Verhinderung einer Geiselnahme zur Erzwingung der Ausreise
10. Mai 1977
Information Nr. 293/77 über die Verhinderung eines durch Geiselnahme und versuchter Anwendung terroristischer Gewaltakte unternommenen Versuchs, die Ausreise in die BRD zu erzwingen
Am 2.5.1977, gegen 20.15 Uhr, wurden die Bürger der DDR [Name 1, Vorname] (20), geb. am [Tag] 1956, zuletzt tätig als Elektromonteur im VEB Technische Gebäudeausrüstung Karl-Marx-Stadt, wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 1], 1972 vorbestraft wegen Fahrraddiebstahls und Vorbereitung zum ungesetzlichen Verlassen der DDR, und [Name 2, Vorname] (19), geb. am [Tag] 1957, zuletzt tätig als Gleisbauarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn Bahnmeisterei, Bahnhof Karl-Marx-Stadt/[Ortsteil], wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 2], bei dem Versuch, die Bewohner des Hauses [Adresse 3] in Karl-Marx-Stadt (32 Erwachsene und 9 Kinder) als Geiseln in ihre Gewalt zu bringen, festgenommen. Beide wollten mit diesen terroristischen Handlungen die Ausreise in die BRD erzwingen.
Im Ergebnis der durch das MfS unverzüglich eingeleiteten weiteren Maßnahmen wurden als Mittäter, die maßgeblich an der Planung und Vorbereitung des Gewaltverbrechens beteiligt waren, [Name 3, Vorname] (18), geb. am [Tag] 1959, zuletzt tätig als Baufacharbeiter-Lehrling im VEB Baureparaturen Karl-Marx-Stadt, wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 4], und [Name 4, Vorname] (17), geb. am [Tag] 1959, zuletzt tätig als Zerspanungsfacharbeiter-Lehrling im VEB Wirkmaschinenbau Karl-Marx-Stadt, wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 5], festgenommen.
Als weitere Person, die von dem geplanten Verbrechen der Vorgenannten Kenntnis hatte, wurde am 8.5.1977 der [Name 5, Vorname] (17), geb. am [Tag] 1959, zuletzt tätig als Baufacharbeiter-Lehrling im VEB Bau und Rekonstruktion Karl-Marx-Stadt, wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 6], festgenommen.
Während gegen die vier vorgenannten Personen Ermittlungsverfahren wegen Terror und unbefugten Waffen- und Sprengmittelbesitzes gemäß §§ 101, 206 StGB1 eingeleitet und auf gleichen Rechtsgrundlagen Haftbefehle erlassen wurden, erfolgte die Inhaftierung des [Name 5] gemäß § 225 StGB2 wegen Unterlassung der Anzeige.
Die vom MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben:
Am 2.5.1977, gegen 19.50 Uhr, wurde das Ehepaar [Name 6, Vorname 1] (27), Baumaschinist im WBK Karl-Marx-Stadt, und [Name 6, Vorname 2] (23), Sekretärin im VEB Industriewerke Karl-Marx-Stadt, beide wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse 3], beim Verlassen ihres Wohnhauses im Hausflur von [Name 1] und [Name 2] mit den Worten bedroht: »Gehen Sie sofort zurück. Sie sind als Geisel festgenommen, und wenn Sie sich ruhig verhalten und keinen Widerstand leisten, passiert Ihnen auch nichts.« Dabei wurden von beiden Tätern selbstgefertigte Handfeuergeräte auf das Ehepaar gerichtet. Nach dieser Drohung wurde der Bürger [Name 6] von [Name 2] mit einem mitgeführten Schlagring niedergeschlagen, sodass er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Die Ehefrau, die ihrem Mann Hilfe leisten wollte, wurde durch den gleichen Täter mittels Handkantenschlag in das Genick ebenfalls niedergeschlagen. Als [Name 6] wieder zu sich kam, gelang es ihm, als zeitweilig die Treppenhausbeleuchtung erlosch, durch den Hinterausgang zu entkommen, um Hilfe herbeizuholen. Auf der Straße traf er zwei Angehörige der DVP und teilte diesen den Sachverhalt mit. Ein Angehöriger der DVP begab sich daraufhin zum Hintereingang des Hauses, wobei die Täter ihre Schusswaffen auf ihn richteten. Der VP-Angehörige begab sich sofort zurück und veranlasste die Heranführung von Verstärkung.
Die Frau [Name 6] suchte inzwischen Zuflucht bei dem Mitbewohner des Hauses [Name 7, Vorname] (56), selbstständiger Kaufmann, der sofort telefonisch das VPKA Karl-Marx-Stadt von dem Vorfall verständigte.
