Versorgungs- und Produktionsausfälle in der DDR-Volkswirtschaft
15. März 1977
Information Nr. 160/77 über vorliegende Aufklärungsergebnisse im Zusammenhang mit den in der Volkswirtschaft der DDR eingetretenen schweren Schäden, Störungen und Versorgungs- sowie Produktionsausfällen in den Monaten Dezember 1976 bis Februar 1977
Im Zeitraum Dezember 1976 bis Februar 1977 kam es zu einer Reihe schwerer Schäden, Störungen und Versorgungs- sowie Produktionsausfällen in der Volkswirtschaft der DDR. Diese konzentrierten sich im Wesentlichen auf
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die chemische Industrie des Raumes Leuna–Buna–Piesteritz durch Elektroenergie-Versorgungsausfälle,
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die Versorgung der Hauptstadt der DDR mit Elektroenergie durch Kabelbrände und
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verschiedene Walzwerke der Metallurgie durch Brände und Störungen.
Bei fast allen Vorkommnissen wurde im Zusammenhang mit den geführten Untersuchungen festgestellt, dass erneut
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Verletzungen und Missachtung geltender Normative des Arbeits-, Gesundheits- und Brandschutzes,
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Verstöße gegen Schutzgütebestimmungen und
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Unterschätzung der Durchsetzung von Prinzipien der Sicherheit, Ordnung und Disziplin in der Führungs- und Leitungstätigkeit
wesentlich zu den teilweise folgenschweren Auswirkungen der Brände und Störungen beitrugen. Die Folgen wären durchaus zu verhindern gewesen bzw. hätten zumindest gemindert werden können, wenn
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die Anzeichen von Gefahr rechtzeitig beachtet und bekämpft,
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vorangegangene Störungen untersucht, ausgewertet und deren Ursachen beseitigt und
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die Schutzvorrichtungen komplett und voll funktionsfähig gestaltet worden wären.
So mussten z. B. am 30. Dezember 1976 alle Karbidöfen im VEB Chemische Werke Buna zurückgefahren werden (es entstand 112 000 Mark Produktionsausfall), weil das Rückkühlwerk infolge des Brandes eines Gießharztransformators ausgefallen war. Dieses Vorkommnis wäre vermeidbar gewesen, wenn die Schlussfolgerungen aus einem gleichartigen Vorkommnis (27. November 1976) rechtzeitig realisiert worden wären.
Nach diesem mit einem Produktionsausfall von 75 000 Mark verbundenen Vorkommnis war bereits festgestellt worden, dass die im Eigenbau hergestellten Gießharztransformatoren entgegen gesetzlicher Festlegungen nicht mit einem die Auswirkungen von Windungsschlüssen verhinderten Netzschutz ausgerüstet worden waren. Erst nach dem erneuten Vorkommnis am 30. Dezember 1976 wurden die erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Ausfälle und zur Beseitigung der technischen Mängel eingeleitet.
Am 12. Januar 1977 kam es zu einer Störung in der Elektroenergieversorgung des VEB Leuna-Werkes, welche 273 000 Mark Produktionsausfall zur Folge hatte. Diese Störung wurde durch das Zerbersten eines Kupplungsleistungsschalters im Umspannwerk Daspig infolge eines Überschlages durch Verschmutzung und hoher Luftfeuchtigkeit ausgelöst. (Dieses Problem, das schon wiederholt zu Störungen führte, kann erst mit Abschluss der Umbauung der gegenwärtigen Freiluftanlage Daspig mit einem Baukörper, etwa 1980, gelöst werden.) Die Auswirkungen der Störung hätten jedoch wesentlich geringer sein können, wenn die Sicherung der Sammelschienenkupplung entsprechend TGL mit einer optischen Anzeigenüberwachung ausgestattet gewesen wäre. Der Fehler hätte vom Personal sofort erkannt werden können, und es wäre durch sofortige Umschaltung nicht zu solchen Auswirkungen gekommen.
