»Verhaltensweisen« von Armin Mueller-Stahl
27. Juni 1977
Information Nr. 421/77 über Verhaltensweisen des Schauspielers Armin Mueller-Stahl
Dem MfS wurde intern bekannt, dass sich Mueller-Stahl, Armin, geb. am 17.12.1930, wohnhaft: 117 Berlin, [Adresse], nach der am 10.6.1977 beim Genossen Lamberz geführten Aussprache zunächst zurückhaltend und abwartend verhielt.
Im vertraulichen Kreise erklärte er unmittelbar nach dem Gespräch, es sei richtig gewesen – obwohl er anfangs gezögert habe –, mit Genossen Lamberz in Verbindung zu treten. Es erfülle ihn mit Genugtuung, dass Genosse Lamberz trotz Reisevorbereitungen und terminlichen Schwierigkeiten Zeit gefunden habe, ihn zu empfangen. Wenn das Gespräch auch nur kurz verlaufen sei, so sei er doch zufrieden, weil er sich »die wichtigsten Probleme habe vom Herzen reden« können. Er sei mit Genossen Lamberz übereingekommen, kein Ersuchen auf Übersiedlung zu stellen und am 27.6.1977 erneut mit ihm zusammenzutreffen, um seine Probleme endgültig zu klären.
Mueller-Stahl äußerte in diesem Zusammenhang, er halte weiterhin an seinem Vorhaben fest, für ein bis zwei Jahre Auslandsverpflichtungen – insbesondere im deutschsprachigen Raum – zu übernehmen. Wichtig sei ihm außerdem die Zusicherung des Genossen Lamberz zur Klärung der Angelegenheiten seines Schwagers, Ulf Reiher – ehemals Intendant des Theaters in Halle; aus der Partei gestrichen und als Intendant abgelöst –, wobei er mit seiner Klärung zugunsten des Reiher rechne. Gleichzeitig äußerte jedoch Mueller-Stahl, die Entwicklung müsse abgewartet werden; denn »die schieben doch alles so hin wie sie es brauchen«.
Weiteren Freunden teilte Mueller-Stahl mit, während des Gespräches am 10.6.1977 beim Genossen Lamberz seien noch keine konkreten Festlegungen getroffen worden; am 27.6.1977 werde das Gespräch fortgesetzt, und dann habe er »Konkreteres« zu erwarten.
Mueller-Stahl nahm am 19.6.1977 mit seiner Ehefrau Mueller-Stahl, Gabriele, Ärztin im Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf, an der »Abschiedsparty« bei Krug teil. In den vergangenen Tagen hielt er sich häufig bei seinem Schwager Ulf Reiher in Halle auf. Reiher übt gegenwärtig einen negativen Einfluss auf Mueller-Stahl aus.
In den letzten Tagen ist in der Haltung des Mueller-Stahl wieder eine bestimmte Verhärtung und steigende Unzufriedenheit festzustellen. Im vertraulichen Kreise äußerte er, bei ihm komme »wieder Misstrauen hoch«. Er spüre, dass man ihm kein Vertrauen entgegenbringe. So habe ihm Genosse Lamberz während des Gesprächs am 10.6.1977 nicht mitgeteilt, dass sein Freund, Manfred Krug, bis spätestens 20.6.1977, entgegen den bisherigen Versprechungen, aus der DDR ausgereist sein muss.
Weiteren Äußerungen Mueller-Stahls zufolge habe er große Hoffnungen auf die Gespräche mit Genossen Lamberz gesetzt; er müsse jedoch jetzt zu der Schlussfolgerung kommen, dass nur »diskutiert und polemisiert und nicht gehandelt werde«. Die zwischen ihm und Genossen Lamberz beratenen Probleme seien von den betreffenden untergeordneten Stellen inzwischen weder ernsthaft beraten noch entschieden worden, und wenn, dann nicht in seinem Sinne. So habe er erfahren, dass die Versicherung vom Genossen Lamberz ihm gegenüber, die Angelegenheit seines Schwagers Reiher zu prüfen, mit der Wirklichkeit nicht übereinstimme; und dieser Fall sei symptomatisch. Reiher sei von der Genossin Ragwitz, Leiterin der Abteilung Kultur im ZK, ein Einsatz in Véczprem, Ungarische Volksrepublik, zugesichert worden, später evtl. ein Einsatz als Intendant in Cottbus. Reiher wolle jedoch erfahren haben, dass die Genossin Brandt, ZK-Mitglied und Sekretär der Bezirksleitung Halle der SED, bei der Genossin Ragwitz ihr Veto eingelegt habe, offensichtlich mit Erfolg, da Reiher von der Genossin Ragwitz trotz Zusicherung nicht mehr höre. So stehe auf der einen Seite die Versicherung des Genossen Lamberz und auf der anderen Seite die Realität.
