter der psychischen Belastung der vergangenen Monate«. Die Kirsch verknüpft damit die Hoffnung, dass sie ihrer Einladung zur diesjährigen Verleihung des Petrarca-Preises in Padua (Italien) nachkommen kann. (Sie hatte diesen mit 20 000 DM dotierten Literaturpreis im Juni 1976 überreicht bekommen.)4 Sie hofft darüber hinaus, von ihr beabsichtigte Lesereisen in die BRD realisieren zu können.
Zu den weiteren beruflichen Plänen der Kirsch liegen gegenwärtig keine konkreten Angaben vor. Sie selbst äußerte, auch unter normalen Bedingungen keine sehr fleißige Arbeiterin zu sein. Nach den Aufregungen der letzten Monate könne sie sich derzeitig noch nicht wieder konzentrieren. Zufrieden äußerte sich die Kirsch darüber, dass ihr Gedichtband »Rückenwind« nach seinem Erscheinen in der DDR (1976 im Aufbau Verlag) nun auch bei dem BRD-Verlag Langewiesche-Brandt erschienen ist.5 Erfolg in der DDR erhofft sie sich von ihrem im Juni 1977 im Reclam Verlag erscheinenden kleinen Band »Musik auf dem Wasser«.6
Nach internen Hinweisen soll die Kirsch ein äußerst depressiver, labiler, leicht beeinflussbarer und ausgeprägt emotional reagierender Mensch sein. Berufliche oder persönliche Misserfolge oder psychische Belastungen würden sich bei ihr sehr stark auswirken und ihre Verhaltens- und Handlungsweisen bestimmen. Dabei würden ihre zahlreichen unglücklichen Liebesverhältnisse eine ebenso große Rolle spielen wie die Auseinandersetzungen mit ihr seit November 1976. In derartigen Situationen sei die Kirsch von Personen, die ihr schmeicheln oder von denen sie glaubt, dass sie ihr zugetan sind, sehr leicht zu beeinflussen.
Nach zuverlässigen Informationen unterhält die Kirsch persönlichen Kontakt zu Dr. Hannes Schwenger, Schriftsteller, Vorsitzender des Westberliner Schriftstellerverbandes und Sekretär des sogenannten Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus in Westberlin. (Diesem nach der Aberkennung der Staatsbürgerschaft Biermanns in Westberlin gebildeten »Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus« – auch »Schutzkomitee für beruflich, politisch und persönlich bedrohte DDR-Bürger« genannt – gehören ca. 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens überwiegend aus der BRD und Westberlin an, u. a. Heinrich Böll, Max Frisch, Fred Dürrenmatt, Magnus Enzensberger.7 Das »Komitee« verfolgt das Ziel, Informationen über inhaftierte DDR-Bürger zu erlangen, insbesondere zu solchen Personen, die im Zusammenhang mit den staatlichen Maßnahmen gegen Biermann inhaftiert wurden, sowie deren Angehörige zu unterstützen.) Der Schwenger suchte die Kirsch bereits in der Wohnung auf und informierte sich über die Situation unter Unterzeichnern von »Protesterklärungen« und angebliche Repressivmaßnahmen der Partei- und Staatsführung sowie über Angaben zu in Jena inhaftierten Personen.
Der bereits genannte Schwenger äußerte, er habe angeblich mit der Kirsch darüber gesprochen, dass prominente Künstler und Kulturschaffende dem sogenannten Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Westberlin Angaben zu den »anstehenden Prozessen gegen Auerbach, Markowsky u. a.«.8 machen sollen. Sie möge sich dafür einsetzen. Schwenger äußerte weiter, dass das »Schutzkomitee« Personen aus der DDR, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht einverstanden sind, materiell und ideell unterstützen wolle. Die organisatorischen Voraussetzungen dazu müssten jedoch in der DDR geschaffen werden, und es sei zweckmäßig, dazu ein »Menschenrechtskomitee« zu gründen.
Sarah Kirsch, an die man sich halten könne, sei angeblich bereit, ein derartiges Komitee aufzubauen. Es müsste jedoch gewährleistet sein, dass die für ein solches Komitee notwendigen Informationen »von unten« an Sarah Kirsch laufen, damit diese und ihr prominenter Kreis nicht sofort in den Blickpunkt geraten, da das auffallen würde.
Angeblich soll sich die Kirsch gegenüber Schwenger bereit erklärt haben, sich mit Eingaben an die Staatsorgane der DDR zu wenden. (Vermutlich handelt es sich dabei um Eingaben, in denen Aufklärung über das »Schicksal« in Jena inhaftierter Personen9 gefordert werden soll.) Damit ihm keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR nachgewiesen werden könne, hat Schwenger zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit der Kirsch eine Mittelsperson beauftragt. Bisher liegen noch keine konkreten Hinweise dazu vor, dass die Kirsch derartige Aktivitäten entwickelt.
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