Am 5. Februar 1977 kam es im VEB Düngemittelkombinat Stickstoffwerk Piesteritz zu erheblichen Produktionsstörungen infolge von Spannungseinsenkungen in der 110 kV-Zuleitung zwischen Vockerode und Piesteritz. (Als Ursache wurden Erdschlüsse ermittelt.) Zu den Auswirkungen konnte es nur deshalb kommen, weil die Einstellwerte der Relais für die Leistungsschalter im VEB Düngemittelkombinat Stickstoffwerk Piesteritz ungenügend den vorgegebenen Relaisstaffelzeiten der Energieversorgung angepasst waren. Bei der eingetretenen Spannungseinsenkung von 1,4 Sekunden hätten die Leistungsschalter im Betrieb noch nicht ansprechen dürfen. Obwohl dieses Problem der ungenügenden Relaiseinstellung in der Kombinatsleitung seit längerer Zeit bekannt ist, wurde es bisher nicht gelöst.
Am 20. Februar 1977 trat im zentralen Umspannwerk Bad Lauchstädt ein zeitweiliger Erdschluss an einem Kabelendverschluss auf, der von der Schutzeinrichtung (110 kV-Leistungsschalter) nicht lokalisiert wurde, sodass es infolge erhöhter Spannung zu erheblichen Beschädigungen an Einrichtungen des Umspannwerkes sowie Versorgungsausfällen für den VEB Chemische Werke Buna, den VEB Leuna-Werke sowie die Stadt Merseburg kam. Zu den Auswirkungen wäre es ebenfalls nicht gekommen, wenn die Schutzeinrichtung funktioniert hätte.
Am 13. Januar 1977 ereignete sich im Kraftwerk Boxberg I eine schwere Havarie mit Millionenschaden durch den Zusammenbruch des Elektrofilters des Kraftwerkblockes 2. Ein Maschinist erlitt dabei tödliche Verletzungen, und es kam zum zeitweiligen Ausfall von fünf Blöcken mit je 220 MW Leistung. Der Block 2 konnte erst am 30. Januar 1977 ohne Elektrofilter wieder in Betrieb genommen werden. Der Zusammenbruch des Elektrofilters hätte verhindert werden können, wenn die seit einiger Zeit bekannte Überfüllung und Überbelastung des Filters durch unzulässig hohe Asche-Sand-Ablagerung beseitigt und die Funktionsfähigkeit wieder hergestellt worden wäre. Im Filter befanden sich zum Zeitpunkt des Zusammenbruches 3 400 t Asche und Sand bei einer laut Projekt zulässigen Belastbarkeit von 1 080 t.
In der Hauptstadt der DDR, Berlin, traten am 2. Dezember 1976 im Umspannwerk Mauerstraße und am 4. Februar 1977 im Umspannwerk Humboldt Erdschlüsse an überalterten Kabeln auf, die zu Bränden und nachfolgend zu bedeutenden Versorgungsausfällen in den Stadtbezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Pankow führten. Der Versorgungsausfall am 4. Februar 1977 betraf 150 000 Bürger, sieben Straßenbahnlinien, Objekte ausländischer Vertretungen sowie die Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße einschließlich Grenzsicherungsanlagen. Es wurde festgestellt, dass die Auswirkungen des Kabelbrandes nicht derartige Ausmaße angenommen hätten, wenn die Feuerwehr rechtzeitig alarmiert und das Umspannwerk freigeschaltet worden wäre. Begünstigend wirkte sich weiterhin aus, dass im Kabelkanal entgegen der Vorschrift drei Kabellagen angeordnet waren und außerdem eine Auflage zur feuerhemmenden Imprägnierung der Kabel nicht realisiert worden war.
Am 27. Dezember 1976 brach im Quarto-Bandwalzwerk des VEB Leichtmetallwerkes Nachterstedt ein Brand aus, welcher Sachschaden in Höhe von 1,5 Mio. Mark und beträchtlichen Produktionsausfall bis Februar 1977 zur Folge hatte. Dieser Brand, durch einen Riss des Aluminiumbandes beim Walzen ausgelöst und durch das Versagen der Schaltautomatik begünstigt, hätte nicht derartige Auswirkungen zur Folge gehabt, wäre die Kapazität der automatischen Feuerlöschanlage ausreichend und wären die Brandschutzklappen funktionstüchtig gewesen (Folgen der ungenügenden Wartung und Pflege). Die Besatzung der Anlage befand sich während des Anfahrprozesses nicht vollzählig am Arbeitsplatz und die Leiter und Werktätigen waren nicht durch regelmäßiges Antihavarietraining auf derartige Situationen vorbereitet worden. Erschwerend für die Brandbekämpfung wirkte sich aus, dass die Zufahrtwege und Wasserentnahmestellen nicht freigehalten worden sind. (Gleiche Ursachen und begünstigende Bedingungen führten am 7. Februar 1977 an einem Quarto-Walzgerüst im Leichtmetallwerk des VEB Walzwerkes Hettstedt zu einem Brand, der einen Sachschaden von ca. 100 000 Mark zur Folge hatte.)