Im weiteren Verlauf des im vertraulichen Kreise geführten Gesprächs stellte Mueller-Stahl die Frage, was für ihn im Ergebnis weiterer Gespräche mit Genossen Lamberz herauskommen solle; offensichtlich »seien sich die zuständigen Kreise nicht über ein abgestimmtes Vorgehen einig«. Einige Funktionäre in der Partei- und Staatsführung könnten offenkundig ihre »Barrieren« nicht überwinden.
In einem weiteren Gespräch – so betonte Mueller-Stahl – komme es nicht darauf an, »irgendwelche Diskussionen zu führen«, sondern er wolle »Verbindlichkeiten, wonach er sich so bewegen könne, wie es ihm passt«. Wenn es Politikern, Sportlern, Wissenschaftlern und Funktionären gestattet sei, sich mit ihren Kreisen in der ganzen Welt zu messen und sich ihr Weltbild zu schaffen, dann könne auch ihm das nicht verwehrt werden. Er wolle auch »drüben« arbeiten und mit seiner Familie reisen können. Deswegen brauche sich an seiner Staatsbürgerschaft nichts zu ändern.
Mehrfach betonte Mueller-Stahl, dass ihn der Weggang von Krug stark beeindruckt und zu Tränen gerührt habe. Er blicke zu Krug auf, der sich durchgesetzt habe, aber auch an seiner Versicherung festhalte, kein Politikum aus seinem Fall zu machen. Für Mueller-Stahl sei beeindruckend, dass Krug nach dessen Verlautbarung in wenigen Tagen mit seiner Familie für drei bis vier Wochen einen Urlaub in Spanien antreten könne.
Mueller-Stahl vertrat die Meinung, Krug würde stehenden Fußes wieder in die DDR zurückkommen – und es gäbe auch keine Probleme mehr mit den Künstlern, Schriftstellern und ihm –, wenn die »Schönheitsfalten im Gesicht des Sozialismus, und das sind nicht wenige, eines Tages beseitigt sind«.
Auch die Ehefrau des Mueller-Stahl nimmt zurzeit wieder einen verhärteten Standpunkt ein. Nachdem sie Mitte Mai 1977 erklärte, nicht aus der DDR weggehen zu wollen, da sie in der DDR als Ärztin eine Perspektive habe, äußerte sie in den letzten Tagen, sie »freunde sich unter diesen Umständen nun doch mit dem Gedanken an, hier wegzugehen«. Nach ihrer Meinung hänge alles vom Verlauf des Gesprächs am 27.6.1977 ab. Auch der Bruder des Mueller-Stahl, Mueller-Stahl, Hagen, wohnhaft: Westberlin, [Adresse], geb. am [Tag] 1926, Regisseur in Hannover und Kassel (Theater), sei am Fortgang der Dinge interessiert, stehe deshalb laufend mit der Familie Mueller-Stahl in Verbindung und habe zugesichert, in der BRD oder Westberlin für Mueller-Stahl bestimmte Arbeitsmöglichkeiten vorzubereiten.
Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Haltung des Mueller-Stahl erscheint sein schwankendes, unsicheres und teilweise widersprüchliches Verhalten insgesamt während der letzten Monate und vor dem Gespräch mit dem Genossen Lamberz am 10.6.1977 bemerkenswert.
Internen Hinweisen zufolge äußerte Mueller-Stahl seit etwa Mitte April 1977 in vertraulichen Gesprächen, ebenfalls – wie Krug – ein Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD zu stellen. Mueller-Stahl hat seit dieser Zeit mehrmals Entwürfe eines entsprechenden Ersuchens vorbereitet – letztmalig Anfang Juni 1977 –, bis jetzt aber noch nicht an staatliche Organe herangetragen. Er verhielt sich ständig schwankend und unsicher, ob er das Ersuchen abgeben solle. Nach eigenen Äußerungen sei er »innerlich zerrissen«, fühle sich »verlassen und überflüssig« und sei derzeitig »unfähig zu arbeiten«. Seine Unentschlossenheit kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass er einerseits äußert, er habe sein Haus nicht gebaut, um es zu verlassen, sondern [um] darin zu wohnen, andererseits betont, er wolle es demnächst seiner Schwester überschreiben lassen. In einem anderen Falle meinte er, die DDR bald verlassen zu müssen, widersprach jedoch auch nicht, als für ihn ein Urlaubsplatz auf Hiddensee im August 1977 gebucht werden sollte.1
Aus vertraulichen Äußerungen des Mueller-Stahl ist bekannt, dass er bereits Antiquitäten aus seiner Sammlung mithilfe befreundeter Diplomaten illegal nach Westberlin verbringen ließ, aber danach auch Überlegungen anstellte, sie wieder zurückholen zu lassen.