Beim Eintreffen weiterer Kräfte der DVP wurden diese von [Name 1] mit einem Schussgerät beschossen. Außerdem versuchte er, einen bereits installierten Sprengsatz zu zünden, was jedoch aufgrund fehlerhaft angeschlossener Zündleitungen nicht gelang. Daraufhin zündete er einen selbstgefertigten Sprengkörper und bewarf damit aus dem Treppenhausfenster des 1. Stockwerkes die den Hauseingang absichernden Angehörigen der DVP, wobei er sich selbst infolge zu früher Detonation dieses Sprengkörpers Brandwunden im Gesicht zuzog. Hausbewohner bzw. die Angehörigen der DVP wurden dabei nicht verletzt.
Gegen 20.15 Uhr wurden [Name 1] und [Name 2] von den Einsatzkräften der DVP überwältigt und festgenommen, ohne dass von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden musste.
Das Ehepaar [Name 6] wurde sofort in das Krankenhaus Karl-Marx-Stadt überführt und ist am 3.5.1977 in den Nachmittagsstunden nach ambulanter Behandlung entlassen worden.
[Name 1] und [Name 2] waren bei ihrer Festnahme im Besitz von zwei Luftgewehren, einer Luftdruckpistole sowie von zwei selbstgefertigten Handfeuerwaffen mit dazu speziell hergestellter Munition. Alle Waffen befanden sich im beschussfähigen Zustand.
Bei der sofort durchgeführten Durchsuchung des Wohnhauses [Adresse 3] wurden eine größere Menge selbstgefertigter pyrotechnischer Materialien, Schießeinrichtungen und Munition sichergestellt, so u. a. acht Schießeinrichtungen mit elektrischer Zündung, 81 Sprengsätze und Sprengkörper (darunter acht selbstgefertigte Handgranaten), 85 Sprengzünder mit elektrischem Anschluss, 24 Zündeinrichtungen mit Kabel.
Des Weiteren befanden sich im Treppenhaus verteilt 15 mit Benzin gefüllte Kanister je fünf Liter, ein Kanister gefüllt mit 20 Liter Benzin und 18 mit Benzin gefüllte Flaschen. Einige Benzinkanister bzw. Flaschen waren mit Zündschnüren verbunden worden. Auf dem Dachboden wurden 84 Schnüre zum Fesseln der Geiseln gefunden.
Nach ihren bisherigen Aussagen hatten die Täter, insbesondere [Name 1] und [Name 2], seit längerer Zeit die Absicht, die DDR ungesetzlich zu verlassen, ohne jedoch zunächst konkrete Vorstellungen über die Realisierung ihres Planes zu haben. Inspiriert durch Sendungen westlicher Massenmedien über Geiselnahmen entwickelte [Name 1] schließlich einen analogen Plan, um auf diesem Wege in die BRD zu gelangen. Ursprünglich beabsichtigten die Täter, einen namentlich noch nicht festgelegten Funktionär als Geisel zu nehmen, ihn in eine Kiste zu sperren und diese zu vergraben. Das Versteck wollten sie nur unter der Bedingung ihrer freien Ausreise in die BRD preisgeben. Ein weiterer Plan sah vor, in Grenznähe zur BRD einen Pkw zu überfallen, den Fahrer als Geisel zu nehmen und mit dem Pkw unter Androhung der Ermordung des Fahrers ihre Ausreise in die BRD zu erzwingen.
Zu einem späteren Zeitpunkt entwickelten [Name 1] und [Name 2] dann den Plan, in ein Wohnhaus einzudringen, das Haus von innen zu blockieren, mittels selbstgefertigter Brand- und Sprengsätze eine Inbrandsetzung bzw. Sprengung des Hauses vorzubereiten und die Bewohner des Hauses als Geiseln zu nehmen, um dadurch auf die Sicherheits- und Schutzorgane der DDR Druck auszuüben, damit ihnen eine ungehinderte Ausreise in die BRD ermöglicht wird.
Wie [Name 1] angibt, war der Freispruch Weinholds in der BRD3 für ihn ein moralischer Auftrieb und unmittelbarer Anlass für die endgültige Entschlussfassung zur Durchführung der geplanten Terrorhandlung.