Im Blechwalzwerk Olbernhau kam es am 1. Februar 1977, 10. Februar und 25. Februar 1977 zu fast gleichartigen Havarien an der am 31. Januar 1977 neu in Betrieb genommenen vollmechanisierten Walzstraße durch den Bruch von Kopplungsspindeln infolge des Anlaufens von Platinen. Es entstand Sachschaden in Höhe von ca. 50 000 Mark und ein Produktionsausfall von über 300 t Feinblechen. Diese Havarien waren gleichfalls vermeidbar, wäre das Bedienungspersonal vor Inbetriebnahme der Anlage entsprechend mit der Technologie vertraut gemacht worden. Außerdem wäre es bei einer besseren Ersatzteilhaltung möglich gewesen, die Ausfallzeiten zu verringern.
Ein schwerer Unfall ereignete sich am 13. Januar 1977 im Chemiefaserwerk Guben durch das Zerbersten eines Schauglases an einem Autoklaven.1 Dabei erlitten die 21-jährige Anlagenfahrerin tödliche und ein Lehrling lebensgefährliche Verletzungen. Zu dem schweren Unfall wäre es nicht gekommen, wenn das im Rahmen einer Rationalisierungsmaßnahme kurz vorher eingebaute Schauglas den geforderten technischen Parametern entsprochen hätte oder mit einem Schutzdeckel versehen worden wäre.
Diese Entwicklungstendenz setzte sich, wie die Schadensfälle in der Braunkohlenindustrie andeuten, auch im März 1977 fort. Nachdem sich zunächst am 3.3.1977 eine Rutschung im Tagebau Bärwalde des Braunkohlenkombinates »Glückauf« Knappenrode ereignete, wobei das Tagebaugroßgerät im Wert von 2 Mio. Mark zerstört wurde, kam es bereits am 4.3.1977 erneut zu einem schweren Schadensfall im Tagebau Profen des Braunkohlenkombinates »Erich Weinert«. Beim Rücken einer Bandanlage wurde ein 6 kV-Versorgungskabel durch Unachtsamkeit gequetscht, sodass ein Kurzschluss eintrat. Da außerdem der Schutzschalter wegen technischer Mängel in der Gleichstromversorgung versagte, entstand letztlich am Kabel und in der Schaltstation durch das Wirken des Kurzschlussüberstromes ein Schaden von ca. 150 000 Mark.
In Anbetracht der aufgezeigten Entwicklungstendenzen wird vorgeschlagen, nochmals zu prüfen, inwieweit die in jüngster Vergangenheit erlassenen zentralen staatlichen Weisungen – vor allem der Beschluss des Ministerrates vom 16.12.1976 »zur Gewährleistung von Ordnung, Sicherheit und störungsfreiem Betrieb von Anlagen in der Energiewirtschaft und der chemischen Industrie«2 – zur Verbesserung der vorbeugenden Schadensbekämpfung und Durchsetzung von Ordnung, Sicherheit und Disziplin in allen Bereichen und Zweigen der Volkswirtschaft bereits ausgewertet und konkret zweigtypische Anweisungen, insbesondere zur Verbesserung der Führungs- und Leitungstätigkeit auf diesem Gebiet wirksam wurden. Gegebenenfalls sollte in diesem Zusammenhang geprüft werden, kurzfristig zusätzliche Kontrollen durchzuführen und evtl. auch eine Berichterstattung über bisher eingeleitete Maßnahmen und vorliegende Erkenntnisse bei der Umsetzung und Durchsetzung dieser Weisungen durch verantwortliche Leiter ausgewählter Bereiche zu veranlassen.