In internen Gesprächen betonte Mueller-Stahl wiederholt, gegen ihn und andere Künstler würde seit November 1976 »von denen da oben ein Kesseltreiben veranstaltet«. Zur Begründung dieser Auffassung wurde von ihm u. a. vorgebracht:2
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Trotz eines persönlichen Versprechens des Genossen Lamberz Ende 1976 ihm gegenüber und seiner eigenen »Wohlverhaltenserklärung« an Genossen Lamberz wären er und andere Künstler »Repressalien« ausgesetzt. Beispiele dafür seien u. a. die kurzfristige Absage seines »Porträts per Telefon«,3 die Ablösung seines Schwagers Ulf Reiher als Intendant des Landestheaters Halle, die Mitteilung an seine Schwägerin [Name, Vorname] (Studentin an der Ingenieurschule für Chemie, Berlin-Friedrichshain), die Seminargruppe würde einen Exmatrikulationsantrag stellen, da er ein Übersiedlungsersuchen abgegeben hätte. (Die Ablösung des Ulf Reiher als Intendant des Landestheaters Halle steht nicht in Verbindung mit der Haltung des Mueller-Stahl, sondern ist das Ergebnis politisch-ideologischer Auseinandersetzungen mit Reiher am Landestheater Halle. Für die Schwägerin [Vorname Name] ist bisher kein Exmatrikulationsantrag gestellt. In Auseinandersetzungen mit ihr wegen ihrer vollkommen ungenügenden Studienleistungen wurde ihr jedoch die Möglichkeit angedeutet. Ihre Leistungen haben sich danach verbessert. In den Gesprächen gab es keine Bezugspunkte zu Mueller-Stahl.)
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Genosse Adameck habe sich ihm gegenüber unsachlich verhalten und u. a. geäußert: »Ich mache aus Dir ein Nichts!« Bestimmte Arbeitsvereinbarungen seien nicht realisiert worden.
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Gerade ihm als »einen ganz großen Schauspieler« müssten »Zugeständnisse und größere Freiheiten« gewährt werden. (Darunter würde er auch Reisegenehmigungen in das nicht-sozialistische Ausland verstehen.)
Nach vorliegenden Hinweisen stand Mueller-Stahl in den letzten Monaten stark unter dem negativen Einfluss von Krug und des Ulf Reiher. Nach eigenen Äußerungen empfindet Mueller-Stahl gegenüber Krug »große Achtung und Dankbarkeit«, da er beigetragen hätte, sein Selbstvertrauen zu stärken. Früher hätte er alles toleriert, was die Partei- und Staatsführung, »die Adamecks« u. a. unternommen hätten. Jetzt – unter dem Einfluss von Krug – sei »seine Persönlichkeit aufgebrochen«, er fühle sich nicht mehr als »Schleimscheißer und Duckmäuser« und könne es »denen da oben endlich heimzahlen«.4
Bezeichnend für die Haltung des Mueller-Stahl war, dass er offensichtlich aus Verbundenheit zu Krug nach dem von Krug abgegebenen Übersiedlungsersuchen eine Zusammenkunft in seiner Wohnung organisierte.
Während des Treffens, zu dem ca. 25 Personen erschienen waren (u. a. Heym, Becker, Beyer, Krug, Poche, Ulf und Gisela Reiher, Hagen Mueller-Stahl – Bruder, wohnhaft Westberlin, Mallinger – Mitarbeiter der holländischen Botschaft in der DDR), trug Krug die Gründe für sein beabsichtigtes Verlassen der DDR vor. Mueller-Stahl betonte während dieser Zusammenkunft, dass derartige Treffen organisiert würden, um »die Isolierung, in die man geraten wäre, wenigstens in ihrem Kreis zu verhindern und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern«.