[Name 5], der seit seiner Schulzeit Kontakt zu dem [Name 4] hatte, erfuhr von diesem, dass [Name 4] beabsichtigt, die DDR ungesetzlich zu verlassen. Im Dezember 1976 versuchte [Name 4], den [Name 5] für das geplante Terrorverbrechen zu gewinnen und informierte ihn über alle dazu vorgesehenen Maßnahmen und getroffenen Vorbereitungen. Die Namen der anderen Täter wollte [Name 4] erst dann nennen, wenn sich [Name 5] bereit erklärt, an dem Verbrechen mitzuwirken. [Name 5] lehnte jedoch eine Teilnahme ab, unterließ es aber vorsätzlich, Anzeige zu erstatten. Seine Unterlassungen motivierte er mit angeblicher Freundschaft zu [Name 4].
Entsprechend den bisherigen Untersuchungen muss [Name 1] als Hauptinitiator der geplanten und versuchten terroristischen Handlungen angesehen werden. Er war auch maßgeblich an der Finanzierung und Herstellung der Spreng- und Zündmittel sowie der Schießgeräte beteiligt. (Insgesamt wurden für den Kauf dieser Materialien M 1 500 verausgabt, wovon [Name 1] allein M 1 400 der Auslagen bestritt.) Er verfügt über die notwendigen elektro- und pyrotechnischen Kenntnisse, da er sich bereits seit seiner Kindheit mit der Herstellung von Knallkörpern beschäftigte und durch seine berufliche Tätigkeit die erforderlichen technischen Fertigkeiten erlangte. [Name 2] wurde von ihm zu Hilfsarbeiten herangezogen, während [Name 3] und [Name 4] im Wesentlichen mit der Beschaffung der Mittel und Materialien beauftragt waren. Die verwandten Mittel zur Herstellung von Sprengkörpern, Brandsätzen und Waffen sind im Wesentlichen in Handelseinrichtungen Karl-Marx-Stadts käuflich erworben worden, so u. a. im Wismut-Kaufhaus »Glückauf« (Silvester 1976) 100 Knallraketen und 100 Silberfontänen sowie Blitzknaller zur Herstellung von Zündsätzen, in verschiedenen Verkaufsstellen ca. 2 000 Schachteln Zündhölzer zur Herstellung von Sprengsätzen, im Centrum-Warenhaus und in einem Fahrrad-Fachgeschäft ca. 40 Stützrohre für Klappfahrradsättel, um daraus Schussgeräte herzustellen, und in einem Fachgeschäft für Sportwaffen 40 Schachteln Luftgewehrkugeln zur Herstellung von Geschossen. Alle Sprengsätze und Schussgeräte sowie deren Zubehör wurden im zu einer Werkstatt umfunktionierten separaten Wohnzimmer des [Name 1] in Karl-Marx-Stadt, [Adresse 1], hergestellt bzw. bearbeitet.
Von [Name 4] wurde das Wohnhaus [Adresse 3] als Objekt zur Tatausführung vorgeschlagen. Von ihm sowie von [Name 1] und [Name 2] ist es entsprechend ihrer Zielstellung aufgeklärt und für den geplanten Terroranschlag als geeignet angesehen worden.
Als Termin für die Realisierung ihres verbrecherischen Vorhabens legten [Name 1] und [Name 2] den 2.5.1977 fest, da [Name 1] am 3.5.1977 zur NVA einberufen werden sollte. Am 1. bzw. 2.5.1977 informierten sie [Name 4] und [Name 3] über den festgelegten Zeitpunkt und forderten sie zur Teilnahme auf. (Während [Name 4] nicht teilnahm, weil er krankgeschrieben war, nahm [Name 3] aus Angst von einer Beteiligung Abstand, sodass [Name 1] und [Name 2] den Entschluss fassten, die terroristische Handlung allein durchzuführen.)
Am 2.5.1977, gegen 11.30 Uhr, transportierten sie mit zwei Handwagen die Tatmittel von der Garage des [Name 1] zum Tatort und begannen mit der Installierung der Spreng- und Brandsätze.
Nach ihren bisherigen Aussagen hatten die Täter den Plan, alle Bewohner des Hauses [Adresse 3] nach dem Anbringen der Brand- und Sprengsätze mit Gewalt auf dem Hausboden zusammenzutreiben und dort zu fesseln. Anschließend beabsichtigten sie, Zettel auf die Straße zu werfen, auf denen sie ihre sofortige ungehinderte Ausreise in die BRD und zu diesem Zweck die Bereitstellung eines Hubschraubers fordern wollten. Bei Nichtrealisierung ihrer Forderungen hätten sie die Tötung der Geiseln und die Sprengung des Wohnhauses angedroht.