Gegenüber anderen Gesprächspartnern äußerte Mueller-Stahl vertraulich, die Geschehnisse um Biermann5 wären bei ihm lediglich der »Auslöser« für eine beabsichtigte Übersiedlung. Er könne »nicht mehr heucheln und stillschweigend die Politik der DDR und die Missstände beim Fernsehen der DDR mit ansehen«. Er wolle »in größerer Freiheit« leben, als sie ihm in der DDR gewährt werden könnte.6
Aus dem unmittelbaren Personenkreis um Mueller-Stahl wurde intern geäußert, Mueller-Stahl sehe sich immer stärker in der Rolle eines Märtyrers und gefalle sich darin. So äußerte er z. B., dass er lieber eine »verbogene Biographie statt eines verbogenen Rückgrats« hätte. Auch das »sehr angenehm« verlaufene Gespräch mit Genossen Bentzien7 (10.5.1977) könne daran nichts ändern. Genosse Bentzien hätte ihm »tolle Angebote, u. a. Westreisen mit Ehefrau«, unterbreitet. Aber für ihn komme alles zu spät. Er würde jetzt Veranstaltungs- und Rollenangebote aus Solidarität mit Krug und seinen anderen Freunden ablehnen, da er »ganz einfach ein Fünkchen Charakter zeigen« müsse.8
Nach internen Hinweisen entwickelt Mueller-Stahl zeitweise Vorstellungen, wie bestimmte vermögensrechtliche Fragen in Vorbereitung der Übersiedlung zu klären wären. Er äußerte z. B., dass er sein Wohnhaus (Wert ca. 100 000 M, davon ca. 40 000 Hypothek) an seine Schwester überschreiben lassen und dem Rechtsanwalt Irmscher eine Generalvollmacht zur Abwicklung der vermögensrechtlichen Angelegenheiten nach Ausreise aus der DDR erteilen wolle. Konkrete Aktivitäten in dieser Richtung erfolgten jedoch noch nicht.
Wie intern weiter bekannt wurde, schreibt Mueller-Stahl an einem »Tagebuch über die Novemberereignisse«. Nach eigenen Äußerungen würde er täglich fünf Seiten fertigstellen. Er zeichne jedes Gespräch als »Gedächtnisprotokoll« auf und wolle u. a. nachweisen, dass auch derzeitige »Angebote der Partei- und Staatsführung« nur als vorübergehende taktische Maßnahmen zu beurteilen wären. Die »psychischen Repressalien bis hin zur Sippenhaft« würden weitergehen. Das »Tagebuch« würde er – wenn er nicht mehr in der DDR wäre und »im Westen als Schauspieler keine Perspektive sähe« – veröffentlichen.9 Dann würde man sich »um ihn reißen«, ebenso wie es mit Ingolf Gorges geschehen sei, der »mit seinen Enthüllungen über die DDR im Westen groß herausgekommen« wäre.10
Nach streng vertraulichen Hinweisen enthalte das Tagebuch des Mueller-Stahl Aufzeichnungen über Gespräche, die er seit November mit den verschiedensten Personen hatte, dargestellt von der Position seiner subjektiven Betrachtungsweise. So seien z. B. ausführlich Gespräche wiedergegeben, die er mit dem Genossen Adameck, Genossen Engelhardt, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen der DDR und Leiter des Bereiches Kunst und Kulturpolitik, Genossen Hans Bentzien, stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen der DDR und Leiter des Bereiches Kunst und Kulturpolitik, aber auch mit Manfred Krug, Frank Beyer/Regisseur des DDR-Fernsehens, Stefan Heym u. a. hatte. In den Aufzeichnungen würden Vorbehalte des Mueller-Stahl gegenüber der Partei- und Staatsführung sichtbar, die in Einzelfällen bis zur Verleumdung von Partei- und Staatsfunktionären reichen würden. Die Aufzeichnungen des Mueller-Stahl würden außerdem subjektive Bemerkungen zur Person des Gesprächspartners enthalten. So bezeichne er den Genossen Adameck als Typ mit einem »Kopf voller Haare«, dessen »geifernde Stimme« nicht zu ertragen sei. Genosse Engelhardt sei der »Hauptschuldige« an seiner Lage, und er könne unter den »Kriechern« nicht mehr arbeiten.11
Der Gesprächspartner Frank Beyer hätte Mueller-Stahl in gewisser Weise beeindruckt, da er ihm brutal vorgeworfen habe, er handele als »Abklatsch« von Krug. Beyer habe ihm zu bedenken gegeben, der finanzielle und moralische Schaden, den Krug anderen Filmschaffenden zufüge, sei noch nicht abzusehen. Auch er sei davon betroffen, da eine Reihe Filme aus dem Verkehr gezogen würden.
Mueller-Stahl habe in seinem »Tagebuch« weiter vermerkt, auch Stefan Heym habe ihm von einer Übersiedlung abgeraten, da es bei der »Protesterklärung« nicht um Forderungen nach Ausreise, sondern um Kritik an der Kulturpolitik der Partei gegangen sei. Mueller-Stahl habe dazu kommentiert, Heym sei für ihn kein Maßstab, da dieser reisen könne, wohin er wolle.
[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
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