Um ein weiteres »Druckmittel« für die Durchsetzung ihrer Forderungen zu haben, hatten die Täter in einem Gepäckfach des Busbahnhofes Karl-Marx-Stadt, Schillerplatz, zwei mit Benzin gefüllte Kanister je fünf Liter eingelagert, die mittels Sprengsatz und entsprechender elektrischer Zündvorrichtung nach ca. 40 Stunden zur Explosion gelangen sollten. Die durch Spezialisten der Feuerwehr vorgenommene Überprüfung des Gepäckfaches bestätigte das Vorhandensein eines Sprengsatzes, der entschärft und sichergestellt wurde.
Die bisherigen Untersuchungen zu den Persönlichkeitsbildern der Täter ergaben:
[Name 1, Vorname] stammt aus ungeordneten Familienverhältnissen. Seine Mutter, die als Köchin im [Name des Hotels] in Karl-Marx-Stadt tätig ist, unterhält häufig wechselnde Männerbekanntschaften. Sein Vater ist ihm nicht bekannt. Er wurde im Wesentlichen von seiner Urgroßmutter erzogen. Mit seiner Mutter hatte er in der Vergangenheit mehrmals tätliche Auseinandersetzungen. Aufgrund schlechter Lernergebnisse erreichte er nur das Ziel der 8. Klasse. Er besitzt keinen Facharbeiterabschluss. In den bisherigen Arbeitsstellen gab es mit ihm mehrfach Auseinandersetzungen wegen schlechter Arbeitsdisziplin. [Name 1] ist Mitglied der FDJ, ohne aber aktiv zu sein.
[Name 2, Vorname] wuchs in zerrütteten Familienverhältnissen auf. Seine Eltern sind seit 1967 geschieden. Die Mutter wurde wegen Diebstahls von Paketsendungen bei der Deutschen Post entlassen und ist gegenwärtig als Materialverwalterin bei der Deutschen Reichsbahn tätig. [Name 2] wurde im Alter von 13 Jahren wegen rowdyhaften Verhaltens im Wohngebiet und wiederholten unberechtigten Fernbleibens vom Schulunterricht von 1972 bis 1974 in einem Jugendwerkhof4 untergebracht. Während der Lehrausbildung gab es mit ihm ständig Auseinandersetzungen wegen fortwährender Disziplinverstöße.
[Name 3, Vorname] stammt aus geordneten Familienverhältnissen. Sein Vater ist als Kraftfahrer und die Mutter als Postangestellte tätig. Auf seiner Arbeitsstelle zeigt er eine ungenügende Lerneinstellung. Er ist Mitglied der FDJ und wurde innerhalb seines Lernaktivs zum FDJ-Sekretär gewählt. In dieser Funktion wurden von ihm nur ungenügende Aktivitäten entwickelt. [Name 3] wird als Egoist eingeschätzt, der ständig seinen Willen durchzusetzen versucht.
[Name 4] stammt ebenfalls aus geordneten familiären Verhältnissen. Sein Vater ist als Horizontalbohrer und seine Mutter als Disponentin tätig. Beide Elternteile haben eine ablehnende Haltung zur sozialistischen Entwicklung in der DDR. Ihrem Sohn [Vorname] verboten sie den Beitritt in die Pionierorganisation und die FDJ. Daraus entwickelte sich bei ihm eine gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR gerichtete politische Grundhaltung und er fand Anschluss bei negativen Jugendlichen. [Name 4] ist während seiner Schulzeit und danach im Wohngebiet ständig mit undisziplinierten und rowdyhaften Verhaltensweisen in Erscheinung getreten.
[Name 5] stammt gleichfalls aus geordneten Familienverhältnissen. Sein Vater ist als Transportarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn und die Mutter ist als Paketzustellerin bei der Deutschen Post tätig. Er war Mitglied der Jungen Pioniere und gehört sei 1974 der FDJ und [seit] 1976 dem FDGB und der DSF an.
Obwohl alle Täter Mitglieder der FDJ und des FDGB waren (außer [Name 4]), fühlten sie sich nicht mit diesen Organisationen verbunden. Sie verhielten sich passiv und nahmen nicht am gesellschaftlichen Leben teil.
Die Eltern der Täter hatten von deren verbrecherischen Vorhaben keine Kenntnis.
Alle Personen sind bei den zuständigen staatlichen Organen nicht mit rechtswidrigen Übersiedlungsersuchen in Erscheinung getreten.
Die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der genauen Umstände, Zusammenhänge und Hintergründe sowie der Motive und begünstigenden Bedingungen für das geplante und versuchte Gewaltverbrechen werden durch das MfS fortgesetzt.